Uwe Knüpfer
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Tee: Abwarten wird teuer

1/1/1990

 
Steigender Verbrauch treibt die Preise

Aktualisiert 17. August 1984  08:00 Uhr 

Von Uwe Knüpfer

Horst Fischer beugt sich leicht hinunter zu der henkellosen Tasse aus weißem Porzellan, führt sie zügig zum Mund und saugt den Tee mit einem laut schlürfenden Geräusch in sich hinein. Jetzt hebt er den Kopf, den Blick ins Nirwana gerichtet, bewegt den Schluck sichtlich in seinem Mundraum hin und her und gibt dabei dreimal rasch hintereinander ein Geräusch von sich, das sich als eine Mischung aus Grunzen und Glucksen nur unvollkommen beschreiben läßt. Neben ihm steht, auf Rollen, ein hoher Kupfereimer. Hierin landet die verbrauchte Probe – wie ein ausgekauter Priem.

„Ist in Ordnung“, sagt Horst Fischer. Er ist Teataster – „Teeprobierer“ übersetzt er selbst – bei der Tee-Im- und Exportfirma Hälssen und Lyon im Hamburger Freihafen. Fischers Probier-Kontor ist vollgestopft mit Blechdosen und einer bunten Vielfalt von Teetüten und -tütchen aus aller Welt – soweit sie Tee produziert. An der Wand hängt eine Tafel mit den wichtigsten Devisenkursen, stets auf dem aktuellen Stand. Während Horst Fischer schluckt und gluckst und spuckt, entscheidet er für seine Firma über Ausgabe oder Nichtausgabe mitunter sechsstelliger Beträge. „Ich muß heute schmecken, was der Kunde in einem halben Jahr kaufen will“, beschreibt er sein Geschäft.

Anders als ihre Kollegen in der Kaffee-Branche schließen Teehändler nur in Ausnahmefällen feste Lieferverträge mit Tee-Exporteuren oder Plantagen ab. In der Regel führt der Weg des Tees vom Erzeuger zum Verbraucher über Auktionen; in London, vor allem aber in Kalkutta und anderen Metropolen des Fernen Ostens. Diese Börsenplätze haben eine gewaltige Hausse hinter sich. Länger als ein Jahr kletterten die Teepreise am Weltmarkt auf immer neue Rekordmarken; seit Mai etwa halten sie sich auf hohem Niveau.

Die deutschen Teetrinker haben davon aber bislang kaum etwas zu spüren bekommen. Auch nachhaltige Preisbewegungen am Weltmarkt erreichen den Verbraucher hierzulande erst viele Monate später, mit stark abgeschwächter Wirkung. Dennoch: Anfang 1984 erhöhten einige Marken ihre Preise um rund zehn Prozent, und Experten rechnen mit weiteren Anhebungen noch im Laufe dieses Jahres. Langfristig wird Tee teurer, denn weltweit wird Jahr für Jahr mehr davon getrunken. Einer Ausweitung der Produktion guter Tees sind aber ökologische Grenzen gesetzt.

Im Hamburger Hafen, dem bedeutendsten Tee-Umschlagplatz des Kontinents, lagern ständig rund zehntausend Tonnen dieses haltbaren Genußmittels. Damit kämen Deutschlands Teetrinker ein halbes Jahr lang aus. Aber nicht nur die Händler – also Importeure – sondern auch die Packer – also Vermarkter – halten Lager. Markentees sollen nämlich immer gleich schmecken. Der Geschmack der Blätter wechselt aber von Erntewoche zu Erntewoche, von Plantage zu Plantage. Mischungen wie die „ostfriesische“ oder die „englische“ müssen deshalb ständig neu zusammengesetzt, zusammengeschmeckt werden. Das besorgen die Teataster. Teure Tees verschneiden („blenden“) sie mit preiswerteren, neu angelandete mit schon länger gelagerten Vorräten.

Die hohen Zinsen der letzten Jahre haben die Lagerhaltung verteuert. Viele Packer (nicht Händler!) räumten daher ihre Lager. Auch deshalb konnten sie ihre Preise lange halten.

In Deutschland trinken fast nur Kenner Tee. Deshalb kaufen deutsche Händler in Indien und Sri Lanka stets die besten – und damit teuersten – Sorten und Ernten auf. Die meisten Kenner leben in Ostfriesland. Ein Fünftel aller importierten Tees endet in friesischen Aufgüssen. Teebeutel werden dort nur selten verwandt, und auch bundesweit konnten sie ihren Marktanteil von fast fünfzig Prozent in letzter Zeit nicht mehr vergrößern. Auch der Boom der künstlich aromatisierten Kirsch-, Whisky- und-so-weiter-Tees scheint vorüber. In Skandinavien, Italien und Amerika beginnt er erst, zur Freude der deutschen Händler.

Ein halbes Pfund Tee brüht der statistische Durchschnittsdeutsche pro Jahr auf, drei Kilogramm der Ostfriese, noch mehr verbrauchen nur Briten und Iren.

Seit die Opec-Länder zu Geld gekommen sind, steigt der Teeverbrauch auch im Nahen Osten; In Saudi-Arabien etwa verzehnfachte er sich beinahe zwischen 1977 und 1981. Folgenschwerer noch für den Welt-Teemarkt ist das Bevölkerungswachstum im wichtigsten Erzeugerland, in Indien. Die Inder trinken jährlich etwa um so viel mehr Tee, wie die Bundesdeutschen insgesamt verbrauchen. Allerdings nehmen die armen Inder, anders als die reichen Araber, vor allem mit billigeren Sorten vorlieb, sogenannten „bread-and-butter-teas“. Deren Preise sind denn auch an den Auktionsorten am kräftigsten gestiegen, zumal während des indischen Exportverbots für schlichte, Sorten, das im Dezember 1983 verhängt und erst im Mai angesichts außerordentlich reichhaltiger neuer Ernten wieder aufgehoben wurde.

In Sri Lanka, dem zweitwichtigsten Tee-Exportland, ist die Produktion rückläufig. Nach der Verstaatlichung der Teeplantagen kamen oftmals Personen in leitende Funktionen, die die Kunst des Teeanbaus schlechter beherrschen als die des politischen Ränkespiels. Zudem gehen den ceylonesischen Plantagen die Facharbeiter aus. Die geibten Teeverarbeiter und Pflückerinnen gehören nämlich der tamilischen Minderheit an. Ihre Vorfahren wurden von britischen Plantagenbesitzern einst von Indien her nach Ceylon umgesiedelt. Heute bemühen sich die Regierungen beider Länder um eine Rücksiedlung der Tamilen. Die Folge: Auf den Plantagen arbeiten neuerdings Angehörige der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit, und inzwischen erledigen auch Männer hier und dort die traditionelle Frauenarbeit des Pflückens.

Männer und Frauen traten im April auf vielen Plantagen Sri Lankas gemeinsam in den Streik. Sie setzten durch, daß beide Geschlechter jetzt gleich bezahlt werden. Der Tagelohn beträgt seither umgerechnet 2,20 Mark; Kinder bekommen etwas weniger.

Sri Lanka bezieht rund dreißig Prozent seiner gesamten Exporterlöse aus dem Teegeschäft. Der Staat verdient gleich dreifach: Als Plantagenbesitzer und durch das Erheben von Steuern und Zöllen. Es leben außerdem vom Tee: Broker an den Auktionsorten, Exportfirmen und europäische Händler. Dennoch entfallen von einer Mark, die ein deutscher Verbraucher für Tee ausgibt, nur 25 Pfennig auf die Kosten der importierten Ware. Weitere 25 Pfennig gehen für Kosten und Gewinn des Packers drauf 16 Pfennig kassiert der deutsche Fiskus. Und 34 Pfennig schließlich sind für den Händler reserviert, der den abgepackten Tee dem Verbraucher verkauft. Helmut Grösser vom Deutschen Teebüro: „Die große Handelsspanne ist leider nötig, weil Tee keinen Umsatz hat.“

Die deutsche Teekultur im Blick, könnte Grösser auch von einem Teufelskreis sprechen. Geringer Umsatz der Branche bedeutet für sein Teebüro: vergleichsweise wenig Geld für Werbung. Und so wird die Mehrheit der Deutschen wohl nie lernen, Tee richtig zuzubereiten. Tee, so sagen Experten, könne sein göttliches Aroma nur entfalten, wenn das Wasser sauber, die Aufgußmenge reichlich bemessen und von keinem engen Tee-Ei an seiner Geschmacksentfaltung gehindert ist.

Horst Fischer, der Teeprobierer im Hamburger Hafen, kostet im Schnitt zweihundert Sorten Tee täglich. Jede davon, behauptet er, kann er wiedererkennen. Viele Worte verliert er darüber nicht. Seine Antwort auf die Frage: „Wie schmeckt denn nun der Tee, den Sie gerade getestet haben?“ entbehrt des blumigen Vokabulars seiner Kollegen von der Wein-Zunft: „Gut“.

  • Quelle DIE ZEIT, 17.8.1984 Nr. 34

Spielwiese für Bürgermeister

1/1/1990

 
Technologieparks sind zu einem neuen Statussymbol geworden

Aktualisiert  7. September 1984  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Ideen verbreiten sich manchmal wie Gerüchte: in Windeseile. Kaum galt die Erkenntnis ab gesichert, die deutsche Wirtschaft habe auf dem Gebiet der Mikroelektronik den Anschluß verpaßt, schien auch schon ein Instrument gefunden, die Schlappe wettzumachen, den Abstand aufzuholen: Technologieparks kombiniert mit Gründerzentren. Die Idee kam aus Amerika und heißt dort science park. Berühmtheit erlangte vor allem das kalifornische Silicon Valley. Dort hatten in enger Nachbarschaft zur Stanford University schon ab 1948 junge Wissenschaftler Unternehmen gegründet, die ihnen selber Reichtum und der Region Wohlstand brachten.

Am schnellsten waren die Berliner, angeführt von Wirtschaftssenator Elmar Pieroth. Ihr Innovations- und Gründerzentrum (BIG) auf dem alten AEG-Gelände im Wedding, Ende 1983 eröffnet, wurde zum Prototyp des neuen Instruments kommunaler und landespolitischer Wirtschaftsförderung, das sich offenbar nicht beschreiben läßt ohne inflationäre Verwendung der vier Werte Technologie, Innovation, Zukunft und Gründer. Glaubt man Presseberichten und den Absichtserklärungen der Bürgermeister, ist die Bundesrepublik inzwischen auf dem Wege, sich in eine gigantische Silicon-Tiefebene zu verwandeln.

Die Heftigkeit des Gründerbooms überraschte selbst seine Initiatoren. Seit dem Frühjahr – außer BIG war noch kein Zentrum wirklich in Betrieb – mehrten sich deshalb die kritischen Stimmen. Von einer „Modewelle“ war plötzlich die Rede, von unsinnigen kommunalen Konkurrenzkämpfen um neue Prestigeobjekte in der Nachfolge von Rathäusern und Badeanstalten. Der Gründerwelle werde zügig eine Pleitewelle folgen, ließen prophetisch begabte Experten sich zitieren. Was erst als Vorbild galt – BIG in Berlin – wurde nun als einzigartig, unkopierbar hingestellt.

Die Planer all der neuen Parks, Zentren und Fabriken wollen vor allem dreierlei:

  • einen engeren Zusammenhang herstellen zwischen Forschungsinstituten und Unternehmen; durch räumliche Nähe zueinander und personelle Bindungen untereinander.
  • Firmengründungen junger Wissenschaftler und anderer Pioniere mit unternehmerischer Neigung erleichtern, die zwar zündende Ideen, aber wenig Kapital und ökonomische Erfahrung besitzen. Preiswerte Räume, technische Dienste, Beratung und Finanzierungshilfen sollen ihnen aus den Startlöchern helfen.
  • Arbeitsplätze schaffen.
Im BIG residieren gegenwärtig achtzehn junge Unternehmen. Fünfzehn ernsthafte Interessenten warten darauf, daß weitere Räume fertig werden. Die jetzigen Mieter bauen Roboter, hydraulische Steuerungssysteme, entwickeln neue Dämmstoffe oder medizinische Geräte, mit denen sich der Säuregehalt des Magensaftes messen läßt. BIG arbeitet eng mit der Technischen Universität (TU) zusammen. Nebenan sollen sich ab 1985 schon etablierte Unternehmen niederlassen – Elektronikfirmen, Computerspezialisten, Apparatebauer – und das verwaiste AEG-Gelände so in den erhofften Technologiepark verwandeln.

Programmatisch verweisen die Berliner auf die „anderen“ Gründerjahre, die nach 1871. Schon sprechen sie von der „Technologiestadt Berlin“. Alle sechs Wochen treffen sich Jungunternehmer, Finanzbeamte, Mitarbeiter der Industrie- und Handelskammer und Steuerberater am „Gründerstammtisch“. Sie alle eint eine Aufbruchstimmung, ohne die „nichts laufen würde“ (BIG-Koordinator Heinz Fiedler).

Beflügelnd wirken mag dabei der rege Besucherverkehr im BIG. In den ersten sechs Monaten seines Bestehens haben sich schon rund 2200 Menschen durch das Zentrum führen lassen, Beobachter multinationaler Konzerne ebenso wie nachahmungswillige Kommunalpolitiker.

Herbert Krist vom Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) der Fraunhofer-Gesellschaft in Karlsruhe schätzt, daß es derzeit bundesweit rund fünfzig ernsthaft betriebene BIG-Nachahmungsprojekte gibt – „mit sehr unterschiedlichen Qualitäten“. Mindestens hundert weitere Bürgermeister hätten die vage Absicht bekundet, ihre Gemeinden auf diesem Weg in die technologische Neuzeit zu führen. Das ISI veranstaltet Seminare, in denen es Kommunalpolitiker über „ausländische Erfahrungen bei der Gründung, Finanzierung und beim Management von Zentren für junge Unternehmer“ aufklären will.

Zumindest teilweise schon mit Leben erfüllte Gründerzentren gibt es, außer in Berlin, momentan nur in Karlsruhe und Aachen mit jeweils sieben Mietern, in Kassel (23 Mieter) und in Schwerte (drei Mieter). In Vorbereitung befinden sich beispielsweise Zentren in Hamburg, Syke, Buxtehude, Hildesheim, Hannover, Dortmund und Duisburg, Saarbrücken, Stuttgart, Ulm und Heidelberg.

Vor allem im Norden und Westen der Republik wird rege geplant. Kein Wunder, denn die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben Förderprogramme aufgelegt. Sie locken technologiefreudige Kommunen und Jungunternehmer mit Millionenbeträgen. Allein der Düsseldorfer Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen hatte in diesem Jahr und zu diesem Zweck 45 Millionen Mark zu vergeben.

Wer solche Hilfen richtig zu nutzen weiß, braucht nicht viel eigenes Geld zu riskieren. Die Stadt Buxtehude, in Niedersachsen nahe bei Hamburg gelegen, hat ihr „Technologiezentrum“ so konzipiert, daß sie selbst nur ein Fünftel der Kosten tragen muß. Die Saarbrücker rechnen mit EG-Zuschüssen aus dem Programm zur Rekultivierung von Industriestandorten. Die Landesregierung von Baden-Württemberg arbeitet noch an einem Konzept für „Technologiefabriken“. Schon in wenigen Monaten soll aber auch im Südwesten den Gemeinden das neue Instrument kommunaler Wirtschaftsförderung mit mehr als nur mit guten Worten schmackhaft gemacht werden.

Die Jungunternehmer selbst erhalten Geld vom Bundesminister für Forschung und Technologie – sofern sie sich mit Mikroelektronik befassen. Das Modewort Technologie benutzen viele Wirtschaftsförderer ohnehin bedeutungsgleich mit Mikroelektronik.

In funktionierenden Gründerzentren im Ausland aber arbeiten nicht nur Elektroniker, sondern oft auch klassische Handwerksbetriebe. Erfahrungen in den USA und den Niederlanden lehren: Technologieparks und Gründerzentren sollte man auseinanderhalten. Das erste taugt für wenige, das zweite aber möglicherweise für sehr viele deutsche Städte.

In den Niederlanden etwa wird die Zahl solcher Einrichtungen – bereits bezogen oder im Bau befindlich – auf rund 140 geschätzt. Nur fünf oder sechs davon sind reine Technologiezentren, in die nur einziehen darf, wer auf dem Gebiet der Mikroelektronik tätig ist. Die meisten dieser Zentren gleichen eher Gewerbehöfen. Sie sorgen dafür, daß in stillgelegte Fabrikanlagen wieder Leben einzieht: Wo sich ein Großunternehmen, aus welchen Gründen immer, nicht mehr halten konnte, gedeihen einige Dutzend kapitalschwacher Kleinbetriebe. Sie teilen sich nicht nur Gebäude- und Energiekosten. Gemeinsam finanzieren sie – über eine Trägergesellschaft –, was sich jeder von ihnen allein nicht leisten könnte: digitalisierte Telephonanlagen, Kopiergeräte, Telex und Fernkopierer, Konferenzräume, einen zentralen Schreibdienst.

Gründerzentren dieser Art, glaubt Herbert Krist vom ISI, könnten auch in Deutschland vielerorts erfolgreich sein. Sie dürften sich dann freilich nicht als rein „technologieorientierte Durchlauferhitzer“ verstehen, sie dürften nicht, wie viele Kommunen das planen, ihre Mieter nach drei, vier oder fünf Jahren wieder an die Luft setzen. Kurz: Sie dürfen sich weder am kalifornischen noch am Berliner Vorbild messen.

Ideenbrutstätten solchen Kalibers können bestenfalls dort entstehen, wo leistungsfähige Forschungseinrichtungen schon angesiedelt, Spitzenunternehmen der Elektronikbranche schon beheimatet sind. Krist räumt unter diesem Aspekt vor allem Karlsruhe und München Chancen ein. Enorme Forschungskapazitäten hat auch das Ruhrgebiet zu bieten. Die Industrie- und Handelskammern dort halten neuerdings engen Kontakt zu einigen Universitätsfakultäten. Vom Kommunalverband Ruhrgebiet besonnen moderiert, scheint ihnen der Durchbruch durch die Abwehrfront der Kohle- und Stahlproduzenten inzwischen gelungen zu sein, die jahrelang jeden Umstrukturierungsversuch in der Region zu blockieren wußten. Auch Aachen, mit seiner renommierten Technischen Hochschule und der Kernforschungsanlage Jülich nahebei, träumt vielleicht nicht nur von einer siliconträchtigen Zukunft.

Technologieparks hier und da, Gründerzentren aber allerorten, das könnte, zeigt der Blick nach Holland, eine Perspektive sein. Das könnte auch eine Methode sein, sichere Arbeitsplätze zu schaffen. Zunächst sollten die Erwartungen allerdings nicht zu hoch geschraubt werden: Im BIG finden gegenwärtig, neben den Gründern, 56 Menschen Arbeit; auf 80 soll ihre Zahl bis zum November steigen. Die Karlsruher Technologiefabrik soll einmal 150 bis 200 Mitarbeiter beschäftigen. Die aktuelle Zahl der Beschäftigten in Aachen: drei.

Die Betreiber der Zentren hoffen aber auf Multiplikatoreffekte. Einzelne Neugründungen werden wachsen und ausziehen. Eine Garantie, daß die Unternehmen dann in der Nähe ihrer Brutstätte bleiben und nicht etwa von Buxtehude nach Berlin oder von Berlin nach München umziehen, gibt es natürlich nicht. Die sichersten Arbeitsplätze sind die bei den Trägern der Zentren selbst; im Schreibdienst, in der Pförtnerloge, in der Verwaltung.

Und die solidesten Firmengründungen sind die, deren Unternehmenszweck im Zentrum selbst begründet liegt. Unter den Jungunternehmern, die bereits ihre Absicht bekundet haben sollen, in das geplante Technologiezentrum Buxtehude einzuziehen, befinden sich vier, die davon leben wollen, ihren späteren Kollegen Dienstleistungen anzutragen: Spezialisten für Marketing, industrielles Design, für „strategische Unternehmensplanung“.

Ein Unternehmen hat sich dieser Aufgabe bereits in großem Stil angenommen und ist dabei erfolgreicher als die meisten Politiker: In Großbritannien, wo die Stahlkrise früher begonnen hatte ab hierzulande, gründeten Manager der British Steel Corporation 1980 ein Unternehmen mit dem vielversprechenden Namen Job Creation Ltd. Zuerst auf der britischen Insel, dann in den Niederlanden, in Spanien, Belgien, Irland, den USA und jetzt auch in der Bundesrepublik, nämlich in Kassel, verwandelte Job Creation alte Industrieanlagen in Gewerbehöfe.

In Kassel nahm, sich das Unternehmen der verlassenen Enka-Werke an. Bis jetzt hat es dort 23 Kleinunternehmen ansiedeln können, darunter zwölf neugegründete. Neben Labors und High-Tech-Werkstätten ist hier Platz für alternative Bäckereien und auch für Unternehmer, die schlicht und einfach Lagerhallen suchen. Einen ausrangierten Eisenbahnwaggon baut sich eine Arbeitslose zur Cafeteria um.

„Um die siebzig“ Personen haben auf dem Enka-Gelände inzwischen wieder Arbeit gefunden, sagt der Projektleiter, Keith Freestone. Fünf- bis achthundert sollen es in drei Jahren sein. In England will Job Creation auf diese Art mittlerweile 18 000 Erwerbslose von der Straße geholt haben. Das Unternehmen kassiert Erfolgsprämien für jeden Arbeitsplatz, der nicht nach zwei Jahren wieder verschwunden ist. Freestone: „Wir arbeiten mit Gewinn.“

  • Quelle DIE ZEIT, 7.9.1984 Nr. 37

Nahverkehr: Tickets für die City

1/1/1990

 
Wer in einer fremden Stadt statt Taxi lieber Bus oder Straßenbahn fährt, tut sich oft schwer, den richtigen Tarif zu finden.

Die Bus- und Bahnbenutzung in der Fremde erleichtern soll das Städte-Ticket des Verbandes öffentlicher Nahverkehrsbetriebe (VöV). Wer sich dies etwa in Hamburg für 9,50 Mark kauft und nach München fliegt oder fährt, darf in beiden Städten 24 Stunden lang eine (von Ort zu Ort unterschiedliche) Anzahl von Bussen und Bahnen benutzen. In Berlin sogar Schiffe.

1983 verursachte die Werbung für das Städte-Ticket mehr Kosten, als der Verkauf den Betrieben einbrachte. Deshalb wird es dieses Ticket ab 1986 nicht mehr geben.

Oft empfiehlt sich eher der Kauf einer Tageskarte. Deren Geltungsbereich ist von Region zu Region verschieden; manche Verkehrs verbunde bieten gleich mehrere Alternativen an (für sechs bis zwölf Mark).

Eine einfache Fahrkarte, die in der Regel innerhalb eines räumlich begrenzten Gebietes gültig ist, kostet derzeit zwischen 1,60 Mark in Hamburg und 2,20 in München.

In München, Köln und bald auch dem Ruhrgebiet steht noch der Kurzstreckentarif zur Wahl. Für rund 1,50 Mark darf man damit vier bis fünf Haltestellen weit fahren.

Normale Tickets berechtigen zu beliebig häufigem Umsteigen. Rück- und Rundfahrten sind allerdings nicht erlaubt, außer (noch) im Ruhrgebiet.

Kinder bis zum Alter von vier Jahren fahren überall umsonst. In Stuttgart, Berlin und Köln liegt die Altersgrenze sogar bei sechs Jahren.

Der Kauf von Mehrfahrtenkarten verbilligt jede Fahrt im Schnitt um 20 Prozent. Die Hamburger und die Frankfurter Verkehrsbetriebe bieten solche Karten allerdings nicht an. Wo es sie gibt, ist übrigens daran zu denken, daß die Tickets beim Betreten von Bus oder Bahn oder auf dem Bahnsteig noch eigenhändig entwertet werden müssen. Nur mit Stempelaufdruck sind sie gültig. Wer’s vergißt, gilt als Schwarzfahrer und muß, falls er erwischt wird, 40 Mark bezahlen.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 5.10.1984 Nr. 41

Wenn die Türken gehen

1/1/1990

 
Eine forcierte Heimkehr macht nicht nur Arbeitsplätze frei, sondern schafft auch neue Probleme

Aktualisiert 19. Oktober 1984  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Türkenheim stirbt. Der Duisburger Ortsteil Alt-Hüttenheim, eine geschlossene Siedlung im Eigentum der Mannesmann AG, besteht aus insgesamt 530 Wohnungen. In nur dreizehn davon leben deutsche Familien. Den Rest bewohnen Türken – bewohnten Türken: Knapp dreihundert Wohnungen sind seit dem Sommer unbewohnt. Ihre Fenster sind verrammelt mit hölzernen Läden, die großen Innenhöfe meist menschenleer. Auf den Straßen parken nur wenige Autos. Es ist still. Vereinzelt laufen spielende Kinder ins Bild, buntgekleidet, und wirken, als seien sie auf Expedition in eine Geisterstadt.

Viertausend Türken haben Duisburg verlassen, sind in ihre alte Heimat zurückgekehrt: meist ehemalige Mannesmänner mit ihren Familien. Siedlung und Fabrik trennt nichts als eine breite Autopiste. Natürlich heißt sie Mannesmannstraße.

Das Management von Mannesmann hat die anfängliche Türken-raus-Politik der christlich-liberalen Bundesregierung mit innerbetrieblichen Mitteln unterstützt. So konnten sich Mannesmann-Türken, die in die Heimat zurück wollten, nicht nur ihre gesetzlichen Rentenansprüche kapitalisieren lassen, sondern zusätzlich auch ihre Betriebsrente. Weil Geld allein nicht willig macht, lud das Unternehmen seine ausländischen Mitarbeiter außerdem zu Deutschkursen und machte ihnen klar: Wer nicht besteht, der fliegt – ohne kapitalisierte Rente.

Wenn die ungeliebten Fremden nur endlich dahin gehen, wo sie herkamen, so hoffen noch immer viele Politiker und Bürger an Kabinetts- und Stammtischen, wird es den Deutschen gleich viel besser gehen. Vor allem verschwindet endlich die leidige Arbeitslosigkeit – in Richtung Anatolien, wo sie ohnehin seit langem zu Hause ist. Endlich dürfen dann Deutsche wieder Straßen fegen, sich in Bergwerksstollen krümmen und am Hochofen schwitzen.

Doch solche Rechnungen werden ohne die Türken gemacht. Denn die Ausländer arbeiten und verdienen nicht nur hier. Sie sind zugleich auch Steuer- und Beitragszahler; sie sind Konsumenten, haben große Familien zu kleiden und zu ernähren; sie hinterlegen ihr Erspartes zumeist bei deutschen Banken; sie zahlen Mieten für Wohnungen, die deutsche Behörden ansonsten für unvermietbar halten. Als soziales „Problem“ betrachtet, sichern sie die Arbeitsplätze von Lehrern, Sozialarbeitern und Wissenschaftlern.

Alt-Hüttenheim war noch vor einem Jahr voller Leben. Deutsche und Türken feierten gemeinsam den 70. Geburtstag ihres Ortsteils. Jetzt will Mannesmann in seiner Siedlung vier von sieben Wohnblocks abreißen. Jahrzehntelang wurde hier nicht renoviert, jetzt schätzt der Eigentümer die Modernisierungskosten auf achtzigtausend Mark pro Wohnung. Die dann erforderlichen Mieten würde niemand zahlen wollen – nicht in dieser Wohnlage.

Georg Behrend, beredter Sprecher der Bürgerinitiative „Rettet Hüttenheim – er war selbst 34 Jahre lang Betriebselektriker im Werk jenseits der breiten Straße –, hält dieses Argument seines früheren Arbeitgebers allerdings für „reine Demagogie“: „Wir gucken seit siebzig Jahren auf den Hochofen. Wenn die Wohnungen hier nicht vermietbar sind, müßte man das ganze Ruhrgebiet abreißen.“ Charlie, wie ihn hier alle nennen, verweist in bestem Soziologendeutsch auf die „herrlichen Kommunikationsmöglichkeiten in den Innenhöfen“, auf das reiche Grün in den Straßen, auf das menschliche Maß der Bauten. Charlie ist offenbar alles andere als froh darüber, daß die Türken weg sind. Deren Vertreibung, so scheint ihm zu schwanen, könnte auch ihn seiner Heimat berauben.

Ihr Exodus hat jedenfalls schon manchen anderen um bisher sicher geglaubte Einkünfte beraubt. Ihre Lebensmittel-Großeinkäufe tätigten die Türken bei Aldi in Huckingen. Der verschwiegene Handelsriese gibt Umsatzzahlen nicht preis. Auch die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels hat noch nie ermittelt, was und wieviel die Gastarbeiter-Familien kaufen. Sicher glaubt man dort nur zu wissen, daß sie „gerade im Schlußverkauf eine große Rolle“ spielen.

Für Ismet Tepe dagegen ist die Sache klar. Er besitzt einen Lebensmittelladen in Alt-Hüttenheim – noch. Um sechzig Prozent, so schätzt er, sei sein Umsatz seit dem Sommer gesunken. Auch Hakki Bankaoglu gleich nebenan, der Videos verleiht und Getränke sowie Süßes verkauft, klagt über schlechte Geschäfte. Dem deutschen Bäcker um die Ecke geht es nicht anders, und mittelbar spüren die Umsatzeinbußen der türkischen Kleinhändler auch die deutschen Großhändler.

Der Leiter der Sparkassen-Zweigstelle Hüttenheim weist zwar Gerüchte energisch zurück, seine Filiale solle geschlossen werden. Doch daß der Weggang der Türken auf Spar- und Darlehenskonten durchaus deutliche Spuren hinterlassen hat, räumt er ein. 360 von insgesamt zweitausend Sparkonten, die in seiner Filiale geführt wurden, sind aufgelöst worden. Rund zwei Millionen Mark an Einlagen gingen verloren, knapp zehn Prozent der Gesamteinlage. In etwa gleicher Höhe zahlten die türkischen Ex-Kunden Darlehen vorzeitig zurück. Filialleiter Althans: „Nicht ein einziger Fall mußte der Rechtsabteilung übergeben werden. Das war schon sehr positiv, wie die Leute ihre Sachen erledigt haben.“

Die Universität Duisburg befragte türkische Arbeitnehmer danach, wie groß ihre „Rückkehrneigung“ sei. Nebenbei kam heraus, daß die Befragten nur ein Fünftel ihrer Einkommen in die Heimat überweisen. Der große Rest fließt wieder zurück in die deutsche Volkswirtschaft.

Auch die Schulträger lernen in Duisburg gegenwärtig ein „Ausländerproblem“ ganz neuer Art kennen und fürchten. 1672 türkische Schüler mußten sich im Sommer, manchmal Hals über Kopf, von ihrem Klassenverband trennen. Die beiden Hauptschulen in der Umgebung Alt-Hüttenheims bekamen zum neuen Schuljahr nur jeweils eine fünfte Klasse voll. Insgesamt meldeten sich hier weniger als fünfzig Schüler. Da die nachrückenden deutschen Schüler-Jahrgänge wegen des „Pillenknicks“ ohnehin schwach sind, gerät manche Schule in arge Existenznot, wenn jetzt auch noch die Ausländerkinder wegbleiben. Die Stadt Duisburg denke einstweilen nicht daran, eine Schule zu schließen, beteuert der zuständige Schulrat. Doch seien „für die Zukunft organisatorische Maßnahmen nicht auszuschließen“. Vorerst mußten zwanzig Lehrer versetzt werden, und die Klassen wurden kleiner.

Viele Pädagogen haben sich in den letzten Jahren mit großem Engagement weitergebildet, um den besonderen Schwierigkeiten ihrer türkischen Schüler gerecht zu werden. Viele Universitäten bieten inzwischen spezielle Ausbildungsgänge an. Nicht auszudenken, wie das Heer der arbeitslosen Akademiker weiter wachsen würde, wenn wirklich alle Türken gingen.

Von der Essener Ruhrkohle sind schon zu viele Türken weggegangen. Zeitlich parallel zur Geltungsdauer der Bonner Rückkehrhilfen spendierte das Unternehmen jedem ausländischen Mitarbeiter 2,5 Monatsgehälter plus Weihnachtsgeld, wenn er sich entschloß, vorzeitig auszuscheiden. Im Durchschnitt waren das zehntausend Mark. Das verlockte mehr Türken als geplant. Eigentlich hatten in diesem Jahr dreitausend „in die Anpassung gehen“ sollen. Jetzt werden es voraussichtlich doppelt so viele sein. Die meisten der Ausscheidenden sind erfahrene Bergleute und nicht ohne weiteres zu ersetzen. In einzelnen Abbaustreben kann der Betrieb nicht länger aufrechterhalten werden. An eine Erneuerung des spendablen Angebots, das bis zum 30. Juni befristet war, denkt bei der Ruhrkohle deshalb heute niemand mehr.

Ähnlich die Bundesregierung. Zwar gibt sie ihre Rückkehrhilfe-Aktion offiziell als „vollen Erfolg“ aus. Dennoch heißt es in Norbert Blüms Arbeitsministerium, an eine zweite Auflage werde nicht gedacht. Nicht zuletzt deshalb, weil die freundlichen Hilfeangebote oft als „Abschiebeprämien“ mißverstanden worden seien.

Die Türken haben die deutschen Politiker schon richtig verstanden. In Frankfurt erscheinen vier türkische Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 200 000 Exemplaren. Fast achtzig Prozent der von den Duisburger Wissenschaftlern befragten Türken gaben an, regelmäßig WDR 4 zu hören: Sendungen. in ihrer Muttersprache. Ausländerfeindliche Äußerungen aus Bonn machen in Kreuzberg und Hüttenheim blitzschnell die Runde.

Der Sozialwissenschaftler Faruk Sen ist sich nach vielen Gesprächen mit Landsleuten in Duisburg sicher: „Die meisten von denen, die zur Rückkehr entschlossen sind, hat nicht das Geld dazu bewogen. Der stärkste Beweggrund ist, daß sie sich von ihrer deutschen Umgebung abgelehnt fühlen.“

Obwohl der psychologische Feldzug der Bundesregierung also gelungen scheint: Der Exodus von „Türkenheim“ ist in dieser räumlich konzentrierten Form ein Einzelfall und wird es vorerst bleiben. An anderen Orten ist mit einer so massierten Rückkehr nicht zu rechnen. Denn der verbalen Peitsche ebenso zum Trotz wie dem finanziellen Zuckerbrot deuten alle vorliegenden Umfragen darauf hin, daß die Mehrheit der Türken bleiben will. Wer weiß: Vielleicht wird ihnen eines Tages nicht nur Charlie dafür dankbar sein.

Aber das Beispiel Alt-Hüttenheim macht deutlich, daß eine massive Rückkehr von Gastarbeitern nicht nur Probleme löst, sondern neue schafft.

  • Quelle DIE ZEIT, 19.10.1984 Nr. 43

Bahn: Silberlinge für Pendler

1/1/1990

 
Mit neuer Optik und besserem Komfort will die Deutsche Bundesbahn das Image ihrer Nahverkehrszüge aufpolieren. Zwischen Köln und Gummersbach pendelt – als Versuch – seit Anfang September der „Aggertaler“.

Nach den euphorischen Ankündigungen der Bundesbahn-Pressestelle hätte eigentlich ein Raunen durch die wartende Menge gehen müssen, als die erste „City-Bahn“ in den Hauptbahnhof von Köln einfuhr. Niemand raunte. Ja, nicht einmal der Informations-Schaffner wußte, wann die City-Bahn und wann der normale Zug die Strecke befährt. Wirklich unübersehbar wird die Neuerung erst, wenn man den Zug bestiegen hat. Manch ein Fahrgast soll schnurstracks wieder kehrtgemacht haben, Richtung Schaffner, mit der Frage, wo denn die zweite Klasse sei.

Das „neue Kapitel im Schienenverkehr“ ähnelt im Innern den Intercity-Großraumwaggons. Die Sitze sind stoffbezogen, die klassischen Gepäcknetze über den Köpfen verschwunden, der Boden ist gummi-genoppt wie in den Wartehallen von Flughäfen. Polster und Wandflächen changieren zwischen dottergelb und orangerot.

Leider legt sich das Intercity-Feeling, sobald der Zug anfährt, spätestens aber, wenn er wieder hält. Die City-Bahn schaukelt, ruckt und rüttelt (natürlich) wie jeder andere Nahverkehrszug auch.

Gerade Berufspendler will die Bundesbahn von der Straße locken. Hat der „Aggertaler“ Erfolg, sollen künftig überall dort in der Umgebung von Ballungszentren, wo keine S- oder U-Bahn mehr hinkommt, City-Bahnen verkehren, im festen Zeittakt. Ganz kleine Bahnhöfe werden nicht mehr angefahren, der Zug gewinnt dadurch an Tempo: Die Bahn fordert auf zum „Park and Ride“.

Der größte Clou der City-Bahn findet sich am Ende des Waggons. Zwei Getränkeautomaten stehen dort, offerieren „Cold drinks“, Kaffee, Espresso und Kakao. Einheitspreis: 1,50 Mark. Auch Bier ist im Angebot.

Niemand braucht hier mit der Papptasse in der Hand durch die Gänge zu seinem Platz zu wanken. Mit hohen Tischen und Lehnen an den Wänden gleicht die Automatenecke einer Mischung aus Stehkneipe und Kaffee-Shop.

Ein Gepäckabteil gibt es nicht mehr in der City-Bahn. An seine Stelle ist ein Mehrzweckraum getreten, freundlich gestylt wie die anderen Zugteile auch. Fahrräder passen hier rein und Kinderwagen. Ob die City-Bahn Zukunft hat, schreibt die DB, „liegt zu großen Teilen an der Resonanz im Bergischen Land“. Wer regelmäßig mit dem „Aggertaler“ fährt, hat große Chancen, von Mitarbeitern eines Marktforschungsinstituts befragt zu werden. Bisher habe fast jeder bereitwillig Auskunft gegeben, sagt eine Interviewerin. Die Stimmung schwanke zwischen spontaner Zustimmung und Angst Angesichts des Fragebogens überkomme viele Fahrgäste nämlich die pure Sorge, auch „ihre“ Strecke könnte eines Tages stillgelegt werden.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 16.11.1984 Nr. 47

Von Reiz der armen Rhön

1/1/1990

 
Wo alle Straßen enden – das Mittelgebirge an der Grenze von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 22. Februar 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Er ist barfuß in seinen Pantinen, der alte Mann, der da, mitten im tiefen Winter, seelenruhig am Leubach steht und mit uns plaudert; ohne Hast und ohne Socken. Der Bach fließt durch das Rhön-Städtchen Fladungen und trieb einst elf Mühlen an. Heute sind es immerhin noch zwei. Einen Bäcker gibt es nicht: Die Einwohner backen ihr Brot noch selbst.

In dem Bach, so berichtet der alte Mann, war auch schon mal Gift, das kam von „drüben“ und kostete gut 4000 Rhön-Forellen im Staubecken oberhalb von Fladungen vor der Zeit das Leben. „Von drüben“, das heißt natürlich: aus der DDR. Kurz hinter dem Ort hören alle Straßen auf, Wanderwege verlaufen sich im Wald, eine Schneise und ein Zaun markieren das Ende der westlichen Welt.

Wir sind in der Mitte Deutschlands, in der Bayerischen Rhön und fast in Thüringen, in einem Mittelgebirge, das für den Wintersport wie geschaffen scheint. Jedenfalls suggeriert dies jener höhnisch gemeinte Uralt-Sprucn, der der Rhön bescheinigt, hier gebe es neun Monate Winter und drei Monate Schnee. Kalt ist es in der Tat. Und Schnee findet sich auch: auf der Wasserkuppe, dem mit 950 Metern höchsten Gipfel (aber der liegt schon in Hessen), ebenso wie auf dem Kreuz- und dem Arnsberg, dem doppelten Mekka der Alpin-Skiläufer im bayerischen Teil des Gebirges.

Eigentlich ist es ja der fränkische Teil. Doch scheinen die Franken hier mit ihrer politischethnischen Zuordnung durchaus einverstanden. Die Touristik-Manager der Region versuchen gar aus dem „bayerisch“ Kapital zu schlagen. Mit der Rhön beginne „Deutschlands schönstes Urlaubsland“, werben sie.

Vorsichtshalber fahren wir nicht an einem Wochenende zum Kreuzberg, sondern an einem Donnerstag. Es schneit, und kurz hinter Bischofsheim geht es ohne Schneeketten nicht mehr weiter. In fast 900 Metern Höhe, auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz, erwarten uns klirrender Frost und eine unüberblickbare Menge Gleichgesinnter. Es herrscht Hochbetrieb. Die Sicht ist schlecht, die Schlange am Lift lang. Alles Muskelfleisch fühlt sich an wie zu Eis erstarrt, schon bevor uns einer der fünf Ankerlifte in die Höhe zieht, einer – mit Muße – Dreiminutenfahrt entgegen.

Dichtes Gedränge auch am anderen touristischen Wallfahrtsort hier auf dem „heiligen Berg der Franken“: in der Klosterschänke. Familien mit frierend-unzufriedenen Kindern warten ungeduldig, daß andere Familien, kurz zuvor noch in ähnlich peinlicher Lage, endlich ihren Tisch freimachen.

Das Herzstück dieses eigenartigen Gebirges, ist – Wasserkuppe hin, Kreuzberg her – zweifellos der langgezogene Gebirgsstock, der sich bei Bischofsheim beginnend bis in die DDR hinein nach Norden erstreckt: die Lange oder auch die Hohe Rhön genannt. Obenauf, immer höher als 800 Meter über dem Meeresspiegel, dehnen sich weite, moorreiche Hochflächen, nur leicht gewellt und spärlich bewaldet. Sporadisch öffnen sich weite Ausblicke über breite Täler auf andere sanftgebuckelte Höhen und wieder andere, die schemenhaft dahinter liegen.

Rauh sei dieses Land, wußten frierende Durchreisende seit alters her zu berichten. Dazu ist es karg und steinig. Die Bauern, die hier lebten, waren immer arm. Das wissend, wirkt der seltsame Liebreiz der Landschaftsformen geradezu deplaziert. Gelassen schlängeln sich unregulierte Bäche und Flüßchen durch Täler, in denen es Sägewerke gibt, beinahe mehr als Kirchen, aber keine Industrie. Je ärmer das Dorf, desto weniger Fachwerkfassaden wurden. in den Wirtschaftswunderjahren unter bonbonfarbenem Rauhputz versteckt. Aus der Not heraus haben sich die Städtchen ihr mittelalterliches Ortsbild bewahrt. Das beginnt sich nun als Segen zu erweisen.

Doch zurück zur Landschaft. Von Liebreiz war die Rede, Schroffes ist ihr fremd. Und so entbehrt sie auch Steil- und Buckelpisten. Menschenarm, naturbelassen, wie die Rhön daliegt, niederschlagsreich und kalt, ist sie im Winter so recht ein Ziel für Menschen, die anderes wollen als bibbernd Schlange zu stehen und um andere Skiläufer wie um Slalomstangen herum ins nahe Tal zu wedeln. 20 Langlauf-Loipen mit einer Gesamtlänge von rund 160 Kilometern werden regelmäßig gespurt.

Tage später, an einem der Parkplätze entlang der „Hochrhönstraße“, der fränkischen „Route des Crêtes“, steigen wir in die Rundloipe „Moorschlinge“ ein. Weit voraus lösen sich die Umrisse eines Schnelleren hinter einem Schleier aus Schnee allmählich auf. Nur ein paar vom Frost in bizarre Kristallskelette verwandelte Sträucher und Bäume geben dem Auge Halt. Die Illusion sibirischer Weite und Einsamkeit ist perfekt. Zu hören ist nichts als ein leises Pfeifen. Es ist der Wind. Er jagt über das Hochplateau, läßt dort unsere Spur unter einer Düne von Schnee rasch wieder verschwinden.

Als wir gestartet waren, hatten wir ihn kaum bemerkt: den Kiosk am Parkplatz. Jetzt, nach einer knappen Stunde Rundkurs, riechen wir ihn schon, bevor wir die Rauchschwaden sehen, die von dort den Duft „bester thüringischer Bratwürste“ vom Grill herübertragen. Rund um das Holzhäuschen stehen kleine Gruppen fröhlich schwatzender Menschen, die alle in der vom Handschuh befreiten Faust ein knackiges Brötchen halten. Darin eingeklemmt ist die längliche dunkelbraune Wurst, die, wie der erste Bin beweist, nicht das geringste gemein hat mit ihren industriell gefertigten Namensvettern, die uns in den Imbißbuden der Großstädte so ärgern können. Die gute Stimmung der Mampfenden, das merken wir schnell, hängt freilich auch zusammen mit dem warmen Apfelwein, den es ebenfalls für wenig Geld zu kaufen gibt.

Daß hier thüringische Würstchen feilgeboten werden statt solcher Nürnberger oder Coburger Art, ist keine Reminiszenz an die Bewohner jenseits der übernächsten Berge. Wer in die Rhön fährt, kann seinen Urlaub tatsächlich in Thüringen verbringen, ganz ohne Visum. Die sächsischen Grafen von Henneberg nämlich teilten sich zu Feudalzeiten die Rhön mit den Bischöfen von Würzburg und Fulda. An die Stelle der Grafen trat 1741 das Haus Sachsen-Weimar, weshalb auch der bekannte Herr von Goethe einige Tage in Ostheim weilte: Gleich zweimal, 1780 und 1782, hatte er dort Verwaltungsdinge zu regeln.

Ostheim und einige das Städtchen umgebende Weiler bilden heute eine thüringische Enklave im Bayerischen. Hier werden statt Knödeln Klöße gegessen, dazu trinkt man keine Maß, sondern „Bierchen“. Hier wird auf lutherische Weise Gott gedient, und selbst mancher Zwiebelturm hat noch eine lange, schlanke Spitze obenauf.

Und so klärt sich auch, was dem Nachkriegs-Westdeutschen an den Namen mancher Rhön-Städtchen so geheimnisvoll in die Irre führend dünkt. Ostheim, Nordheim, Sondheim firmieren auf Straßenkarten und Ortsschildern allesamt als „vor der Rhön“ gelegen – wo sie doch, wenn nicht mittendrin, so doch augenfällig dahinter liegen. Im Osten nämlich.

Bei einsetzender Dämmerung folgen wir dem zugeschneiten Weg von der Sennhütte hinab nach Fladungen. Zwei Spurrillen, die ein anderer Langläufer schon vor uns durch den Neuschnee zog, bieten Halt und Orientierung. Wie hineingeworfen in das Tal unter uns liegen Nordheim rechts, Fladungen links, Heufurt dazwischen. Die Sonne inszeniert noch immer ihr dramatisches Wolkentheater, als wir die ersten Häuser erreichen. Ein Landwirt auf seinem Traktor, dem wir begegnen, starrt uns an, als wären wir Yetis.

Daß die Rhön heute mehr ist als ein Geheimtip unter Wanderfreunden meist älteren Semesters, daß auffallend viele junge Familien mit Kindern durch Fladungen, Ost-, Nord- und Bischofsheim streifen, ist zweifellos die Folge einer umstrittenen Hotelansiedlung mitten im Naturschutzgebiet. Das „Rhön-Park-Hotel“, eine 1100-Betten-Burg, würde die östliche Silhouette der Langen Rhön beherrschen, wenn sie sich nicht so schamhaft schieferverkleidet oberhalb des Dorfes Roth im Wald verstecken würde: ein Zugeständnis an die prostestierenden Naturfreunde. Der Bau hat sich gelohnt. Erstens wurde er, Anfang der siebziger Jahre, vom Fiskus wegen seiner Grenznähe und der „Strukturschwäche“ der Region kräftig gefördert. Zweitens erfreut er sich bei Urlaubern ganz offenkundig, großer Beliebtheit. Selbst extreme Freizeit-Aktivisten brauchen das Hotel im Grunde kaum zu verlassen. Schwimmbad, Sauna, Kegelbahn, drei Restaurants, Kindergarten, Tennishalle, Spielautomaten und die langen Korridore des Hause lassen der Langeweile Keine Chance, Wer will, kann – im Bademantel – stundenlang durch die vielen Flure der wie Treppenstufen in den Hang gedrückten Bauteile wandern und zwischendurch immer wieder Aufzug fahren.

Die Geschäftsleute von Ostheim, während der Planungs- und Bauzeit eher skeptisch, würden heute wohl jeden Sonntag eine Bittprozession zu dem Hotel hinauf zelebrieren, sollte jemals der Plan erwachen, es wieder abzureißen. Denn in Ostheim kaufen die Appartement-Bewohner Lebensmittel ein, schaffen sich neue Schuhe an oder Spielzeug für die Kinder. Viele von ihnen wohnen vielleicht auch, wenn sie im nächsten Jahr wiederkommen, in einer kleinen Pension. Ganz folgerichtig sind die ehedem niedrigen Übernachtungs- und Essenspreise in der Bayerischen Rhön kräftig gestiegen in den letzten Jahren.

Ohne das „Rhön-Park-Hotel“ in seiner Nähe könnte es sich auch der junge Stettener Wirt des alten Gasthofs „Zur Linae“ nicht erlauben, jenen bekannten rheinischen Viktualien-Spediteur bei sich halten zu lassen, der seit Jahren, von Paris aus, frische Fische gleichmäßig über die deutsche Edelfreßlandschaft verteilt. Wen große Portionen, Papierservietten und „gutbürgerlicher“ Gasthaus-Service nicht stören, kann in der „Linde“ übrigens preiswert schlemmen: eine Consommée vom Reh vielleicht oder Donauwaller im Wurzelsud, Seezungenfilets in Krebsbuttersauce.

Von ihrer kulinarischen Tradition her freilich zählt die Rhön zu jenen Landstrichen, in denen der Armut ihrer Bewohner wegen gut essen stets gleichbedeutend war mit viel essen. Die Tradition ist lebendig, und wer sich darauf einläßt, tut gut daran, anschließend auf lange Wanderung zu gehen. Ein Marsch durch den Rhöner Winterwald wird gegenwärtig leicht zum Hindernisrennen. Die Waldarbeitertrupps kommen mit der Arbeit kaum nach, so viele stramme Bäume, mitten im Forst, liegen quer. Sie sind, samt Wurzeln, im Herbststurm einfach umgefallen. Der sterbende deutsche Wald eröffnet dem Wanderer ganz neue Perspektiven: Er kann die Bäume, die der Schnee bedeckt, als wär’s ein Leichentuch, jetzt auch von unten betrachten.

*

Auskünfte: Fremdenverkehrsverband Rhön, Postfach 6 69, 6400 Fulda, Tel. (06 61) 60 06-3 05 und Fremdenverkehrsverband Franken, Gebiet Rhön, Landratsamt, 8740 Bad Neustadt, Tel. (0 97 71) 9 43 10.

  • Quelle DIE ZEIT, 22.2.1985 Nr. 09

Uni Witten-Herdecke: Ohne die Scheuklappen der Zunft

1/1/1990

 
Wie an der Privatuniversität Herdecke Wirtschaftswissenschaften studiert werden von Uwe Knüpfer

Aktualisiert  1. März 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Von diesen Studenten hat keiner länger als eine Woche nach einem Zimmer oder einer Wohnung suchen müssen. Nachdem im Lokalteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gemeldet worden war, die ersten Studenten der Wirtschaftswissenschaften an der privaten Universität Witten/Herdecke seien eingetroffen, öffneten sich für die jungen Leute viele Türen wie von selbst.

Nun sitzen die 22 Wirtschaftskadetten im zweiten Stock eines ehemaligen Schulgebäudes und sprechen über das „Denken des Denkens“ und was Borgward damit zu tun hat. Aus München ist ein Philosophie-Dozent angereist, Eberhard Simons heißt er, und philosophengemäß fallen ihm seine rotblonden Haare wuselig in die Stirn. Man duzt sich. Simons zitiert Aristoteles.

Ganz in dessen Sinn will er, sagt er, seinen Zuhörern das „vorstellende Denken austreiben“, sie davor bewahren, sich die üblichen Scheuklappen ihrer Zunft aufzusetzen. Dabei kommt ihm die Erinnerung an den unternehmerischen Exitus von Borgward gerade gelegen. Als die Bilanzrelation des traditionsreichen Fahrzeugherstellers eines Tages dem Lehrbuchideal nicht mehr entsprach, bekamen es die Banken mit der Angst zu tun. Die Firma mußte Konkurs anmelden. So weit, so ganz normal. Doch dann erwies sich die Konkursmasse als ergiebig genug, die Forderungen aller Gläubiger zu hundert Prozent zu befriedigen. Ein an sich gesundes, nur kurzfristig nicht liquides Unternehmen wurde aus dem Markt gedrängt, und zwar nur deshalb, so meint der Philosoph, weil die Verantwortlichen in den Banken nicht fähig waren, über den Schatten ihrer eigenen Denkkategorien zu springen.

Wenn die 22 Wittener Privatstudenten dereinst selbst Wirtschaftskapitäne sein werden, soll ihnen so etwas nicht passieren. Nicht zu Spezialisten, die dem Fachidiotentum ja stets so nahe sind wie das Genie dem Wahnsinn, sollen sie hier ausgebildet werden, sondern zu einer „intellektuellen, lebenspraktischen und künstlerischen Elite“. So steht es im Gründungsexpose der Uni. Und deshalb lernen sie einmal pro Woche vier Stunden lang, im sogenannten Studium fundamentale, über den Tellerrand ihrer Disziplin hinauszuschauen. Alle Studenten und Dozenten der Abteilung treffen sich dabei zu einer Art Vollversammlung und beschäftigen sich anhand von Texten oder eines Gastvortrags mit Wissenschaftstheorie, Philosophie, Geschichte, Anthropologie, sozialwissenschaftlichen Grundfragen oder ökologischen Zusammenhängen. So wollen sie die vermeintliche geistige Enge des staatlichen Wissenschaftsbetriebes bei sich gar nicht erst entstehen lassen.

Die Kritik an der modernen Massenuni ist die eine der beiden Wurzeln des Universitätsvereins. Welcher Hochschullehrer in staatlichen Diensten führt nicht bittere Klage über die Anonymität des Lehrbetriebes, die nervenzehrende Allmacht der Bürokratie, die finanzielle und institutionelle Behinderung der freien Forschung? Einige schritten zur Tat, schlossen sich zunächst zur „Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften“ mit Sitz im niederländischen Driebergen zusammen, gründeten schließlich den Witten/Herdecker Verein und wurden 1982 als Universität von der nordrhein-westfälischen Landesregierung anerkannt.

Die zweite Wurzel des Vereins war das Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke. Eine anthroposophische Klinik, orientiert am Gedankengut Rudolf Steiners, im Ruhrgebiet ein Mekka aller Freundinnen der „sanften Geburt“. Hier wird „Ganzheitsmedizin“ betrieben und seit 1983 eben auch gelehrt. Der Patient, sagen die Ärzte, ist hier keine Nummer, sondern ein Mensch, der Apparat ist ein Hilfsmittel im Heilungsprozeß, kein alles beherrschender Moloch.

Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät hatte gleich von ihrer Gründung im Oktober letzten Jahres an mit dem Vorurteil zu kämpfen, hier gehe es doch wohl vornehmlich um die Indoktrination begabter junger Menschen – mit Steinerschen Ideen. „Alles Quatsch“, lautet der bündige Kommentar Ekkehard Kapplers dazu. Kappler ist der bislang einzige Professor der Fakultät, also auch ihr Dekan. 1988, wenn der Studiengang voll ausgebaut sein wird und 150 Studenten, verteilt auf neun Semester, dem Titel eines Diplom-Ökonomen entgegenstreben, hofft er, fünf weitere Lehrstühle besetzt zu haben. Er spricht vorsichtig von einer Hoffnung, denn: Nicht jeder, der über die Massenuniversität klagt, ist bereit, sein sicheres Beamtendasein aufzugeben zugunsten eines Abenteuers mit stark vermindertem Pensionsanspruch.

Kappler lehrte, bevor er nach Witten kam, in Wuppertal. Seit 1973 hatte er dort den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre inne. Er war Gastprofessor in Lissabon und Wien und ist Mitautor eines „wissenschaftlichen Bestsellers“; der inzwischen in siebter Auflage erschienenen „Industriebetriebslehre“. Natürlich ist ihm der Name Steiner ein Begriff, aber „Anthroposoph bin ich nicht“. Er sei nach Witten gegangen, „um die Stagnation meines Faches systematisch“ beenden zu helfen: „Dazu muß man es ernst meinen mit der Freiheit der Wissenschaft. Eine anthroposophische Universität ist ein Unding. Erkenntnis ist das Gegenteil von Bekenntnis.“

Laut Kappler steckt die Wirtschaftswissenschaft in einer Sackgasse. „Sie nimmt ihre kritische Funktion nicht mehr wahr“, seit die Volkswirtschaften nicht mehr steuerbar erscheinen und „die Ordnungspolitik eine Renaissance erlebt“. Die akademische Betriebswirtschaftslehre, seine eigene Spezialität, zeichne sich inzwischen durch erlesene Praxisferne aus. Eine Wissenschaft, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Impulse mehr zu geben vermag, versinke in der Mittelmäßigkeit.

Folglich sollen die Wittener Studenten nicht nur mit Philosophen parlieren, sondern sich auch, vom ersten Semester an, im Dschungel der freien Marktwirtschaft zurechtzufinden lernen. Jeder von ihnen nimmt Kontakt auf zu einer Mentorenfirma. Dort verbringt er im allgemeinen einen Tag pro Woche, lernt die Arbeit möglichst vieler Abteilungen kennen und hilft mit bei der Lösung innerbetrieblicher Probleme. Darüber kann er auch seine Examensarbeit schreiben. Er soll dabei lernen, postuliert Kappler, „die Praxis ernst zu nehmen, nicht so zu tun, als sei sie der nicht gelungene Teil der Theorie“. Der ständige Vergleich zwischen Erlerntem und Erfahrenem mache den Kern des Studiums aus.

Den Praktikern von heute scheint die Idee zu gefallen. Schon wollen rund sechzig Unternehmen Mentorenfirmen werden. Die Mitgliedsliste liest sich wie ein Auszug aus einem Gotha der deutschen Industrie. Alfred Herrhausen ist dabei, seit kurzem zweiter Sprecher der Deutschen Bank, Ludwig Bölkow, Egon Overbeck, ehemals Vorstandsvorsitzender von Mannesmann, oder Klaus Knizia, in gleicher Funktion tätig bei den VEW. Laut Satzung hat das Kuratorium die Aufgabe, „die Unabhängigkeit der Universität zu sichern“.

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Es tut dies unter anderem durch Kontrolle der Finanzen und des Vorstandes und auch durch „Teilnahme an Prüfungen innerhalb der Universität“.

Während des Studiums freilich spielen Prüfungen, Klausuren, formelle Leistungsnachweise eine höchst untergeordnete Rolle. Der Kreis der Lehrenden und Lernenden bleibt überschaubar, man sieht sich ständig, nicht nur im Studium fundamentale: Alle Angelegenheiten der Fakultät werden gemeinsam beraten und geregelt. Die Frage nach Drittel- oder sonstigen Paritäten hat noch niemand gestellt. An der Privatuni geht es zu wie bei der Papstwahl: Einstimmigkeit ist gefragt oder zumindest doch Einmütigkeit. Stundenpläne sind kein Dogma, wenn ein Problem noch nicht zu Ende diskutiert worden ist.

Wo sich alle so gut kennen, weiß der Professor ohnehin, was er von jedem einzelnen zu halten hat, auch ohne multiple choice. Es klingt wie Behauptung und Forderung zugleich, wenn Kappler sagt: „Wer studiert, ist unbestritten erwachsen. Er kann und soll sein Studium selbstverantwortlich betreiben.“ Sollte jemand mittendrin entdecken, daß er sich im Fach vergriffen hat, will Kappler ihm zum Abbruch raten: „Wir machen keine Motivationsmätzchen. Mitleid stigmatisiert den armen Abbrecher, statt ihn ernst zu nehmen.“ Ganz im Gegensatz zu der „Bafög-Philosophie“ von der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit eines nicht beendeten Studiums hält er eine konsequente Entscheidung sogar für „produktiv“.

Mindestens einmal während seines Studiums hält sich der Wittener Elitestudent für längere Zeit im Ausland auf: bei einem Lehrstuhl seiner Wahl. Damit er sich dort und später im Wirtschaftsleben auch unterhalten kann, sind Intensivkurse in zwei Fremdsprachen obligatorisch.

Mit dem Eliteetikett zu leben haben alle 22 inzwischen gelernt. „Ich begreife das mittlerweile als einen Anspruch an mich selbst“, sagt beispielsweise Michael Difliff mit breitem schwäbischen Akzent. Er stammt aus Bietigheim bei Stuttgart und hätte von seinem Äußeren her mindestens so gut in die Blockadereihen vor Mutlangen gepaßt wie in den Seminarraum der Privatuniversität. Niemand wird hier mit Statussymbolen versehen wie in den klassischen Reproduktionsstätten des Establishments üblich – und sei es nur mit einer collegeeigenen Krawatte.

Warum hat Difliff sich ausgerechnet hier beworben? Konkretes habe er kaum gewußt über die Wittener Uni. Ihr Ruf, irgendwie „anders“ zu sein, habe ihn gereizt. Manager wollte er im Grunde nie werden, aber „seit ich hier bin, bekomme ich immer mehr Lust dazu“.

Anders war es bei Johannes Eckmann. Er kommt aus einer münsterländischen Unternehmerfamilie, seine Kleidung ist von modischer Eleganz, er trägt Binder und Metallköfferchen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie andere Kommilitonen Turnschuhe und Schlabberpulli. Eckmanns Studienziel ist und war klar: „Führungskraft in Marketing oder Organisation“ zu werden. Ursprünglich hatte er sich in Koblenz bewerben wollen, an der anderen privaten Brutstätte für Bosse von morgen. Die Studiengebühr, die dort gefordert wird, hätte er im Gegensatz zu Difliff problemlos . zahlen können. was ihn abstieß, war: „Aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Herkunft haben da wahrscheinlich alle fast die gleiche Meinung. Hier in Witten habe ich Meinungen gehört, die ich vorher nie gedacht habe.“ Ihm gefällt, daß man sich auch nach den Vorlesungen noch unterhält, wenn das Thema spannend war. Da brechen Vorurteile manchmal zusammen wie Kartenhäuser. Selbst im Umgang mit Leuten, die ihm auf Anhieb fremd, ja unsympathisch waren, hat Johannes Eckmann inzwischen „gemeinsame Schwingungen“ entdeckt. Im übrigen gefällt ihm die Praxisnähe des Studiums. Demnächst will er mit zwei anderen ein eigenes Unternehmen gründen, seine eigene Mentorenfirma sozusagen.

Wieder ganz anders sieht die Lebensperspektive von Celal Toglukdemir aus. Der junge Türke wollte eigentlich Philosophie und Literatur studieren. Durch Zufall und weil man es ihm riet, ergatterte er einen Studienplatz für Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal. Von da aus folgte er seinem Lehrer Ekkehard Kappler dann nach Witten. Aber noch immer, so beteuert er, heißt sein Berufsziel: Schriftsteller.

Von 350 Bewerbern um die angebotenen vierzig Studienplätze wurden im letzten Sommer sechzig nach Witten eingeladen, aber nur 22 genommen. Dem Auswahlausschuß gehörten sechs Dozenten und drei „Externe“ an, Manager aus der Region zumeist. „Der gewünschten Heterogenität der Studenten entspricht die Heterogenität der Auswahlgruppe“, sagt Kappler, Das „vollkommen bunte Prisma“ der Studenten, das Johannes Eckmann so gefällt, entspringe nicht dem Zufall. Da es laut Kappler kein Kriterium gibt, um zu erkennen, ob jemand ein guter Ökonom wird, interessieren weder die Abiturnoten der Bewerber noch ihre wirtschaftswissenschaftlichen Vorkenntnisse. „Wir wollen wissen, wie engagiert einer das betreibt, was er als seine Neigung bezeichnet. Das kann Gitarrespielen sein, moderne Literatur oder meinetwegen auch Innenarchitektur.“ Den Ausschlag geben vielstündige Gespräche.

Wer genommen wird, braucht Studiengebühren nicht zu bezahlen. Die werden aus Spenden bestritten. Kappler bemüht sich um Stipendien für jeden einzelnen seiner Studenten. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes habe ebenso Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wie die parteinahen Stiftungen.

Vorsitzender des Universitätsvereins ist Konrad Schily. Der gelernte Nervenarzt und passionierte Kettenraucher sucht, offenbar pausenlos, nach geeigneten Dozenten und potenten Spendern. Unter den Namen der Kuratoriumsmitglieder der Privatuniversität findet sich auch der von Rudolf Judith, Mitglied des Bundesvorstands der IG Metall, obwohl man meinen könnte, Begriffe wie „privat“ und „elitär“ ließen jeden Gewerkschafter und Sozialdemokraten an die Decke gehen. Doch auch die Regierung Rau läßt sich vertreten, durch einen Abgesandten des Wissenschaftsministeriums. Und Konrad Schily hat ja auch gar nichts gegen Chancengleichheit. Im Gegenteil: Die soziale Herkunft der Kandidaten, so beteuert er, spiele beim Bewerbungsgespräch die gleiche Rolle wie ihre Weltanschauung, nämlich keine. „Aber es gibt nun mal keine Gleichheit der Begabung oder des Engagements. Wir brauchen eine Elite, um die Schwachen mit durchzuziehen.“

  • Quelle DIE ZEIT, 1.3.1985 Nr. 10

Gepäckträger: Gelungenes Comeback

1/1/1990

 
Aktualisiert 19. April 1985  08:00 Uhr  Einmal ist ihm der Koffer einer jungen Dame aufgesprungen. „Der war voller Reizwäsehe.“ Willi Kreuzer, 63 Jahre alt und seit 1948 im Dienst erst der Reichsbahn und dann der Deutschen Bundesbahn, muß lange überlegen, bis ihm ein Berufserlebnis einfällt, das ihm spektakulär genug erscheint für die Zeitung. Die Geschichte mit der Reizwäsche, fügt er schnell hinzu, habe er schon einmal einem Journalisten erzählt.

Willi Kreuzer ist Gepäckträger. Sein Arbeitsplatz ist der Hauptbahnhof in Köln am Rhein. Gepäckträger, ja, gibt’s denn die noch? Sind sie nicht längst jenen Blechkarren gewichen, die den Vorteil haben, überall abgestellt werden zu können? Nein, es gibt sie – wieder. Jedenfalls in Köln, Bonn, Düsseldorf, Koblenz und Wuppertal. Bis Mai will die Bundesbahn testen, wie der neue/alte Service angenommen wird. Um ja keinen Fehler zu machen, hat sie auch noch eine Marktforschungsanalyse in Auftrag gegeben. Sollten Reisende und Wissenschaft „Ja“ sagen zu dieser Humanisierung des deutschen Gepäcktransportwesens, würde das Angebot mindestens auf alle Intercity-Haltepunkte ausgedehnt.

Für Willi Kreuzer ist es ein Comeback. Ihn holte der Wille des DB-Vorstandes, das Image der Bahn zu verbessern, zurück aus der tristen Arbeitswelt des Gepäckdienstes unter den Gleisen ins Rampenlicht der großen weiten Reisewelt. Hier stand Willi Kreuzer schon einmal, vierzehn Jahre lang, bis 1983. Pardon: Meistens ging er und schleppte Koffer. Damals war er ein quasi selbständiger Unternehmer mit Garantielohn, heute bezieht er ein festes Gehalt. Gebühren, die er kassiert (fünf Mark für das erste und 2,50 Mark für jedes weitere Gepäckstück), hat er unverzüglich am Fahrkartenschalter abzuliefern. Früher wartete er, in den besten Zeiten gemeinsam mit einem Dutzend Kollegen, oben auf dem Bahnsteig, bis er gerufen wurde; per Knopfdruck und Lichtsignal vom Reisenden selbst oder, später, über Lautsprecher vom Kollegen in der Meldestelle.

Heute heißt die alte Meldestelle Kundendienststelle. Der Gepäckträger muß jetzt vorbestellt werden; telephonisch oder schriftlich oder über Bahnfunk vom Intercity aus. So lasse sich viel exakter planen, meinen die DB-Oberen, und die Arbeitskraft der Träger könne zwischenzeitlich anders genutzt werden. Wenn niemand seine Dienste anfordert, schiebt Willi Kreuzer ganz normalen Gepäckdienst, Untertage sozusagen, im schmuddeligen Blaumann. Schallt dann der Ruf: „Williii!“ durch die Bahnhofsunterwelt, tauscht er rasch die blaue gegen eine grüne Jacke und setzt sich jene ehrfurchtgebietende Dienstmütze auf den Kopf, auf der gelb und deutlich steht: „Gepäckträger“. Dann strafft sich sein Körper, und er begibt sich, gemessenen Schrittes, nach oben.

Auf Gleis drei hat Einfahrt der Zug aus Den Haag. Willi Kreuzer geht auf eine ältere Dame zu,, die am Bahnsteig wartet: „Haben Sie einen Gepäckträger bestellt?“ Er kennt die Dame, sie kommt öfter. Diesmal erwartet sie eine Freundin aus Holland, die eine Stunde später schon Weiterreisen will. Willi Kreuzer soll die Koffer zum anderen Gleis hinüberbringen. Ob die Damen nicht in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken wollten, fragt er, er nehme das Gepäck solange in Verwahrung, schließlich sei es kalt, und eine ganze Stunde in der zugigen Halle ...?

Kassieren wird Willi Kreuzer später. Die doppelte Gebühr, weil er zweimal kommen muß? Nein, wehrt er ab, das wäre ja wohl etwas teuer. Doch streng nach Vorschrift wäre jetzt zweimal eine Gebühr fällig.

Im Schnitt zehnmal am Tag wechselt Willi Kreuzer oder einer seiner Kollegen das Kostüm. Ihr Kölner Dienststellenleiter Franz-Josef Winnemöller findet die Nachfrage „angemessen gut“. Auf den kleineren Bahnhöfen im Versuchsgebiet soll es ruhiger zugehen. Hektik kommt allerdings auch in Köln selten auf.

Meist sind es ältere Leute, die um einen Gepäckträger bitten. Oder Japaner. Oder Kommunisten. Sowjetische und ungarische Diplomaten der rheinischen Handelsmissionen zählen zu den Stammkunden. Sie wissen den Wert menschlicher Arbeit eben zu schätzen. Uwe Knüpfer

Auf Unternehmer studieren

1/1/1990

 
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Basic für den Boden

1/1/1990

 
Mit Hilfe des Computers sollen die Bauern Ökologie und Ökonomie versöhnen von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 26. Juli 1985  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer An der Wand über Hans Wortbergs schwerem Schreibtisch, neben der ererbten Standuhr, hängt gerahmt der Spruch: „Meine Eltern trugen das Bauernkleid seit Menschen Hafer säten,... Um ihre Stirn der ew’ge Wind, Der nahe Duft der Erde, Der Atem ihrer Pferde, Nun durch all mein Blut rinnt.“ Auf dem Schreibtisch steht ein flacher Plastikkasten, vielleicht zehn mal vierzig Zentimeter groß. Darauf: Tasten wie an einer Schreibmaschine, nur zahlreicher. Ein Kabel verbindet den Kasten mit einem Fernsehgerät. Hans Wortberg ist einer von hundert deutschen Landwirten, die „Btx Agrar“ erproben: Bildschirmtext für Bauern.

Hans Wortberg ist ein Pionier. Ein Landwirt der Zukunft, wie ihn sich diejenigen wünschen, die in der deutschen Landwirtschaft das Sagen haben. Das sind, und sie sprechen meist, als hätten sie nur eine Stimme: der Deutsche Bauernverband, der Verband der Landwirtschaftskammern, die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft, der Raiffeisenverband (alle vier zusammengeschlossen im Zentralausschuß der Deutschen Landwirtschaft) sowie der Verband der Chemischen Industrie. Dieses seit Jahrzehnten eingespielte Interessenkartell plant die neuerliche Modernisierung der Agranndustrie. Wiederum ganz nach dem Vorbild anderer Großindustrien; diesmal mit Hilfe des Computers.

Warf der Bauer früher einen Blick aus dem Fenster oder in den Hundertjährigen Kalender, wenn er wissen wollte, ob es Zeit war zu säen, zu düngen oder zu ernten, so blickt er künftig, falls die berauschende Vision des Kartells Wirklichkeit wird, auf den Bildschirm, holt sich seine Anweisungen, pardon: Anregungen, per on-line-Anschluß von der zentral-agrarischen Datenbank. Bits und Basic statt Blut und Boden.

Der Ausweg aus der Krise der Landwirtschaft scheint gefunden. Aus einer Dauerkrise, die den Bauern doppelt zwickt: Es geht ihm ökonomisch immer schlechter, und gleichzeitig muß er sich als Umweltfrevler schmähen lassen.

Ständig klagen die Interessenverbände der Bauernschaft über sinkende Einkommen ihrer Mitglieder. Deren Schuppen stehen voll von teuerstem Gerät; die Mechanisierung der Landbewirtschaftung ist auf die Spitze getrieben, niemand mehr glaubt, auf diesem Wege sei die Produktivität der deutschen Bauern weiter steigerbar.

Fast eine Million Bauern haben seit 1950 schlapp gemacht; die Zwänge der damals geforderten Modernisierung haben sie überfordert. Die – bis heute – ökonomisch überlebten, mußten Schulden machen. Weil der Betriebserlös oft langsamer wächst als Schuldsumme und Zinsniveau, schlingern viele Bauern dauernd nur so eben am Rand der Pleite entlang. Knechte und Mägde haben sie längst entlassen, und nicht wenige suchten sich selbst zusätzliche Arbeit außerhalb des angestammten Hofs. Euphemistisch nennt man sie die Nebenerwerbslandwirte. Solange es in der Industrie noch Arbeit gab, nahm auch ihre Zahl ständig zu.

Oppositionelle Landwirte, sie scharen sich um das in Pfahlbronn erscheinende „Bauernblatt“, halten den vom Agrarkartell seit dreißig Jahren propagierten Weg vom Bauerntum zur Agrarindustrie für eine Sackgasse. Der einzige Ausweg, sagen sie, sei die Umkehr. Das bedeutet: weniger Gerät, keine Chemie, keine Spezialisierung, mehr Arbeit. Die Chemie, deren Jünger für „natürliche“ Lebensmittel auch, gern höhere Preise zahlen, macht’s möglich, daß eine wachsende Minderheit von Bauern diese Umkehr für ökonomisch mögvon hält.

Das Kartell, dessen Appelle zur Mechanisierung und Rationalisierung nicht mehr so recht ziehen wollen, suchte nach neuen Argumenten und Parolen. Dank Digitalisierung, Personal-Computer (PC) und Verkabelung glaubt es, sie gefunden zu haben. Die neue Parole lautet: durch gezielten Einsatz Betriebsmittel sparen. Dünger und Gifte ließen sich computergesteuert wirksamer und sparsamer einsetzen, als wenn der Bauer nur mal eben seinen Daumen in den Wind hält.

Zumal die Daumenmethode den Landwirt bei Umweltschützern und besorgten Verbrauchern in ein ausgesprochen schlechtes Licht hat rücken lassen.

Zuviel Stickstoffdüngung führt zu Übermengen von Nitrat im Grundwasser. Herbizide, Fungizide, Pestizide zum falschen Zeitpunkt und in übertriebenen Mengen verabreicht, bleiben auf der Nahrung haften und richten ihre schädigende Wirkung außer gegen unerwünschte Kräuter, Pilze und Insekten dann womöglich auch gegen Menschen. Die mechanische Bodenbearbeitung und die massenhafte Anpflanzung bei uns an sich nicht heimischer Gewächse (wie Mais) auf dafür ungeeigneten Äckern führen zu Boaenerosionen. Der großflächigen Bewirtschaftung wichen Hecken und Feldränder, die Lebensräume vieler Kleintierarten bis hin zum Feldhasen.

Auch vom Umwelt-Pranger herunterzukommen helfe dem Bauern nur die Umkehr zu den Methoden von gestern, sagt die Opposition. Völlig falsch, sagt das Agrarkartell: Realistisch helfen könne auch hier nur der Computer. Denn, so sein Credo: Chemie sei nicht schädlich, sondern nützlich. Zu unerwünschten Nebenwirkungen könnte es nur kommen, wo sie unsachgemäß eingesetzt werde. Das jeweils richtige Mineral oder Gift auf der jeweils richtigen Fläche zum optimalen Zeitpunkt in der jeweils richtigen Dosierung einzusetzen, sei aber, freilich, eine höchst komplizierte Aufgabe. Wäre der gewöhnliche Bauer durch sie nicht überfordert, folgert das Kartell, gäbe es auch keine Umweltschäden durch Chemie im Ackerbau. Also brauche der Landwirt Hilfe. Und die soll ihm nun der große Datenbruder geben.

Das patente Programm hat auch schon einen griffigen Titel: Integrierter Pflanzenbau. Eine eigens geschaffene Agentur soll für seine rasche Verbreitung sorgen, die „Fördergemeinschaft Integrierter Pflanzenbau“. Grob skizziert, sieht die vom Kartell erwünschte Landwirtschaft von morgen gemäß den bisher verfügbaren Darstellungen seitens der „Fördergemeinschaft“ etwa so aus:

In allen Kammerbezirken werden leistungsfähige Computer und ein Netz feinfühliger Wetterbeobachtungsstationen installiert. Jeder Landwirt schafft sich einen „dialogfähigen“ Personal-Computer an. Nun registriert er sehr genau und ständig, was sich wann auf welchem Bodenschlag ereignet. Bevor er düngt oder spritzt, hackt oder eggt, fragt er den Großen Bruder, und der sagt ihm genau: Hier tust du dies, dort läßt du jenes. Der Computer, bestens informiert über die Beschaffenheit jeden einzelnen Ackerstreifens und in enger Fühlung mit dem Wettergott, sagt ihm auch, welche Sorten er pflanzt und welche besser nicht. Er wird dem Bauern auch raten, bestimmte Flächen, die zu bebauen eh mehr schadet als lohnt, unbehandelt zu lassen. Dort bilden sich dann „Öko-Zellen“, Reservate für bedrohte Tier- und Pflanzenarten.

Gemessen an dieser Idealvorstellung wirkt der gegenwärtige Btx-Feldversuch eher rührend. Hans Wortberg jedenfalls, den ebenso aufgeschlossenen wie nüchternen Bauern aus Kettwig an der Ruhr, hat „Btx Agrar“, er testet es seit Anfang 1984, bisher wenig überzeugen können. „Fachzeitschriften sind aktueller“, meint er lapidar: Zeitraubendes „Blättern“ am Bildschirm fördere allzuoft nur Markt- und Wetterdaten von vorgestern zutage.

Nur in Schleswig-Holstein und Bayern können PC-gerüstete Bauern mit ihrem zentralen Datenspeicher auch schon erste Dialoge führen. Die interessanten Informationen von BALIS, ärgert sich Hans Wortberg, seien ihm, als einem Rheinländer, leider nicht zugänglich. BALIS steht für: Bayerisches Landwirtschaftliches Informations-System.

Aller Anfang wirkt niedlich. Helmut Nieder, der Geschäftsführer der „Fördergemeinschaft“, findet eine aus seiner Sicht verfrühte Publicity denn auch eher peinlich denn hilfreich. Sein Arbeitgeber, betont er eindringlich, sei erst „in Gründung befindlich“, im Herbst etwa sei mit dem offiziellen Schöpfungsakt zu rechnen. Dann werde man auch über eigene Räumlichkeiten verfügen, in Bonn wahrscheinlich.

Noch sind Adresse und Telephonanschluß der „Fördergemeinschaft“ identisch mit denen des Verbandes der Chemischen Industrie in Frankfurt am Main.

Von dort aus entfaltet Nieders eigentlich noch gar nicht existente Agentur zur Verbreitung des digitalisierten Ackerbaus in Bauernkreisen bereits eine erstaunlich lebendige Propagandatätigkeit. Sie schickt Referenten in die Lande, druckt wissenschaftliche Vorträge über Methoden und Vorzüge des Integrierten Pflanzenbaus in hohen Auflagen, sie verbreitet journalistisch aufbereitete Erfahrungsberichte angeblich bereits überzeugter Muster-Bauern. Vom Tonfall her wirken solche Geschichten manchmal wie aus einer Öko-Fibel abgeschrieben: Ein „Umdenken auf der ganzen Linie“ wird da den Bauern abgefordert, ja von einer „Umkehr“ ist auch hier die Rede.

Vorbei sind die Zeiten, da der Landwirt wenigstens von Seiten des Agrarkartells als „Naturschützer Nummer Eins“ gegen alle Anwürfe in Schutz genommen wurde. Offen ist nun von „mehreren unerfreulichen Folgen heutiger Formen der Landnutzung“ die Rede. Der Bauer, sagt Helmut Nieder, müsse „eine Menge erkennen und dazulernen“. Bisher habe er nur „eindimensional“ an Kosten, Erträge und Prämien gedacht. Künftig hingegen habe er ganzheitlich zu denken und zu ackern, Ökologie und Ökonomie miteinander integrierend.

Außer Lerneifer ist dafür Zeit vonnöten. Wer seinen Computer ständig mit aktuellen Daten füttern will, kann nicht den halben Tag in der Fabrik verbringen. Wer manche Unkräuter auch wieder weghacken soll, statt die pauschal vernichtende Giftkeule zu schwingen, muß wieder öfter auf seinen Acker hinaus.

„Der Nebenerwerbslandwirt wird sich schwertun“ mit dem Integrierten Pflanzenbau, gibt denn auch Professor Heinz Vetter, der Präsident des Verbandes der Landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalten (VDLUFA) unumwunden zu. Profis seien gefragt und eher noch größere als wieder kleinere Höfe. Rechnergesteuerte, von dynamischen Agrarmanagern geleitete Großbetriebe hier, sich allmählich in „Öko-Zellen“ verwandelnde Kleinhöfe dort, dies könnte die Agrarstruktur der Zukunft sein.

Hans Wortberg jedenfalls ist bereit mitzumachen. Sein Hundert-Hektar-Hof, weitgehend spezialisiert auf die Bullenzucht, scheint für die bäuerliche Neuzucht bestens gerüstet. Schon hat er den Familienbetrieb überführt in eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts, schon hat er, mangels Personal-Computer, eine Handkartei über Maßnahmen und Veränderungen auf allen seinen Bodenschlägen angelegt. Auch daß „Btx Agrar“ aus seiner Sicht eher ein Flop ist, stört Hans Wortberg wenig. Er hat Terminal und Fernseher ja nicht gekauft. Für einmalig 1600 Mark Pacht bekam er beides als „Dauerleihgabe“ ins Wohnbüro gestellt. Wenig Geld, meint er, für einen Farbfernseher mit Stereoton.

Als wacher Geschäftsmann, der er ist, erhofft sich Hans Wortberg von der Computerisierung der Landwirtschaft vor allem eines: bessere Geschäfte durch bessere Marktübersicht, vielleicht gar Wegfall des Zwischenhandels bei Dünge-, Futtermitteln und Giften. Wenn er am Bildschirm die Preise der Anbieter am Ort mit denen in Schleswig oder Rosenheim vergleichen könnte: „Das wäre interessant.“ Doch, bei allem Optimismus, an Wunder glaubt Hans Wortberg nicht: „Das tun sie nicht“, sagt er und läßt offen, wen er mit „sie“ meint: „Das würde ja totale Markttransparenz bedeuten.“

  • Quelle DIE ZEIT, 26.7.1985 Nr. 31
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