Uwe Knüpfer
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Kampf um Klickzahlen

8/5/2008

 
In Zeiten des Web 2.0 suchen viele Zeitungsverlage ihr Heil in Boulevardisierung, Spielen und Bloggertum. Andere besinnen sich auf ihre Stärken
Vielleicht kommt die Erlösung aus Dresden. Dann wäre sie so dünn und so biegbar wie ein Pappkarton und hieße TFT. Der »Thin Film Transistor« könnte wieder Ordnung in die Medienwelt bringen, die gehörig durcheinandergeraten ist im Banne des Internets.

So bunt diese Welt schon immer war, so klar waren einst in ihr die Rollen verteilt. Da gab es, seit Jahrhunderten schon, Zeitungen und Zeitschriften: Medien für gebildete Menschen, die beschrieben, kommentierten und bebilderten, was sich so zugetragen hatte in der Welt. Im 20. Jahrhundert kamen Rundfunk und Fernsehen hinzu, Befürchtungen, diese unmittelbaren Medien könnten die weniger aktuellen Zeitungen überflüssig machen, erwiesen sich als verfrüht: Viele Menschen lesen gern mit Abstand nach, was sie glauben gehört und gesehen zu haben.

Davor, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, war die Welt der Zeitungen schon einmal durcheinandergeraten. Der technische Fortschritt ließ damals Druckerzeugnisse für jedermann erschwinglich werden: Sie wurden zum Billigprodukt. Das versetzte die damalige Medienwelt in ähnliche Schwingungen wie die heutige das Aufkommen von Breitbandnetzen und Flatrates. In den USA entstand ein neuer Typus Zeitung: das Boulevardblatt, der ersten in ihr auftauchenden Farbkleckse wegen yellow papers genannt. Den Herausgebern und Redakteuren ging es vor allem um eine möglichst hohe verkaufte Auflage. Dafür sorgten schreiende, übergroße Überschriften, haarsträubende, gern auch erfundene Geschichten, Comics und – später – viele bunte Fotos. Die Boulevardblätter fanden ihre Leser, Qualitätszeitungen fanden aber weiterhin ihre Käufer.

Im Internet gilt nun eine neue, viel rasantere Erfolgswährung: Was dem werbefinanzierten Rundfunk die Quote, ist für Medien im Netz die Klickzahl, die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Seite, ein bestimmter Beitrag aufgerufen, angeklickt wird. Es kommt darauf an, möglichst viele individuell identifizierbare Gäste – unique visitors – auf seine Seite zu ziehen und sie dort zum möglichst langen Verweilen zu veranlassen. Die so ermittelten Zahlen bilden die Grundlage für die Berechnung von Anzeigenpreisen und damit auch für die Bewertung der Attraktivität von Internetportalen, also für den Preis, den Investoren für solche Portale bezahlen. Im Zeichen des Web 2.0 ist da vielerorts eine ungewohnte Experimentierfreude ausgebrochen, obwohl, wenn die Zeichen nicht trügen, sich in der Branche inzwischen eine Unterströmung bemerkbar macht: zurück zum »Kerngeschäft«.

In der Hauptströmung, dort, wo es nur auf Klickzahlen ankommt, ist der Webseismometer der vorerst letzte Schrei des technischen Fortschritts. Die Redakteure von 20minuten.ch, dem Internetportal einer kostenlosen Zeitung, die den eidgenössischen Blätterwald seit Kurzem mächtig rauschen lässt, wissen, weniger als zwanzig Minuten nachdem sie eine neue Story ins Netz gehoben haben, wie deren Klickzahlen sind. Naturgemäß läuft Pamela schwebt unten ohne besser als Keine zweite Chance für Meier-Schatz. Im Boulevardgeschäft muss das so sein. Kein Medienprofi, der nicht wüsste, was die Massen lockt: »Sex sells.« Gewalt und Glamouröses auch und Niedlich-Tierisches wie Knuddel-Knut. Auf diese Mischung setzten schon die Verleger der ersten yellow papers, die sich im Straßenverkaufskampf behaupten mussten, und darauf setzen auch die derzeitigen Macher von Bild, stern, RTL und SZ.

SZ? Die Süddeutsche Zeitung ist doch kein Boulevardblatt! Nun, aber der Verlag erwartet vom Internetauftritt der Zeitung offenbar Klickzahlen, die konkurrieren können mit denen von YouTube, StudiVZ, Google News oder Bild.de. Jedenfalls gibt Sueddeutsche.de seinen Besuchern gern nützliche Tipps »Für den perfekten Hintern« und verrät »Sexualität: lieber selten, aber gut«. Die Reflexe der SZ.de- Besucher funktionieren. In der Liste der meistverschickten SZ.de- Beiträge tauchen ganz oben auf (an einem Tag im März 2008): Staubsaugende Männer haben besseren Sex und Wer schläft hier mit wem? Noch häufiger allerdings wurde, am selben Tag, der Beitrag über Querelen in der hessischen SPD verschickt.

Die Unsicherheit der Medienhäuser angesichts der Herausforderung des Internets ist eine Unsicherheit in der Bestimmung des eigenen Daseinszwecks. Des eigenen Geschäftsmodells. Mindestens eine Mitschuld daran trägt der Einbruch des traditionellen Anzeigengeschäfts nach 2001. Es sah fast so aus, als wäre mit Zeitungsjournalismus kein Geld mehr zu verdienen. Die Rubrikenmärkte, traditionell eine feste Säule des Anzeigengeschäfts der gedruckten Zeitungen, wanderten ins Internet ab.

Mit dem Wachstum der Bandbreiten und der Verbreitung von Flatrates kam bald darauf scheinbar eine Bedrohung auch von Leserseite auf die Verlage zu: Im interaktiven Internet kann vermeintlich jeder ein Journalist sein.

Warum auch nicht; Nachrichten sind im Internet scheinbar frei verfügbar und damit wertlos geworden; sie flimmern über Bahnhofswände und hübschen die Portale von Immobiliengesellschaften auf. Man sieht es einer Nachricht auf den ersten Blick nicht an, ob sie auf Hörensagen oder auf solider Recherche beruht.

Blogger geben nun Meinungen dazu. Ihr Senf kommt oft schärfer daher als der gelernter Zeitungs- und Rundfunkkommentatoren. Anders als im Zeitalter des Web 1.0, als sie die Entstehung von Onlineanzeigenmärkten verschliefen, reagierten viele Verlagshäuser auf die Blogger, ohne lange nachzudenken. Sie hielten Redakteure dazu an, neben Artikeln und Kommentaren möglichst mehrfach täglich eilige Blog-Einträge zu verfassen.

Im verzweifelten Bemühen, mehr »User« zu finden, fand sich im Zeichen des Web 2.0 bald nahezu jedes Spielzeug, das auf irgendeiner Website irgendwo in der globalisierten Welt die Massen anzulocken schien, auch in den Portalen traditioneller Medienhäuser wieder. Zunächst waren es Spiele und Spontanumfragen zu allem und jedem, zuletzt Minikarten, auf denen der Ursprung einer Nachricht zu »orten« ist. Dank »Geo-Targeting« hoffen Anzeigenverkäufer, Anzeigenkunden mit möglichst präzisen Leserdaten beliefern zu können.

Über Blogs gelangten anonyme Behauptungen auf die Seiten auch renommierter Medien, die in früheren, Vor-Web-Zeiten von jedem Redakteur umstandslos entsorgt worden wären. Im Wettkampf mit Suchmaschinen und Blogs um die Klicks nachrichtenhungriger Internetsurfer verzichteten auch renommierte Redaktionen auf zeitraubende Kontrollen und Recherchen. Der Effekt ist eine Verwischung der Unterschiede zwischen Gerücht und Nachricht, aber auch zwischen den Verbreitern von Gerüchten einerseits und Redaktionen seriöser Medien andererseits, deren Berufung es doch eigentlich ist, als gatekeeper, Wächter am Tor, ruhige Lesestuben von der weiten Welt sich überschlagender Meldungen und Behauptungen zu trennen; zu sortieren, zu prüfen und zu bewerten, was Eingang finden darf ins Blatt.

Aber warum sollte mit seriösem Journalismus im Web-2.0Internet eigentlich kein oder nicht genug Geld zu verdienen sein? Wer sagt, dass eine Suchmaschine zugleich auch Community, eine Zeitung zugleich Fernsehproduzent, ein Fernsehsender zugleich Zeitung spielen muss, um sich im Internet behaupten zu können?

Das schnellste Geld war im Mediengeschäft immer auf dem Boulevard zu machen. Doch Leser belohnten stets auch seriöse Medien. Die Auflage nüchterner, vergleichsweise langweiliger Regionalzeitungen ist in Deutschland rund viermal so hoch wie die Auflage aller Boulevardzeitungen zusammen.

Vertrauen in ein Medium stellt sich erst nach langer Prüfung ein. Doch wo Vertrauen gewachsen ist, bildet es die solide Grundlage einer dauerhaften Bindung – und eines anhaltend guten Geschäfts. Ein Leser, der drei Jahre lang an eine Zeitung gebunden werden kann, bleibt oft fürs ganze Leben. Er ist bereit, für das, was er schätzt, zu zahlen – wenn er muss: Wer Lesern die Wahl lässt, Zeitungsinhalte kostenlos oder gegen Gebühr zu beziehen, hat in der Business School nicht aufgepasst.

Drei Jahre: Ein Zeitraum, der in den Augen von Website-Entwicklern und Hedgefonds-Managern wahrhaft abrahamisch wirkt. Wer aber im Geschäft mit Informationen und Meinungen auf Dauer Geld verdienen will, muss seinen Prinzipien treu bleiben und einen langen Atem haben. Hier mag die Wurzel des Dilemmas liegen.

In der Zeitungskrise des späten 19. Jahrhunderts kaufte ein deutscher Einwanderer eine heruntergewirtschaftete Zeitung in New York: die New York Times . Inmitten eines Blätterwaldes, in dem nur Erfolg zu haben schien, wer lauter kreischen konnte als die Konkurrenz, setzte Arthur S. Ochs auf Seriosität (und einen niedrigen Einzelverkaufspreis). Die meisten der um 1900 populären Zeitungen der Yellow Press sind längst verschwunden und vergessen, die New York Times ist profitabel geblieben.

Doch auch sie steht heute unter Druck, die Kosten zu senken, also dort zu sparen, wo Reputation entsteht: in der Redaktion. Per Internet wird »die Marke« New York Times verkauft. Dass diese Marke ihren Wert konstant solidem bis brillantem Journalismus verdankt, kann dabei schon mal in Vergessenheit geraten.

Noch wächst in der Mediengeschäftswelt das Maß der Verwirrung. Noch immer sind auf Branchenkongressen PowerPoint-Präsentationen mit Zauberwörtern wie »Konvergenz«, »Synergieeffekt« und »Newsdesk« gespickt. Als würde alles besser oder zumindest interessanter, würde erst alles eins.

Anderswo aber gibt es eine Rückbesinnung auf bewährte Geschäfte: So hat El País in Spanien die Redaktionen der Druckausgabe und ihres Onlineauftritts unter Bruch mit der Konvergenz-Mode wieder getrennt: Die Zeitung kann seriös bleiben, der Onlineauftritt Boulevardgelüsten Tribut zollen und TV-Sendern Paroli bieten.

Asahi Shimbun aus Japan setzt im Netz ganz auf Seriosität und Internationalität und kooperiert mit der Herald Tribune . Kurznachrichten, die gegen eine Abo-Gebühr auf inzwischen eine Million Handys gespielt werden, bringen Zusatzerlöse ein. Gate House Media, in den USA Eigentümerin von über hundert kleinen Zeitungen, verzichtet ganz auf Blogs und setzt ganz auf »Hyperlokalität«: Blätter wie der Lexington Minuteman berichten, in einer eher nüchtern aufgemachten Onlineausgabe wie im Druckprodukt, worüber lokale Zeitungen immer schon berichtet haben: Pfadfinder schenken unseren Truppen Tausende von Plätzchen.

So nutzt Gate House das Internet nicht als neues Medium, sondern als neuen Vertriebsweg für ein bewährtes Produkt: soliden Lokaljournalismus. Für Anzeigenkunden ist entscheidend, wie hoch die Reichweite eines Mediums im angepeilten Marktsegment ist. Wie ein Medium ins Haus kommt, sollte unerheblich sein.

Noch hat sich das Internet als Vertriebsweg für Produkte des seriösen Journalismus – nennen wir sie Zeitungen – nicht auf breiter Front durchgesetzt. Der erfolgreichste Abonnenten-Anwerber der New York Times ist zwar schon seit Beginn dieses Jahrzehnts der Onlineauftritt der Zeitung, E-Abos sind aber weltweit bis heute eher Ladenhüter geblieben. Außerdem ist es kein Vergnügen, etwa die USA Today in Originalversion am Bildschirm zu lesen.

Das kann sich ändern, wenn ab Ende 2008 die erste Fabrik des britischen Unternehmens Digital Plastic in Dresden Bildschirme herstellt, die durch nichts mehr an Fernsehgeräte erinnern. Dank biegsamem Kunststoff, amorphem Silizium und Dünnschicht-Transistoren sind diese Bildschirme so trag-, bieg- und vor allem lesbar wie eine am Holzbügel befestigte Zeitung im Café. Und das, ohne dass ein einziger Baum dafür gefällt werden muss. 
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