Uwe Knüpfer
  • Home
  • Archiv
  • Bücher
  • Zur Person
  • Impressum
  • Kontakt

NATO- Verteidigungsministertagung: Nagel einschlagen

6/10/1995

 
Die Nato steht vor ihrem ersten ernsten Einsatz am Boden. Und mehr als das: Die Entsendung von mehr als 30000 schwerbewaffneten Soldaten nach Bosnien soll zu einem Prüfstein für die "Neue Nato" werden, sagte Bundesverteidigungsminister Volker Rühe in Williamsburg. Zu einem Testfall und Vorspiel für die Erweiterung des Nordatlantischen Bündnisses nach Osten.

Im idyllischen Museumsdorf Williamsburg in Virginia zeigten sich die Verteidigungsminister der Nato-Staaten weitgehend einig über das Aussehen dessen, was nun "Neue Nato" heißt. Die Wortschöpfung soll russische Ängste for einem Vorrücken des westlichen Blocks in Richtung russischer Grenzen mildern. Deshalb ist jetzt auch nicht mehr von der "Erweiterung der Nato" die Rede, sondern von ihrer "Öffnung". Und wie diese "Öffnung" aussieht, das soll in Bosnien vorgeführt werden.

Während eines Helikopterausflugs aufs Wasser, auf das amerikanische Kommandoschiff USS Mount Whitney, konnten die Minister lernen, wie sich die amerikanischen Militärs die künftige multinationale Zusammenarbeit in einem "Kriegstheater" denken: elektronisch, mittels Videoschaltkonferenz, unter Beteiligung der Kommandeure vor Ort und in den Hauptquartieren. So sollen auch die Bewegungen von Truppen koordiniert werden können, die nicht Teil der Nato-Kommandostruktur sind.

Vorausgesetzt, alle Akteure im Theater beherrschen das  Abkürzungsesperanto der Nato. Für Einsteiger: Was heißt  COMSTRIKFLTLANT? Auflösung unten.

Es traf sich, daß in das Treffen von Williamsburg die Nachricht vom bevorstehenden Waffenstillstand in Bosnien platzte. US-Verteidigungsminister Perry erhielt spontanen Beifall, als er verkündete, was sein Präsident soeben in Washington bekanntgeben hatte: daß ab Dienstag nächster Woche die Waffen ruhen sollen. Die Verteidigungsminister hatten ohnehin über die Zusammensetzung jener Truppe reden wollen, die nach einem Friedensschluß Moslems, Kroaten und Serben auseinanderhalten soll. Bisher planten sie ins Blaue. Jetzt, plötzlich, haben sie die Chance, in Rühes Worten, einen "Nagel" einzuschlagen. Und womöglich wird der Hammer schneller gebraucht, als bis vorgestern gedacht.  Perry jedenfalls hält es für denkbar, daß die "Grünhelm"-Truppe schon Ende November zum Einsatz kommt.

Daß es eine Truppe unter Nato-Kommando sein wird, steht für die USA und stand in Williamsburg außer Frage. Die Nato sei die einzige Organisation in der Welt, die den Frieden in Bosnien militärisch sichern kann, sagte US-Präsident Clinton am Freitag in einer außenpolitischen Grundsatzrede. Er fügte hinzu: "Als Natos Führungsmacht müssen die Vereinigten Staaten ihren Teil beitragen."

Russen und Franzosen haben in der Vergangenheit Bedenken gegen ein Nato-Kommando erhoben. Die Franzosen lenkten in Williamsburg ein. "Es geht um ein Nato-Kommando," sagte Rühe: "Glasklar" sei das, und: Die Franzosen seien dabei. Ein "System mit Akashi und Subunternehmertum" komme nicht infrage.

 Akashi ist der Bosnienbeauftragte des UN-Generalsekretärs. Und er stand bis vor wenigen Wochen allen raschen Entscheidungen über Nato-Eingriffe in Bosnien im Wege. Zwei-Schlüssel-Kommando nannte man das. Nato-Planer schütteln sich inzwischen mit Grausen, wenn sie das Wort nur hören.

Die Verteidigungsminister verständigten sich auch über Vorschläge, wie die Russen an einem Nato-Einsatz beteiligt werden können. Man wolle es vermeiden, so ein Nato-Sprecher, Bosnien in Kommando-Sektoren aufzuteilen. Der Nato-Vorschlag läuft darauf hinaus, stattdessen den Russen - und möglicherweise auch den Truppen islamischer Staaten - bestimmte, klar definierte Aufgaben zu überlassen. Wie zum Beispiel die Aufgabe der Minenräumung  oder des Brückenbaus. Perry will die Nato-Ideen schon am Sonntag in Genf mit seinem russischen Kollegen Grachev erörtern.

Gelockt werden die Russen auch mit der Aussicht, eine Kooperation mit der Nato in Bosnien könne den Weg bereiten für eine ständige politische und militärische Zusammenarbeit zwischen der "Neuen Nato" und Rußland. Es gelte, ein "ständiges Konsultativgremium" zu schaffen, sagte Rühe.

Die Kosten des Nato-Einsatzes in Bosnien werden auf rund 1,2 Mrd Dollar je 25000 Mann und Jahr geschätzt. Die Kosten werde nicht die Uno tragen, sondern die Nato selbst, sagte Rühe. Die Aussicht auf Frieden auf dem Balkan "sollte uns das wert sein." Die Amerikaner hoffen unverhohlen, daß die Europäer den größten Teil der Kosten, auch wirtschaftlicher Aufbauhilfen, übernehmen werden.

Fest steht für die Amerikaner auch, daß der Nato-Einsatz in Bosnien zeitlich begrenzt sein muß. In Williamsburg war von einem Jahr die Rede; mit der Möglichkeit, schon früher einen Teil der Truppen zurückzuziehen. Clinton wird Wert darauf legen, mit dem Abzug amerikanischer Truppen vor der US-Präsidentschaftswahl im November 1996 zu begonnen.

Und was wird der Beitrag der Deutschen zu der Bosnien-Truppe sein? Rühe: "Wir werden einen klugen Beitrag leisten." Niemand in Williamsburg habe die Deutschen gedrängt, "alles zu tun." Noch einmal Rühe: "Wir wollen ein Teil der Lösung sein, nicht ein Teil des Problems werden."

Clintons außenpolitische Grundsatzrede wider den Isolationismus

6/10/1995

 
US-Präsident Bill Clinton hat sich am Freitag leidenschaftlich zu einer aktiven Rolle der USA in der Weltpolitik bekannt. Im Zeitalter internationalen Handels, weltweiter Kommunikation, offener Grenzen  sei Außenpolitik immer auch Innenpolitik, Innenpolitik nicht zu trennen von Außenpolitik: "Isolationismus ist absolut unmöglich!"

Clinton hielt seine Rede einen Tag, nachdem er einen neuerlichen Erfolg aktiver US-Außenpolitik verkünden konnte: das Inkrafttreten eines baldigen Waffenstillstandes in Bosnien. Und er wählte als Ort für die Verkündung seiner Botschaft die Tagung einer Organisation, die 1941 gegründet wurde, kurz vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Das parteiübergreifende Wirken des  "Freedom House" hat es dem damaligen Präsidenten Roosevelt und dessen Nachfolger Truman ermöglicht, Zustimmung auf dem Kapitol und in der US-Öffentlichkeit erst für die Kriegsrüstung, später für die Schaffung von Marshallplan und Nato zu finden.

Eine Art von Zustimmung, die Clinton gegenwärtig schmerzlich vermißt.

Aktiver Internationalismus, beschwor  Clinton seine Landsleute, habe den USA ein halbes Jahrhundert beispiellosen Wohlstands und Friedens beschert. Er warnte eindringlich davor, nun , nach dem Ende des Kalten Krieges, in Isolationismus zurückzufallen. Es sei zwar verständlich, sagte der Präsident, daß viele Amerikaner nun glaubten, sich auf die Lösung ihrer Probleme "daheim", im eigenen Land konzentrieren zu können, aber es sei "falsch".

Energisch wandte sich Clinton gegen beabsichtigte, "verantwortungslose" Kürzungen im Haushalt des State Department und  gegen die auf dem Kapitol betriebene Schließung der Sender "Freies Europa", "Radio Liberty" und der Voice of America. Clinton bekannte sich zur aktiven Mitgliedschaft der USA in internationalen Organisationen wie der UN und der Nato. Es sei unhaltbar, daß die USA  gegenüber den Vereinten Nationen einen Beitragsrückstand von mehr als einer Mrd Dollar haben. Clinton: "Wir müssen unseren fairen Anteil tragen."

Eine Mehrheit vor allem republikanischer Volksvertreter auf dem Capitol Hill sieht das derzeit ganz anders. Besonders die Weltorganisation ist dort unpopulär wie nie, und auch nach Sinn und Zweck der Nato wird immer lauter gefragt.

Clintons Demokratische Partei verlor bei den Kongreßwahlen 1994 die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses.

Erfolgreiche US-Außenpolitik habe immer versucht, internationale Koalitionen unter US-Führung zu bilden, erläuterte  Clinton; vom Zweiten Weltkrieg bis zum Golfkrieg bis zur Wiedereinsetzung Präsident Aristides in Haiti. Die USA müßten Führungskraft zeigen, aber sie könnten die Probleme der Welt nicht im Alleingang lösen: "In der Welt, in der wir leben, ist Unilateralismus keine Option."

Manchmal seien außenpolitische Initiativen zunächst unpopulär, aber dennoch notwendig, erklärte Clinton und führte als Beispiel die US-Bürgschaftshilfe für Mexiko an. Clinton mußte Milliarden von Dollar ohne Unterstützung aus dem Kongreß bereitstellen, um einen Finanzkollaps des Nachbarlandes zu vermeiden. Inzwischen habe sich Mexikos Wirtschaftslage so gut stabilisiert, sagte Clinton, daß ein Teil des Kredites vorzeitig zurückgezahlt werde. Aber zum Zeitpunkt des "Bailout" seien Umfragen zufolge 80 % der US-Bürger gegen die Entscheidung ihres Präsidenten gewesen. Auch die Haiti-Invasion war anfänglich unpopulär.

Aktuell benötigt Clinton die Unterstützung der Abgeordneten und Senatoren für die geplante Entsendung von Nato-Truppen nach Bosnien. "Wenn die USA nicht vorangehen, wird der Job nicht getan." Clinton versprach, die USA würden "jede Unze unseres Einflusses" geltend machen, dem vereinbarten Waffenstillstand einen Friedensschluß folgen zu lassen.

Von Belfast bis Jerusalem, von Prag bis Puerto Rico habe sich erwiesen: Amerikanische Führungskraft sei unerläßlich. Dabei fehle der Außenpolitik nach der Auflösung der Blöcke ein fester, vorgegebener Rahmen. Im Zeitalter nach dem Kalten Krieg verlange sie oft einen Prozeß des "Trial and Error", begründete Clinton indirekt, weshalb seine Regierung so lange brauchte, in Bosnien aktiv voranzugehen.

Bosnien: der Präsident erlaubt sich ein Lächeln

5/10/1995

 
Die Pressekonferenz war nicht angekündigt. Sie überraschte sogar jene amerikanischen Reporter, deren Job es ist, den US-Präsidenten möglichst nie aus den Augen zu lassen. Am Donnerstag, kurz vor Mittag, erschien Bill Clinton um "Briefing Room" des Weißen Hauses und und gab eine kurze, nüchterne Erklärung ab. Nichts weniger kündigte er an als das mögliche, baldige Ende des Krieges in Bosnien.

Es war ein Triumph für Clinton. Besser: Es wird  ein Triumph sein, wenn sich Serben, Kroaten und bosnische Moslems an ihre Zusagen halten und ab Dienstag nächster Woche alle Kampfhandlungen einstellen. Clinton selber sprach davon, ganz Vorsicht, es komme darauf an, was die Kriegsparteien "tun, nicht, was sie sagen." Aber für eine kurze Sekunde huschte dennoch ein zufriedenes Lächeln über sein sonst beherrschtes Pokergesicht.

Grund genug dafür hat der US-Präsident. Der Krieg in Bosnien, das war bisher der dunkelste Fleck auf Clintons außenpolitischer Weste. Nun scheint "Bosnien" allen Ernstes sein größter Erfolg zu werden. Monatelang gefielen sich US-Abgeordnete und Senatoren - beider Parteien - darin, die Regeirung mit peinlichen Fragen zum Fortgang der Dinge auf dem Balkan zu löchern. Und Anträge zu stellen, die nichts anderes zum Sinn hatten, als die eigene Regierung international bloßzustellen. Etwa den, das Waffenembargo gegen Bosnien einseitig aufzuheben. Clinton hat dagegen sein Veto eingelegt.

Klammheimlich aber hat die US-Regierung in der Zwischenzeit dafür gesorgt, daß die bosnischen Moslems allmählich in die Lage kamen, sich verteidigen zu können, mit militärischer Hilfe aus dem benachbarten Kroatien. Offiziell dürfen die Amerikaner nicht zugeben, daß sie dabei die Finger im Spiel hatten. Aber wie sie das nicht zugeben, das spricht Bände. Etwa, wenn US-Verteidigungsminister Perry die "Professionalität" der kroatisch-bosnischen Truppen in aller Unschuld lobt - wo er doch kritisch fragen müßte, woher diese Profis ihre Waffen haben und wer sie trainiert hat.

Die Erfolge bosnischer und kroatischer Truppen haben im Akkord mit dem Nato-Bombardement serbischer Stellungen den Weg freigemacht für Richard Holbrookes Verhandlungsmission. Clintons Unterhändler für den Balkan hat den Auftrag, jetzt oder nie Frieden zu schaffen. Doch in den letzten Tagen kam ihm ausgerechnet der Erfolg der bosnisch-kroatischen Truppen dabei in die Quere. Als bosnische Regierungstruppen gar entgegen ihren Zusagen serbische Stellungen bei Sarajewo beschossen, schien die Gerfahr groß, Holbrookes Mission könnte zusammmenbrechen. Von einem Waffenstillstand schien er sich mehr und mehr zu entfernen. Seine Neider begannen schon zu feixen. "Die Zeit rennt davon," gab noch am Mittwoch ein UN-Diplomat Reportern zu Protokoll; anonym natürlich: Clintons Wundermann schien auch nur mit Wasser zu kochen.

Zu diesem Zeitpunkt war Holbrooke einmal mehr zwischen Belgrad, Zagreb und Sarajewo unterwegs. Die bosnische Regierung hatte einem US-Vorschlag für einen Waffenstillstand im Prinzip zugestimmt, aber wichtige Bedingunen gestellt; freien Zugang nach Sarajewo, Wiederherstellung der Gas- und Stromversorgung, Zugang nach Gorazde. In Belgrad konferierte Holbrooke darüber sechseinhalb Stunden lang mit Serbiens Präsident Milosevic. Dann war er wieder in Sarajewo. Von dort aus flog er in die kroatische Hausptstadt, Zagreb. Und dort, endlich, bestätigte er Reportern, die ihm unermüdlich an den Fersen kleben: "Ja, es gibt einen Waffenstillstand."

Er tat es vor der US-Botschaft. Holbrooke hatte von dort aus mit dem Weißen Haus telefoniert.  Wenig später gab Clinton seine Presseerklärung ab und kündigte an, nun komme die Zeit, "die érmel aufzukrempeln und für den Frieden zu arbeiten."

Er selbst muß die Arbeit damit beginenn, die US-Öffentlichkeit für den Einsatz amerikanischer Truppen bei der Einhaltung eines nun möglichen Friedensvertrages zu gewinnen. Und die Abgeordneten für die Bereitstellung von Finanzhilfen zum Wiederaufbau bosnischer Städte.

Leicht wird das nicht werden. Vielleicht wird es leichter, mag Clinton sich gedacht haben, wenn die vorbereitenden Friedensverhandlungen in den USA stattfinden, wie es nun geschehen soll. Jedenfalls steigert das die Aufmerksamkeit der amerikanischen Presse.

Waffenstillstand in Bosnien: wieder Holbrooke

5/10/1995

 
Bosnien hat schon viele "Waffenstillstände" gesehen. Keiner  war die Reisespesen der Unterhändler wert. Diesmal, darf man hoffen, wird es anders sein.

Ab dem 10. Oktober sollen die Waffen schweigen. Das haben Serben, Kroaten und Bosniens Regierung US-Unterhändler Richard Holbrooke versprochen. Holbrooke nimmt das Versprechen offenkundig ernst. Sonst hätte er es nicht nach Washington weitergemeldet und es seinem Präsidenten überlassen, vor die Mikrofone zu treten. Bill Clinton sprach betont nüchtern von einem weiteren wichtigen Schritt hin zu einem "dauernden und ernsthaften" Frieden in Bosnien.

Daß Clinton höchstpersönlich  die übereinkunft, Holbrookes jüngsten Erfolg, verkündete, gibt ihr extra Gewicht. Es kommt einer Besiegelung der Zusage der Kriegsparteien gleich. Jetzt gibt es für Serben, Kroaten und Moslems keine billige Ausflucht mehr. Stehen sie nun nicht zu ihrer Zusage, stellen sie Clinton bloß. Die Amerikaner würden das nicht ungestraft hinnehmen.

Bisherige Waffenstillstandszusagen wurden Diplomaten gegeben, ehrenwerten Abgesandten internationaler Organisationen. Die Kriegssparteien haben sich angewöhnt, mit solchen Unterhändlern Katz und Maus zu spielen. Wortbrüche hatten selten Konsequenzen. Frei nach dem Motto: Diesmal ist es ernst - vielleicht aber auch nicht.

Die Amerikaner haben klar gemacht, daß sie so mit sich nicht umspringen lasen. Die Nato spaßt nicht mehr. Das hat sie erst vor zwei Tagen bewiesen, als sie Raketenstellungen der bosnischen Serben bombardierten. Die Serben hatten ihr Radar eingeschaltet - als wollten sie die Nato - und Clinton und Holbrooke - testen.

Stunden später kam Holbrooke zum Erfolg.

Nun sollen  grundlegende Friedensverhandlungen über Bosnien in den USA stattfinden. Im Grunde ist das eine Blamage für Europa. Aber Bosniens Aussichten auf einen "ernsthaften Frieden" tut es nur gut.

Rolle der Geschworenen im Simpson-Prozeß: wie Geiseln gehalten

4/10/1995

 
Die zwölf Geschworenen des O.J. Simpson-Prozesses haben auch sich selber freigesprochen. Neun Monate lang lebten sie wie inhaftiert, getrennt von ihren Familien, isoliert in Hotelzimmern. "Dem Himmel sei Dank, daß es Telefone gibt," schreibt einer der Ex-Juroren in einem Buch  über den "Prozeß des Jahrhunderts": Ohne Telefone "trügen wir alle Zwangsjacken."

Bis Dienstagmittag wurden die Namen der Geschworenen geheimgehalten. Manche hatten Bekannten nur gesagt, sie gingen auf eine Reise. Oft  wußten die Nachbarn nicht, daß die Person jenseits des Gartenzauns im Begriff war, Geschichte zu machen. All das änderte sich nach dem Freispruch schlagartig.

Auf die Vorsitzende der Jury, eine fünfzigjährige geschiedene Schwarze, warteten daheim zwei Dutzend langstieliger roter Rosen. Und: fünf Polizeibeamte. Um Armanda Cooley, so heißt die Geschworene, vor dem Andrang der Reporter zu schützen.

Anderen Jury-Mitgliedern bereiteten Nachbarn und Verwandte Parties. Eine Geschworene, die erst kurz vor Prozeßbeginn geheiratet hat, entschwand mit ihrem Mann in, wie es hieß, "einen anderen Staat". Für zweite Flitterwochen.

Dienst in einer Jury zu tun zählt zu den Bürgerpflichten jedes Amerikaners. Wer einen Führerschein besitzt oder als Wähler registriert ist, den kann es "erwischen". (Die USA haben keine Meldepflicht.) Ablehnen kann man nur mit triftigem Grund. Die Aufwandsentschädigung für den Jury-Dienst variiert von Staat zu Staat; von einer Handvoll Dollar pro Tag bis zu vollem Verdienstausgleich. Kalifornien zählt zu den großzügigeren Staaten. Gut zweieinhalb Mio Dollar ließ sich  die Staatskasse die Dienste und Leiden der Simpson-Geschworenen kosten.

266 Tage lebten die Jury-Mitglieder in einem Luxus-Hotel, dem Intercontinental. Ein Bus brachte sie zum Gerichtsgebäude und zurück. Keine Jury in der US-Geschichte war je zuvor für so lange Zeit isoliert. Bisher stand der Rekord bei 225 Tagen; im Prozeß gegen Charles Manson, wegen des brutalen Mordes an der hochschwangeren Schauspielerin Sharon Tate.

Zehn der Geschworenen im Simpson-Prozeß sind Frauen. Nur zwei haben einen Hochschulabschluß. Neun sind schwarz, einer ist lateinamerikanischer Herkunft. Ihr Alter variiert von 22 bis 72 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von 43. Beobachter sagen, diese Zusammensetzung sei nicht untypisch für Juries in Los Angeles. Die Wohnbevölkerung der Innenstadt ist überwiegend schwarz  und "Middle Class" bis arm.

Für diese Geschworenen galten noch strengere Regeln als normalerweise üblich. Richter Lance Ito hatte ihnen verboten, ihre Hotelzimmer zu verriegeln, Alkohol zu trinken und sich in kleinen Gruppen zu unterhalten; mit Außenstehenden sowieso nicht. Nur gelegentliche Besuche von Ehepartnern waren gestattet. Von allen TV-Programmen und Zeitungen, die sich mit dem Simpson-Prozeß beschäftigten, wurden die Geschworenen ferngehalten. Juries in einer solchen Situation, sagen Experten, neigen entweder dazu, sich zu verzanken oder eng zusammenzurücken. Diese rückte offenkundig zusammen. Und hatte am Ende nur noch einen Wunsch: So schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Freilich nicht ohne voneinander und vom Hotelpersonal Abschied zu feiern.

Die Schnelligkeit der Urteilsfindung - die Jury beriet weniger als vier  Stunden, Experten hatten mit Tagen, gar Wochen gerechnet - erklärte eine Geschworene so: "Wir waren neun Monate lang dabei. Wir brauchten keine weiteren neun Monate."

"Geschworene urteilen mit dem Herzen und nutzen ihren Verstand, die Entscheidung zu rechtfertigen," weiß die Autorin des Buches "What Juries Make Listen", Sonya Hemlin. Erfahrung lehre, daß Geschworene sich ihre Meinung sehr früh im Prozeß bilden und dann nur noch auf Indizien und Aussagen warten, die ihre Meinung untermauern.

Manche Prozeßbeobachter werfen der Anklage vor, voreingenommene Geschworene nicht abgelehnt zu haben (wie es ihr Recht gewesen wäre). Armanda Cooley etwa hatte in jener Befragung, die ihrer Ernennung zur Geschworenen vorausging, angegeben, sie betrachte häusliche Auseinandersetzungen als "persönliche Probleme". Das machte sie, wie man nun weiß, nicht aufgeschlossen für die Argumentation der Anklage, Simpson habe seine Frau über Jahre hinweg mit Drohungen und Schlägen verfolgt, und der Mord sei nur die Konsequenz einer langen Geschichte häuslicher Gewalt.

Psychologen empfahlen den Jury-Mitgliedern, professionellen Rat zu suchen. Als Jury eingesperrt zu sein, gleiche der Lage von Geiseln, sagt Professor Roger Bell: "Sie haben ein Wiedereintrittsproblem ." Die Hierarchien in den Familien könnten sich verschoben haben, am Arbeitsplatz habe womöglich längst jemand die Lücke gefüllt. Oft seien Scheidungen die Langzeitfolge des Dienstes in einer Jury.

Bilder aus dem Prozeß verfolgen Geschworene oft noch lange. Wie auch die Frage, ob ihr Urteil korrekt war. Einige der Geschworenen im Simpson-Prozeß beteuern nun, geradezu demonstrativ: "Wir haben das Richtige getan." Andere zeigen Zweifel. Eine 60jährige weiße Frau ließ ihre Tochter den rudelweiße angetretenen Reportern berichten: "Sie hat gesagt: Ich denke, wahrscheinlich war er's, aber die Beweise fehlten."

Die Jury in einem Mordporzeß kann den Angeklagten nur schuldig sprechen, wenn seine Schuld als "jenseits vernünftigen Zweifels" erwiesen scheint. In diesem Fall blieben offenbar Zweifel.

Aber die Familien der Opfer haben bereits Zivilprozesse gegen Simpson angestrengt. Sie verlangen die Zahlung von Schadensersatz aufgrund "rechtswidrigen Todes" von Nicole Brown und Ron Goldman. ("wrongful death"). Auch hierüber werden nach amerikanischem Recht Geschworene entscheiden. Auch sie müssen befinden, ob Simpson des Mordes schuldig ist. Aber in einem Zivilprozeß werden sie nicht gefragt, ob "vernünftige Zweifel" bleiben, sondern ob die Beweislast erdrückend ist ("preponderance of the evidence"). Das macht einen Schuldspruch wahrscheinlicher. Die Höhe des Schadensersatzes würde sich nach Simpsons Vermögen richten.

Der könnte arm darüber werden.

Erneut strafrechtlich belangt werden kann Simpson aber wegen des Mordes an Nicole Brown und Ron Goldman nicht. Das verbietet der fünfte Zusatz zur US-Verfassung.

Leitartikel zum Simpson-Urteil

4/10/1995

 
Man kann den Simpson-Prozeß ein Spektakel schimpfen und sich über die Medien wundern. Man kann den Schluß ziehen, Fernsehkameras hätten im Gerichtssaal nichts zu suchen.

Wer will, kann den Kopf schütteln über die Bereitschaft der Amerikaner, einen Mordprozeß zur Staatsaffäre des Jahrhunderts aufzublasen.

Alles richtig. Aber so ganz nebenbei - und von niemandem erhofft - hat der Prozeß Nebenwirkungen gehabt. Ein Graben zwischen den Rassen ist sichtbar geworden. In ihrer Reaktion auf Simpsons Freispruch ist die amerikanische Gesellschaft tief gespalten, und zwar entlang der Rassengrenze. Schwarze jubeln, Weiße sind enttäuscht, gar verärgert.

Viele schwarze Amerikaner, die sich bisher als wehr- und  rechtlose Opfer einer Rassenjustiz empfanden, äußern plötzlich Vertrauen in das Funktionieren der US-Justiz. Obwohl auch sie genau wissen: O.J.; der Football- und Hollywoodstar, wurde vom Vorwurf des Doppelmordes freigesprochen, weil er sich die teuersten Anwälte des Landes leisten konnte und den Aufgalopp Dutzender von Experten. Normale US-Strafprozesse sind nach zwei Wochen zuende. Dieser dauerte ein ganzes Jahr.

Auf der anderen Seite sehen sich viele Weiße in dem Eindruck bestätigt, von Schwarzen umzingelt zu sein. Von lauter Minderheiten, die vermeintlich mehr Rechte haben als sie. Manche dieser Weißen sind Fanatiker, die glauben, für die Rechte des "Weißen Mannes" kämpfen zu müssen.

Im April explodierte eine Bombe in Oklahoma, richtete ein Blutbad an. Die mutmaßlichen Täter stammen aus einem Umfeld, in dem es gang und gäbe ist, zum bewaffneten Kampf gegen "das System" zu rufen; gegen Washington, gegen die Idee der multikulturellen Gesellschaft, gegen den vermeintlichen Verfall westlicher Werte.

Zu befürchten ist, daß der Freispruch von Los Angeles solchen Fanatikern zusätzlichen Auftrieb gibt und weiteren Zulauf verschafft.

Fanatiker irritiert es nicht, daß Simpson, wäre er weiß, womöglich genauso freigesprochen worden wäre.

Traditionell verurteilen Juries in den USA Schwarze schneller als Weiße, und zu härteren Strafen. Und weiße Geschworene neigen dazu, weiße Angeklagte eher freizusprechen als Farbige. Daß nun eine überwiegend aus Schwarzen zusammengesetzte Jury einen schwarzen Angeklagten freigesprochen hat, ist in den Augen vieler Schwarzer ein Akt höherer Gerechtigkeit.

Für sie ging es nicht um O.J., sondern um "Uns" gegen "Die".

Verstehen kann man das womöglich nur, wenn man nicht voraussetzt, in Strafprozessen gehe es um die Suche nach Gerechtigkeit. Sondern darum zu gewinnen. Jeder Amerikaner weiß: Um Recht zu bekommmen, muß man nicht Recht haben, sondern Geld und einen guten Anwalt.

Jetzt gibt es offenkundig auch Schwarze, die sich gute Advokaten leisten können. Ist das kein Fortschritt?

Offiziell herrscht in den USA seit langem keine Rassentrennung mehr. Alle Berufe stehen Schwarzen offen. Die Lynchjustiz des Ku-Klux-Klan ist Geschichte. Aber einen Schwarzen, der durch ein "weißes" Wohngebiet fährt, verfolgen viele Augenpaare. Die Polizei in Großstädten wie Los Angeles ist notorisch bekannt dafür, mit schwarzen Verdächtigen wenig zimperlich zu sein. Polizisten halten dagegen: Die meisten Verbrecher, die sie kennen, seien schwarz und brutal und unberechenbar. Und die Regeln der "Political correctness" verböten es ihnen, die Wahrheit zu sagen.

So blüht Rassismus im Halbschatten, auf beiden Seiten. Der Prozeß um Simpson brachte ihn ins Licht. Wer will, mag darin Gutes sehen.

Kurzkommentar zum Simpson-Urteil: Justitias Preis

3/10/1995

 
Zwölf Geschworene in Los Angeles haben O.J. Simpson freigesprochen. Sie haben sich von einem "Berg an Beweisen" nicht überzeugen lassen. Stärker beeindruckt haben sie offenkundig die Belege für die Nachlässigkeit und die rassistische Voreingenommenheit der Polizei.

Die Verteidigung hat unverhohlen und erfolgreich auf die Solidarität einer überwiegend dunkelhäutigen Jury mit dem schwarzen Angeklagten gesetzt. Ein beispielloser Aufgallopp von Experten und Gegenexperten hat den von der Verteidigung erwünschten Erfolg gehabt: Zweifel zu wecken an der Verläßlichkeit der vorgelegten Indizien.

Orenthal James Simpson und seine Anwälte haben nun gut lachen. Alle anderen können nur hoffen, daß die Jury recht hatte. Daß Simpson tatsächlich unschuldig ist.

So oder so, der Prozeß war eine Katastrophe.

Eine Katastrophe für das US-Rechtssystem: Das Vertrauen der Amerikaner in die Funktionstüchtigkeit ihrer Justiz hat einen Tiefpunkt erreicht. Wäre Simpson nicht reich und berühmt, der Prozeß wäre vor spätestens einem halben Jahr zuende gewesen, und vermutlich mit einem Schuldspruch. Justitia ist käuflich - das haben viele Amerikaner schon immer geglaubt. Nun fühlen sie sich darin bestätigt..

Der Prozeß war aber auch eine Katastrophe für die Medien. Sicher, der Fall war faszinierend und sensationell, der Prozeß gelegentlich spannend. Aber nichts davon rechtfertigt die exzessive Besessenheit, mit der sich das Fernsehen und auch die seriösesten US-Zeitungen auf den Fall gestürzt haben, gefolgt von den Medien in aller Welt. Die Mondlandung, der Mord an Kennedy, der Golfkrieg - alles scheint neben dem Simpsonprozeß zu verblassen. Wir im Mediengewerbe sollten uns schämen.

Die Unterschiede zwischen Boulevard- und seriöser Presse verschwammen. Die Medien erlagen der Verlockung des Blutes und der Einschaltquoten. Das Publikum, steht zu befürchten, wird es sich merken. Und uns in Zukunft noch weniger glauben.

Denn das lehrt die nüchterne, schnelle Entscheidung der Jury von L.A.: Niemand unterschätze den Eigensinn von Geschworenen, Wählern und Lesern.

Feature zum Simpson-Urteil: die Jury hatte das Wort - Experten verblüfft - US-Medien spielten verrückt

3/10/1995

 
Die Experten hatten unrecht, und wie. Die Jury hat gesprochen, Volkes Stimme, und das Urteil, es kam schnell. Hundertschaften von Experten hatten vorausgesagt, die Geschworenen würden tage-, womöglich wochenlang beraten - und sich am Ende doch nicht einigen. Nun ging der Simpson-Prozeß schneller zuende, als befürchtet - oder erhofft, je nach Standpunkt.

Anklage und Verteidigung wurden kalt erwischt und ebenso die Fernsehsender. Anwälte und Komentatoren hatte sich auf eine Pause eingerichtet. Simpson-Verteidiger Johnnie Cochran erfuhr im Flughafen von San Francisco, daß er zurückzukommen hatte in jenen Gerichtssaal in Los Angeles, wo - dem Medienauftrieb zufolge - nicht Simpsons Schicksal auf der Kippe stand, sondern das der Freien Welt. Mindestens.

Eigentlich hatte Cochran am Dienstag einen öffentlichen Vortrag halten, seine Popularität vermarkten wollen.

Am Freitag letzter Woche hatten Verteidigung und Anklage ihre Plädoyers beendet, mehr als ein Jahr nach Prozeßbeginn, nach Anhörung von mehr als 120 Zeugen, nach Anhäufung von 40000 Seiten protokollierter Aussagen. Neun Monate lang hatten die zwölf Geschworenen nur stumm dabeisitzen können, zuhören, sich Notizen machen. Die Kameras im Gerichtsaal durften nicht in ihre Richtung schwenken. Die Geschworenen waren in einem Hotel untergebracht, durften nur selten Verwandte sehen und sprechen, durften keine Zeitungen lesen, keine Fernsehprogramme verfolgen, in denen der O.J.-Prozeß Erwähnung fand. Sprich: so gut wie nichts.

Am Freitag erklärte Richter Lance Ito den Geschworenen, wie sie zu beraten hätten. Daß sie drei Möglichkeiten hatten: O.J.Simpson, das einstige Fußballidol, entweder freizusprechen oder ihn a) des Mordes, b) des Totschlags schuldig zu finden.

Die Anklage hatte auf Mord plädiert, die Verteidigung auf Unschuld. Die allermeisten Experten rechneten damit, die Jury werde sich nicht einigen können. Eine "hung jruy", das hätte geheißen: Das ganze Verfahren hätte von vorn zu beginnen gehabt.

Am 12. Juni 1995 wurden Simpsons geschiedene Frau, Nicole Brown, und ein Freund von ihr, Ron Goldman, förmlich abgeschlachtet; im beschatteten Pfad, der zu Nicoles Haus führt, am Bundy Drive in Beverly Hills. Die Tatwaffe wurde nie gefunden, niemand hat den Mord beobachtet.

Die Anklage häufte monatelang Indizien auf Indizien: Da war Simpsons Blut am Tatort, sein Fußabdruck, Blut der Opfer auf Simpsons Socke, gefunden im Schlafzimmer seiner Villa, die nur fünf Autominuten von Nicoles Haus entfernt steht, Blut in Simpsons Wagen. Da waren Haare. Stoffasern. Und die Kläger beschrieben Simpsons Motiv: Mehrfach hat er seine Frau geschlagen und bedroht. Jahre brauchte Nicole, sich aus Simpsons Umklammerung zu lösen, die Scheidung zu erwirken. Mehrfach hat sie bei der Polizei Hilfe gesucht, ja, sie hat vorausgesagt, Simpson werde sie umbringen. Und er werde davonkommen, weil sich niemand an einem reichen Idol wie ihm vergreift.

Die Verteidigung hatte dem in der Sache wenig entgegenzuhalten. Einen anderen Verdächtigen hatte auch sie nicht beizubringen. Nur vage angedeutet blieb die Idee, es könnten Drogendealer gewesen sein, die es auf Ron Goldman abgesehen hatten. Doch Goldmans Lebenswandel gab für diese Theorie wenig her. Er erschien als schlichtweg sympathischer junger Mann, der gerne aushalf. Am 12. Juni brachte er Nicole Brown eine Sonnenbrille nach Haus, die sie im Restaurant hatte liegen lassen, im Restaurant, in dem Goldman als Kellner arbeitete, nur wenige Gehminuten vom Bundy Drive entfernt. Wo Nicole mit ihren zwei Kindern und Feunden zu abend gegessen hatte, ohne Simpson. Der Anklage zufolge kam Goldman dem Täter in die Quere, mußte er sterben, weil er ein Zeuge war. Der Anklage zufolge hatte Simpson sich am Nachmittag entschlossen , "sein Problem", die Frau, die er liebte und haßte, aus dem Weg zu schaffen. Zeugen schilderten ihn als seltsam gelöst. Ankläger Darden, ein Schwarzer, sprach von einer Lunte, die seit Jahren brannte. An diesem Abend habe die Glut den Sprengsatz erreicht.

In Ermangelung eines Alibis und entlastender Beweise spielte die Verteidigung, ein "Dream Team" der teuersten Strafverteidiger der USA, die "Rassenkarte" aus. Simpson ist schwarz. Nicole war weiß und blond. Die USA waren in ihrer Meinung über Simpsons Schuld entlang der Rassengerenze gespalten: Eine Mehrheit der Weißen hielt ihn für schuldig, eine ebenso große Mehrheit der Schwarzen für unschuldig.

Neun der zwölf Geschworenen waren Schwarze, zumeist ohne höheren Bildungsabschluß. Zur Grunderfahrung von Schwarzen aus Los Angeles' Mittel- und Unterschicht gehört es, daß die Polizei Vorurteile gegenüber ihnen hat. Die Verteidigung behauptete, Polizei und Staatsanwaltschaft hätten sich verschworen, Simpson zu nageln. Sie hätten gar nicht erst nach anderen Verdächtigen Ausschau gehalten.

Und in der Tat wies sie einem der Detektive, die am Tatort waren, nach, daß er ein Rassist ist. Detektiv Fuhrman hatte vor Gericht beschworen, seit zehn Jahren habe er das Wort Nigger nicht mehr in den Mund genommen. Die Verteidigung legte Tonbänder vor, auf denen Fuhrman das "N-Wort" gleich ein paar dutzend mal in von sich gibt. Fuhrman hatte sich als Quelle für eine, wie das in Hollywood heißt, "aufstrebende Drehbuchschreiberin" zur Verfügung gestellt. Ein Drehbuch hat die Dame bisher nicht geschrieben. Aber nun konnte sie ihre Tonbänder teuer vermarkten.

Der Prozeß war ein Bombengeschäft, nicht nur für die "Drehbuchautorin" oder für die T-Shirt- und Button-Verkäufer vor dem Courthaus. Mehrere Bücher wurden geschrieben, von Simpson selbst, von einer Freundin der Ermordeten, von Kato Kaelin, einem tumben, aber blonden Hausgast Simpsons, der zwar wenig gesehen hat und vor Gericht noch weniger zu sagen wußte, der inzwischen aber bekannter ist als der Vizepräsident der Vereinigten Staaten.

Und natürlich haben die Medien an dem Prozeß verdient. Auflagen stiegen, Einschaltquoten schossen in die Höhe. Für den Nachrichtensender CNN gibt es seit einem Jahr nichts wichtigeres als den Simpson-Prozeß. Nun dürfte er sich trösten, daß es eine Berufungsverhandlung geben wird. Im Dienst der Verteidigung hat sich der Bostoner Anwalt Alan Dershowitz von Anbeginn Notizen gemacht. Zu dem einzigen Zweck, Anhaltspunkte für Verfahrensfehler zu finden.

Jetzt, endlich, werden auch die Geschworenen absahnen können. Kaum hatten sie ihre Pflicht getan, kaum waren sie entlassen, durfte ihre Identität offenbart werden, stürzten sich die Agenten von Sendern und Verlagen auf sie (wenn nicht schon heimlich zuvor Kontakte angebahnt worden waren; rechtswidrig). In der Jury beim "Prozeß des Jahrhunderts" gesessen zu haben, das ist  besser als ein Lottogewinn.

Es war, als hätten die Geschworenen es nicht mehr abwarten können, endlich das Wort zu haben. Seit Freitag abend lag der Fall in ihren Händen, doch erst ab Montag durften sie untereinander beraten. Richter Ito hatte sie angewiesen, übers Wochenende hinweg nicht miteinander über den Fall zu diskutieren. Am Montag um neun Uhr morgens erhielten sie weitere Instruktionen, dann wurden sie in einen Konferenzraum unweit des Gerichtssaales entlassen. Dort saßen sie, endlich unter sich, im Kreis um einen vieleckigen Tisch. Eine 50jährige Schwarze hatten sie zur ihrem "Vormann" gewählt. Kein gutes Omen für Simpson: Die offenbar willenstarke Frau hatte sich von emotionalen Appellen, von Cochrans flammendem Plädoyer gegen den Rassismus der Polizei, allzu sichtlich unbeeindruckt gezeigt.

Cochran hatte unverhohlen davon gesprochen, der Ausgang des Prozesses werde Auswirkungen auch außerhalb des Gerichtssaales haben... Die Polizei bereitete sich vorsichtshalber auf Unruhen vor. Vor drei Jahren brannten Teile der Stadt, nach einem Freispruch für Polizisten, die einen schwarzen Autofahrer brutal zusammengeschlagen hatten.

Aber jene Jury damals, im Rodney-King-Prozeß, bestand nur aus Weißen.  Im Ernst rechnete niemand mit Unruhen, diesmal: Mit King konnten sich Unterschicht-Schwarze identifizieren. Mit dem Millionär und Aufsteiger, mit der Hollywoood-Berühmtheit  Simpson schwerlich. Den King-Prozeß empfanden sie als Teil ihres Lebens, das Urteil damals als ein Urteil von "denen" gegen "uns". Den O.J.-Prozeß empfanden sie als TV-Geflimmer - im Grunde ununterscheidbar von den Seifenopern, die sonst die Programme beherrschen.

Aber die Polizei wollte sich nicht erneut vorwerfen lassen, unvorbereitet gewesen zu sein.

Die Jury war sich schnell im Grunde einig. Nur die Aussage eines einzigen Zeugen wollte sie noch einmal hören. Dafür kehrte sie in den Gerichtssaal zurück. Die Aussage von Allan Park. Jene Aussage, die von zentraler Bedeutung für Simpsons Alibi war. Von zentraler Bedeutung dafür, daß er keines hatte.

Limousinenchauffeur Park hatte am Abend des 12. Juni den Auftrag, Simpson von dessen Villa abzuholen und zum Flughafen zu bringen. Er sagte aus, um 22.22 Uhr geläutet zu haben. Niemand habe geöffnet, die Fenster des Hauses seien dunkel gewesen. Von Simpsons weißem Geländewagen keine Spur. Um 22.56 Uhr will Park gesehen haben, wie eine große, dunkle Gestalt durch einen Nebeneingang in das Haus hineinhuschte. Minuten später gingen Lichter an, Simpson kam zur Tür, behauptete, verschlafen zu haben. Er hatte, neben anderen Gepäckstücken, eine Tasche dabei, die er nicht aus der Hand geben wollte. Die Tasche tauchte später nie wieder auf. Die Anklage vermutet, Simpson habe sie am Flughafen in den Abfall geworfen. Seine blutbeschmierte Kleidung sei darin gewesen und womöglich auch das Messer.

Der Anklage zufolge wurde der Doppelmord zwischen 22.15 und gegen 22.45 Uhr verübt.

Auch im zweistündigen Kreuzverhör war Park stur bei seiner Aussage geblieben. Protokollierte Telefongespräche, die er aus der Limousine heraus geführt hatte, belegten seine Zeitangaben. Als Teil einer Polizeiverschwörung gab er sich nicht her.

Anderes wolte die Jury nicht mehr hören, nicht mehr wissen. Keine Stunde später bat sie Richter Ito um ein Urteilsformular.

Zurück im Verhandlungsraum übernahm ein Gerichtsdiener den Umschlag mit dem Urteil. Die wenigsten Anwälte waren zugegen und kaum noch Zuschauer. Auch die Familien der Opfer, sonst stets dabei,  hatten das Gebäude verlassen. O.J. Simpson starrte erstaunt und aufgeregt in Richtung der Geschworenen. Die mieden jeden Blickkontakt mit ihm. Ein Anwalt mußte Simpson auf die Schulter klopfen, als es Zeit war, zu gehen. Zurück ins Gefängnis.

Ito hatte der Verteidigung und der Anklage  - und den Fernsehsendern - versprochen, sie vier Stunden vor einer Urteilsverkündung zu informieren. Also mußten die Geschworenen sich ein allerletztes mal gedulden. Erst am Dienstagmorgen gab Ito der Jury-Vorsitzenden den Umschlag zurück. Sie sollte überprüfen, ob alles in Ordnung war. Dann ging der Umschlag wieder zurück an Ito. Der Richter verlas den Urteilsspruch.

Jetzt waren die Anwälte und die Angehörigen zugegen. Auch Simpsons greise Mutter war dabei. Und die Medien waren in Divisionsstärke in Stellung gegangen. Neun TV-Sender übertrugen das Urteil live und landesweit. NBC und ABC hatten schon den ganzen Morgen über nichts anderes berichtet, als darüber, daß es aus Los Angeles im Moment nichts zu berichten gab. Der ganze Fall wurde noch einmal aufgerollt, und am Nachmittag wieder. Experten durften wieder und wieder sagen, wie verblüfft, wie erschlagen sie von der Schnelligkeit des Urteils waren. Wer auch immer den Hunderten von Reportern rund um das Gerichtsgebäude in die Quere kam, wurde interviewt. Die Einschaltquoten zur Zeit der Verkündung des Urteils dürften alles bisher Dagewesene übertroffen  haben.

Einen ganzen letzten Tag lang hatte Amerika kein anderes Thema.

    Loading
    Getty

    Archiv

    April 2020
    April 2019
    Februar 2019
    Mai 2018
    März 2015
    Januar 2015
    Oktober 2013
    Juli 2013
    April 2013
    Juni 2012
    Januar 2012
    Dezember 2011
    September 2011
    August 2011
    Juli 2011
    Mai 2008
    Dezember 2000
    November 2000
    Februar 1996
    Januar 1996
    Dezember 1995
    November 1995
    Oktober 1995
    Dezember 1992
    Oktober 1992
    September 1992
    August 1992
    Juli 1992
    Juni 1992
    Mai 1992
    April 1992
    Januar 1990

    Kategorien

    Alle
    Außenpolitik
    Bildung
    Bonn
    Ernährung
    Europa
    Fdp
    Frankreich
    Glossen
    Integration
    Irak
    Kommentare
    Kultur
    Leitartikel
    Medien
    Nachrufe
    Nahost
    Nato
    Rechte
    Religion
    Reportagen
    Rezensionen
    Ruhr
    Soziales
    Spd
    Sport
    Terror
    Umwelt
    Usa
    Verkehr
    Vorwärts
    Vorwärts
    Wirtschaft
    Zeit Artikel

    Downloads

    Die kompletten Jahrgänge 
    1992, 1993, 1994, 1995 sind als unformatierte txt. Dateien (Fließtext) erhältlich.

    Disclaimer

    Viele der hier verfügbaren Texte sind nicht end-redigiert. Sie können Fehler enthalten, die in der Druckfassung korrigiert worden sind. Das trifft insbesondere auf die Beiträge aus den Jahren 1992-2000 zu (USA-Berichterstattung). Das Copyright zu allen hier verfügbaren Texten und Fotos liegt beim Autor beziehungsweise bei den Fotografen. Wer Fotos oder Texte, im Ganzen oder teilweise, kopieren oder sonstwie publizistisch verwenden will, bedarf dazu der ausdrücklichen Einwilligung des Autors beziehungsweise des Fotografen.

Powered by Create your own unique website with customizable templates.