Aktualisiert 1. März 1985 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Von diesen Studenten hat keiner länger als eine Woche nach einem Zimmer oder einer Wohnung suchen müssen. Nachdem im Lokalteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gemeldet worden war, die ersten Studenten der Wirtschaftswissenschaften an der privaten Universität Witten/Herdecke seien eingetroffen, öffneten sich für die jungen Leute viele Türen wie von selbst.
Nun sitzen die 22 Wirtschaftskadetten im zweiten Stock eines ehemaligen Schulgebäudes und sprechen über das „Denken des Denkens“ und was Borgward damit zu tun hat. Aus München ist ein Philosophie-Dozent angereist, Eberhard Simons heißt er, und philosophengemäß fallen ihm seine rotblonden Haare wuselig in die Stirn. Man duzt sich. Simons zitiert Aristoteles.
Ganz in dessen Sinn will er, sagt er, seinen Zuhörern das „vorstellende Denken austreiben“, sie davor bewahren, sich die üblichen Scheuklappen ihrer Zunft aufzusetzen. Dabei kommt ihm die Erinnerung an den unternehmerischen Exitus von Borgward gerade gelegen. Als die Bilanzrelation des traditionsreichen Fahrzeugherstellers eines Tages dem Lehrbuchideal nicht mehr entsprach, bekamen es die Banken mit der Angst zu tun. Die Firma mußte Konkurs anmelden. So weit, so ganz normal. Doch dann erwies sich die Konkursmasse als ergiebig genug, die Forderungen aller Gläubiger zu hundert Prozent zu befriedigen. Ein an sich gesundes, nur kurzfristig nicht liquides Unternehmen wurde aus dem Markt gedrängt, und zwar nur deshalb, so meint der Philosoph, weil die Verantwortlichen in den Banken nicht fähig waren, über den Schatten ihrer eigenen Denkkategorien zu springen.
Wenn die 22 Wittener Privatstudenten dereinst selbst Wirtschaftskapitäne sein werden, soll ihnen so etwas nicht passieren. Nicht zu Spezialisten, die dem Fachidiotentum ja stets so nahe sind wie das Genie dem Wahnsinn, sollen sie hier ausgebildet werden, sondern zu einer „intellektuellen, lebenspraktischen und künstlerischen Elite“. So steht es im Gründungsexpose der Uni. Und deshalb lernen sie einmal pro Woche vier Stunden lang, im sogenannten Studium fundamentale, über den Tellerrand ihrer Disziplin hinauszuschauen. Alle Studenten und Dozenten der Abteilung treffen sich dabei zu einer Art Vollversammlung und beschäftigen sich anhand von Texten oder eines Gastvortrags mit Wissenschaftstheorie, Philosophie, Geschichte, Anthropologie, sozialwissenschaftlichen Grundfragen oder ökologischen Zusammenhängen. So wollen sie die vermeintliche geistige Enge des staatlichen Wissenschaftsbetriebes bei sich gar nicht erst entstehen lassen.
Die Kritik an der modernen Massenuni ist die eine der beiden Wurzeln des Universitätsvereins. Welcher Hochschullehrer in staatlichen Diensten führt nicht bittere Klage über die Anonymität des Lehrbetriebes, die nervenzehrende Allmacht der Bürokratie, die finanzielle und institutionelle Behinderung der freien Forschung? Einige schritten zur Tat, schlossen sich zunächst zur „Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften“ mit Sitz im niederländischen Driebergen zusammen, gründeten schließlich den Witten/Herdecker Verein und wurden 1982 als Universität von der nordrhein-westfälischen Landesregierung anerkannt.
Die zweite Wurzel des Vereins war das Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke. Eine anthroposophische Klinik, orientiert am Gedankengut Rudolf Steiners, im Ruhrgebiet ein Mekka aller Freundinnen der „sanften Geburt“. Hier wird „Ganzheitsmedizin“ betrieben und seit 1983 eben auch gelehrt. Der Patient, sagen die Ärzte, ist hier keine Nummer, sondern ein Mensch, der Apparat ist ein Hilfsmittel im Heilungsprozeß, kein alles beherrschender Moloch.
Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät hatte gleich von ihrer Gründung im Oktober letzten Jahres an mit dem Vorurteil zu kämpfen, hier gehe es doch wohl vornehmlich um die Indoktrination begabter junger Menschen – mit Steinerschen Ideen. „Alles Quatsch“, lautet der bündige Kommentar Ekkehard Kapplers dazu. Kappler ist der bislang einzige Professor der Fakultät, also auch ihr Dekan. 1988, wenn der Studiengang voll ausgebaut sein wird und 150 Studenten, verteilt auf neun Semester, dem Titel eines Diplom-Ökonomen entgegenstreben, hofft er, fünf weitere Lehrstühle besetzt zu haben. Er spricht vorsichtig von einer Hoffnung, denn: Nicht jeder, der über die Massenuniversität klagt, ist bereit, sein sicheres Beamtendasein aufzugeben zugunsten eines Abenteuers mit stark vermindertem Pensionsanspruch.
Kappler lehrte, bevor er nach Witten kam, in Wuppertal. Seit 1973 hatte er dort den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre inne. Er war Gastprofessor in Lissabon und Wien und ist Mitautor eines „wissenschaftlichen Bestsellers“; der inzwischen in siebter Auflage erschienenen „Industriebetriebslehre“. Natürlich ist ihm der Name Steiner ein Begriff, aber „Anthroposoph bin ich nicht“. Er sei nach Witten gegangen, „um die Stagnation meines Faches systematisch“ beenden zu helfen: „Dazu muß man es ernst meinen mit der Freiheit der Wissenschaft. Eine anthroposophische Universität ist ein Unding. Erkenntnis ist das Gegenteil von Bekenntnis.“
Laut Kappler steckt die Wirtschaftswissenschaft in einer Sackgasse. „Sie nimmt ihre kritische Funktion nicht mehr wahr“, seit die Volkswirtschaften nicht mehr steuerbar erscheinen und „die Ordnungspolitik eine Renaissance erlebt“. Die akademische Betriebswirtschaftslehre, seine eigene Spezialität, zeichne sich inzwischen durch erlesene Praxisferne aus. Eine Wissenschaft, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Impulse mehr zu geben vermag, versinke in der Mittelmäßigkeit.
Folglich sollen die Wittener Studenten nicht nur mit Philosophen parlieren, sondern sich auch, vom ersten Semester an, im Dschungel der freien Marktwirtschaft zurechtzufinden lernen. Jeder von ihnen nimmt Kontakt auf zu einer Mentorenfirma. Dort verbringt er im allgemeinen einen Tag pro Woche, lernt die Arbeit möglichst vieler Abteilungen kennen und hilft mit bei der Lösung innerbetrieblicher Probleme. Darüber kann er auch seine Examensarbeit schreiben. Er soll dabei lernen, postuliert Kappler, „die Praxis ernst zu nehmen, nicht so zu tun, als sei sie der nicht gelungene Teil der Theorie“. Der ständige Vergleich zwischen Erlerntem und Erfahrenem mache den Kern des Studiums aus.
Den Praktikern von heute scheint die Idee zu gefallen. Schon wollen rund sechzig Unternehmen Mentorenfirmen werden. Die Mitgliedsliste liest sich wie ein Auszug aus einem Gotha der deutschen Industrie. Alfred Herrhausen ist dabei, seit kurzem zweiter Sprecher der Deutschen Bank, Ludwig Bölkow, Egon Overbeck, ehemals Vorstandsvorsitzender von Mannesmann, oder Klaus Knizia, in gleicher Funktion tätig bei den VEW. Laut Satzung hat das Kuratorium die Aufgabe, „die Unabhängigkeit der Universität zu sichern“.
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Während des Studiums freilich spielen Prüfungen, Klausuren, formelle Leistungsnachweise eine höchst untergeordnete Rolle. Der Kreis der Lehrenden und Lernenden bleibt überschaubar, man sieht sich ständig, nicht nur im Studium fundamentale: Alle Angelegenheiten der Fakultät werden gemeinsam beraten und geregelt. Die Frage nach Drittel- oder sonstigen Paritäten hat noch niemand gestellt. An der Privatuni geht es zu wie bei der Papstwahl: Einstimmigkeit ist gefragt oder zumindest doch Einmütigkeit. Stundenpläne sind kein Dogma, wenn ein Problem noch nicht zu Ende diskutiert worden ist.
Wo sich alle so gut kennen, weiß der Professor ohnehin, was er von jedem einzelnen zu halten hat, auch ohne multiple choice. Es klingt wie Behauptung und Forderung zugleich, wenn Kappler sagt: „Wer studiert, ist unbestritten erwachsen. Er kann und soll sein Studium selbstverantwortlich betreiben.“ Sollte jemand mittendrin entdecken, daß er sich im Fach vergriffen hat, will Kappler ihm zum Abbruch raten: „Wir machen keine Motivationsmätzchen. Mitleid stigmatisiert den armen Abbrecher, statt ihn ernst zu nehmen.“ Ganz im Gegensatz zu der „Bafög-Philosophie“ von der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit eines nicht beendeten Studiums hält er eine konsequente Entscheidung sogar für „produktiv“.
Mindestens einmal während seines Studiums hält sich der Wittener Elitestudent für längere Zeit im Ausland auf: bei einem Lehrstuhl seiner Wahl. Damit er sich dort und später im Wirtschaftsleben auch unterhalten kann, sind Intensivkurse in zwei Fremdsprachen obligatorisch.
Mit dem Eliteetikett zu leben haben alle 22 inzwischen gelernt. „Ich begreife das mittlerweile als einen Anspruch an mich selbst“, sagt beispielsweise Michael Difliff mit breitem schwäbischen Akzent. Er stammt aus Bietigheim bei Stuttgart und hätte von seinem Äußeren her mindestens so gut in die Blockadereihen vor Mutlangen gepaßt wie in den Seminarraum der Privatuniversität. Niemand wird hier mit Statussymbolen versehen wie in den klassischen Reproduktionsstätten des Establishments üblich – und sei es nur mit einer collegeeigenen Krawatte.
Warum hat Difliff sich ausgerechnet hier beworben? Konkretes habe er kaum gewußt über die Wittener Uni. Ihr Ruf, irgendwie „anders“ zu sein, habe ihn gereizt. Manager wollte er im Grunde nie werden, aber „seit ich hier bin, bekomme ich immer mehr Lust dazu“.
Anders war es bei Johannes Eckmann. Er kommt aus einer münsterländischen Unternehmerfamilie, seine Kleidung ist von modischer Eleganz, er trägt Binder und Metallköfferchen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie andere Kommilitonen Turnschuhe und Schlabberpulli. Eckmanns Studienziel ist und war klar: „Führungskraft in Marketing oder Organisation“ zu werden. Ursprünglich hatte er sich in Koblenz bewerben wollen, an der anderen privaten Brutstätte für Bosse von morgen. Die Studiengebühr, die dort gefordert wird, hätte er im Gegensatz zu Difliff problemlos . zahlen können. was ihn abstieß, war: „Aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Herkunft haben da wahrscheinlich alle fast die gleiche Meinung. Hier in Witten habe ich Meinungen gehört, die ich vorher nie gedacht habe.“ Ihm gefällt, daß man sich auch nach den Vorlesungen noch unterhält, wenn das Thema spannend war. Da brechen Vorurteile manchmal zusammen wie Kartenhäuser. Selbst im Umgang mit Leuten, die ihm auf Anhieb fremd, ja unsympathisch waren, hat Johannes Eckmann inzwischen „gemeinsame Schwingungen“ entdeckt. Im übrigen gefällt ihm die Praxisnähe des Studiums. Demnächst will er mit zwei anderen ein eigenes Unternehmen gründen, seine eigene Mentorenfirma sozusagen.
Wieder ganz anders sieht die Lebensperspektive von Celal Toglukdemir aus. Der junge Türke wollte eigentlich Philosophie und Literatur studieren. Durch Zufall und weil man es ihm riet, ergatterte er einen Studienplatz für Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal. Von da aus folgte er seinem Lehrer Ekkehard Kappler dann nach Witten. Aber noch immer, so beteuert er, heißt sein Berufsziel: Schriftsteller.
Von 350 Bewerbern um die angebotenen vierzig Studienplätze wurden im letzten Sommer sechzig nach Witten eingeladen, aber nur 22 genommen. Dem Auswahlausschuß gehörten sechs Dozenten und drei „Externe“ an, Manager aus der Region zumeist. „Der gewünschten Heterogenität der Studenten entspricht die Heterogenität der Auswahlgruppe“, sagt Kappler, Das „vollkommen bunte Prisma“ der Studenten, das Johannes Eckmann so gefällt, entspringe nicht dem Zufall. Da es laut Kappler kein Kriterium gibt, um zu erkennen, ob jemand ein guter Ökonom wird, interessieren weder die Abiturnoten der Bewerber noch ihre wirtschaftswissenschaftlichen Vorkenntnisse. „Wir wollen wissen, wie engagiert einer das betreibt, was er als seine Neigung bezeichnet. Das kann Gitarrespielen sein, moderne Literatur oder meinetwegen auch Innenarchitektur.“ Den Ausschlag geben vielstündige Gespräche.
Wer genommen wird, braucht Studiengebühren nicht zu bezahlen. Die werden aus Spenden bestritten. Kappler bemüht sich um Stipendien für jeden einzelnen seiner Studenten. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes habe ebenso Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wie die parteinahen Stiftungen.
Vorsitzender des Universitätsvereins ist Konrad Schily. Der gelernte Nervenarzt und passionierte Kettenraucher sucht, offenbar pausenlos, nach geeigneten Dozenten und potenten Spendern. Unter den Namen der Kuratoriumsmitglieder der Privatuniversität findet sich auch der von Rudolf Judith, Mitglied des Bundesvorstands der IG Metall, obwohl man meinen könnte, Begriffe wie „privat“ und „elitär“ ließen jeden Gewerkschafter und Sozialdemokraten an die Decke gehen. Doch auch die Regierung Rau läßt sich vertreten, durch einen Abgesandten des Wissenschaftsministeriums. Und Konrad Schily hat ja auch gar nichts gegen Chancengleichheit. Im Gegenteil: Die soziale Herkunft der Kandidaten, so beteuert er, spiele beim Bewerbungsgespräch die gleiche Rolle wie ihre Weltanschauung, nämlich keine. „Aber es gibt nun mal keine Gleichheit der Begabung oder des Engagements. Wir brauchen eine Elite, um die Schwachen mit durchzuziehen.“
- Quelle DIE ZEIT, 1.3.1985 Nr. 10