Uwe Knüpfer
  • Home
  • Archiv
  • Bücher
  • Zur Person
  • Impressum
  • Kontakt

Lampedusa und die SPD

10/10/2013

 

 Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der Sozialdemokratie. Deshalb kann es nur eine sozialdemokratische Antwort auf die gescheiterte Flüchtlingspolitik der Europäischen Union geben: Wir müssen unsere Arme weit öffnen für Menschen, die ihrer alten Heimat aus Angst und Not den Rücken kehren und  unglaubliche Gefahren auf sich nehmen, um in Europa eine neue Heimat zu finden.

 So einfach ist das. Alles andere – verstärkte Frontex-Einsätze, Programme zur Verbesserung der Lage in den Heimatländern, neue Arbeitsgruppen auf EU-Ebene – ist Augenwischerei. Die Einlassungen unseres Bundesinnenministers laden zum Fremdschämen ein.

Die EU-Flüchtlingspolitik ist unmenschlich, verlogen und feige.

Unmenschlich, denn sie nimmt das Leid und den Tod Tausender von Flüchtlingen in Kauf.

Verlogen, denn sie tut so, als wolle sie das eigentlich nicht, während sie insgeheim auf den Abschreckungseffekt solcher Schiffskatastrophen wie der vor Lampedusa setzt.

Feige, denn sie sie lässt sich dabei leiten von der Angst vor rassistischen und fremdenfeindlichen Stimmungen in den Wählerschaften der EU-Mitgliedsländer.

 Die SPD ist entstanden, weil die Mächtigen des 19. Jahrhunderts den Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur auf sich bezogen. Der selbsterteilte Auftrag der Sozialdemokratie war und ist es, auf die universale Gültigkeit dieser Werte zu pochen. Immer. Sie gelten eben auch für Arbeiter, auch für Frauen, für Juden und Moslems wie für Christen. Und eben auch für Afrikaner, Syrer und Roma.

 

Die europäische Sozialdemokratie hat jetzt die Gelegenheit, diesem Auftrag einmal mehr gerecht zu werden. Indem sie auf eine grundlegende Änderung der EU-Flüchtlingspolitik dringt - und das auch mutig zum Thema der Europawahl 2014 macht.

 

Sozialdemokraten wissen aus ihrer eigenen Geschichte sehr gut, was Verfolgung, Not und Flucht bedeuten. Und wie wichtig es für Fliehende ist, in anderen Ländern auf offene Arme zu treffen. Wie Willy Brandt in Norwegen, wie Ernst Reuter in der Türkei, wie Otto Wels in Paris, wie Tausende in Großbritannien oder in den USA.

 

Eine Flüchtlings- und Asylpolitik, die sich an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, darf nicht zulassen, dass noch ein einziger weiterer Mensch im Mittelmeer oder im Atlantik ertrinkt - weil wir in Europa behaupten, unser Boot sei voll.

Wohin, Europa? Die EU muss sozialer und demokratischer werden

30/1/2012

 
EFSF, ESM, EZB: Die europäische Idee droht, hinter Kürzeln und immer neuen "Rettungsschirmen" verloren zu gehen. Gleichzeitig liegt in der Krise die Chance, Europas Motor von Grund auf zu erneuern.

Nationale Regierungen, voran Frankreich und Deutschland, diktieren derzeit Europas Tagesordnung, eilen von "Gipfel" zu "Gipfel" - und versinken doch immer tiefer im Schuldenmorast.  Die Großen regieren über die Kleineren hinweg und in sie hinein - gegen Geist und Text der Europäischen Verträge.

Die EU-Kommisssion hat sich im Zeichen von Liberalisierung, Globalisierung und Wettbewerb zum Handlanger internationaler Finanzakrobaten gemacht. Um Banken zu retten, haben Europas Staaten sich hoch verschuldet. Nicht nur Griechenland droht nun der Absturz in Elend und Armut.

Es ist an der Zeit, wildgewordene Märkte zu bändigen und fruchtbaren Wettbewerb durch heilsame Solidarität zu ergänzen. Es ist an der Zeit, Spekulation zu besteuern und Banken besser zu regulieren.

Europa braucht weniger Technokraten und mehr Demokraten. Über Länder- und Parteigrenzen hinweg sind sich nachdenkliche Menschen einig: Europa muss begreifbarer und es muss sozialer und demokratischer werden, jetzt - oder die größte geschichtliche Leistung mindestens des 20. Jahrhunderts droht vor unseren Augen zu zerfallen.

Europa braucht eine verständliche Begriffswelt und erkennbare Gesichter. Und: Die EU muss sich eigene Einnahmequellen erschließen. "Zentralisiere ihre Brieftaschen, dann kannst du ihre Herzen gewinnen," hat schon James Madison gewusst, einer der Väter der Verfassung der USA. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer - vulgo: Spekulantensteuer - ist der erste Schritt. Doch wem kommt sie zugute? Darüber dürfen nicht Merkel und Sarkozy verfügen. Das muss, wie es sich in Demokratien gehört, Sache der Volksvertretung sein.  

Das Europäische Parlament muss werden, was es sein soll: die gewählte Vertretung der Bürger Europas, Auftraggeber und Kontrolleur einer europäischen Regierung.

Seit dem 17. Januar 2012 hat dieses Parlament  einen neuen Präsidenten. Einen Präsidenten, dem Freund und Gegner zutrauen, Regierungen und Beamten Paroli zu bieten: den Sozialdemokraten Martin Schulz aus Würselen. Ein Anfang ist gemacht. (vorwärts Februar 2012)

"Es liegt an uns selbst" - Peer Steinbrück, Heinrich August Winkler und Europa

22/9/2011

 
Ein doppeltes Plädoyer für eine neue, mutige Europapolitik: Peer Steinbrück diskutierte im  Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Ihre Begegnung geriet zu einer Sternstunde des historisch-politischen Diskurses.

Offiziell stellte Winkler sein neues  Buch zur Geschichte des Westens vor. Tatsächlich wurde daraus eine Manifestation für einen Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten. "Der alte Westen steht am Scheideweg," stellte Steinbrück fest: zwischen Renationalisierung oder "vorausschreitender Integration" Europas.

Winklers auf drei Bände angelegtes Werk über die Geschichte des Westens kreist um das  "normative Projekt" einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, ausgestattet mit unveräußerlichen Rechten. So, wie es  1776 in der Unabhängigkeitserklärung der USA erstmals zum staatlichen Programm erhoben wurde, im "neuen Westen". Drei Jahre später war der "alte Westen" infiziert. Die Erklärung allgemeiner Menschenrechte leitete nicht nur die Französische Revolution ein, sondern auch die allmähliche und windungsreiche Verwandlung großer Teile Europas.

Der jetzt vorgestellte Band 2 des Werkes - "Die Zeit der Weltkriege. 1914-1945" - handelt von schweren Rückschlägen bei der Verwirklichung des Projekts. Winkler geht der Frage nach, weshalb ausgerechnet in einem wohlhabenden, sozialen, bildungsreichen Staat im Herzen Europas ein Gegenprojekt seine Vernichtungskraft entfalten konnte, kreisend nicht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit , sondern um "Ordnung, Zucht, Innerlichkeit." Steinbrück ergänzte das um "Reichsmythos, Führerkult, der neue Mensch".

Letztlich hat sich der Westen über Faschismus und Nationalsozialismus erhoben. 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch Beschluss  der Vereinten Nationen zum weltpolitischen Programm.  Winkler ist zuversichtlich, dass  die "subversive Kraft des normativen Projektes" seither nicht nachgelassen habe - siehe China - , auch wenn es in den USA derzeit schwächele. Europa habe die Chance, das Projekt neu zu  befeuern. Dazu sei es allerdings notwendig, "die Diskussion um die Finalität des Einigungsprozesses wieder aufzunehmen."

An dieser Stelle gab es spontanen, kräftigen Applaus. Steinbrück zeigte sich verblüfft und fragte ins Publikum, ob es sicher sei, was eine Änderung der europäischen Verträge bedeute: "Deutschland muss Souveränitätsrechte abgeben." Dieses Publikum zumindest schien damit einverstanden zu sein.

Zuvor hatte Steinbrück warnend darauf hingewiesen, dass eine pro-europäische Politik "ressentimenthafte Reflexe" auslöse, die zu Sprüchen führe wie: "Die Akropolis nehmen wir nicht, weil sie kaputt ist."

Als Politiker habe er erlebt, dass Aufforderungen wie "Strengen Sie sich an!" selten belohnt werden. Wer hingegen verspreche: "Wir entlasten Sie von allen Steuern", dem strahlten "erotisch-verklärte Gesichter" entgegen. Steinbrück erinnerte auch daran, dass der letzte Versuch, Europa eine Verfassung zu geben, an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist.

Winkler veranlasste das zu einem Exkurs über die Vorzüge einer parlamentarischen Demokratie. Er erinnerte daran, dass der SPD-Vorstand beschlossen habe, Referenden auf Bundesebene einführen zu wollen, auf der Grundlage niedriger Quoren. Er warne davor und hoffe, dass daraus nichts werde. Steinbrück trocken: "Ich gehöre dem Parteivorstand nicht mehr an."

Fast 300 Bürger hatten je zwölf Euro gezahlt, um mitzuerleben, wie ein Großer der historischen Wissenschaft auf eine (vorerst Ex-)Größe der deutschen Politik traf.

Das konzentriert lauschende Publikum erlebte, was eher selten vorkommt, eine Begegnung zwischen Wissenschaft und Politik auf Augenhöhe  - ohne dass der Wissenschaftler sich in die Niederungen des politischen Jargons begeben musste.

Dort fühlt Steinbrück sich ohnehin nicht wohl, wie er immer wieder gern zu erkennen gibt. Auch diesmal konnte er sich einer Spitze gegen den einfühlsamen Moderator des Gesprächs, Klaus Wiegrefe vom Spiegel, nicht enthalten.

"Das ist eine typische Journalistenfrage," blaffte Steinbrück zurück, als Wiegrefe zum Abschluss wissen wollte, wie es in zehn Jahren um das normative Projekt des Westens bestellt sein werde. Eine Antwort lieferte er dann aber doch: "Es liegt an uns selber!"

Ja, Europa! Beerdigt den Nationalismus!

25/8/2011

 
Ach, Europa! stöhnen Literaten, Leitartikler und Politiker. Dänemark führt wieder Grenzkontrollen ein. Aus Schlagzeilen erdröhnt der Ruf: „Wir wollen unsere alte D-Mark wiederhaben!“ Dabei trifft Europa keine Schuld am Zusammenbruch der überdehnten Finanzmärkte. Nicht „Ach, Europa!“ rufen wir, sondern: „Ja, Europa! Mehr davon!“
Die EU gleicht einem Heranwachsenden in der Pubertät. Alle Organe sind vorhanden, aber kaum erprobt. Sie bewegt sich ungelenk. Sie ist laut, aber harmlos. Nett, aber anstrengend. Und manchmal muss man sich schämen.
Doch anders als ein Teenager kann die Europäische Union nicht aus eigener Kraft der Pubertät entwachsen. Nichts entwickelt sich in ihr ohne Zutun ihrer Eltern. Das sind ihre 27 Mitgliedsstaaten. Alle haben sehr unterschiedliche Erziehungsideale. Das tut dem Kind nicht gut.
Europas Problem ist, dass ihre Eltern nicht beiseite treten wollen. Das Kind braucht Platz, muss Verantwortung übernehmen. Längst müsste es eine einheitliche europäische Außenpolitik geben, eine europäische Wirtschafts,- Sozial- und Finanzpolitik, eine wirksame europäische Banken- und Börsenaufsicht, eine europäische Armee. Und natürlich ein demokratisch gewähltes Europäisches Parlament, das Europas Regierung (bislang Kommission gerufen) einsetzt und kontrolliert. Wirklich ernst zu nehmen wird es erst sein, das EU-Parlament, wenn auch hier gilt: one man, one vote. Der Souverän der Demokratie ist das Volk. Es setzt sich aus Bürgern zusammen, nicht aus Staaten. Bürger, also Menschen, haben Hirn, Seele und Herz. Völker nicht.
Wenn Europa jetzt in einer Krise steckt, dann nicht, weil „Brüssel“ zu mächtig geworden wäre, sondern weil die Nationalstaaten nicht von der Weltbühne abtreten wollen. Als die EGKS – die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – gegründet wurde, aus der die EWG, dann die EG, schließlich die EU hervorgegangen sind, waren Europa und mit ihm weite Teile der Welt an der Nationalstaatsidee fast zugrunde gegangen. Aber dennoch hielt man es damals für natürlich oder mindestens zwingend, dass sich die Menschen als Nationen zu organisieren hätten. In manchen Köpfen, und durchaus nicht nur in ansonsten hohlen, hält sich diese Idee bis heute hartnäckig. Manche schwätzen gar von der Wiederkehr des Nationalen. Das ist dumm, falsch und gefährlich.
Die Nationalstaatsidee war einmal die Schwester des Freiheitsgedankens – in einer Zeit, als Provinzpotentaten Europa mit zehntausenden von Schlagbäumen zugestellt hatten, jeder auf angestammte Rechte pochend. Das ist mehr als 200 Jahre her. Die Nationalstaatsidee hat ihre Dienste längst getan und wurde seither schrecklich missbraucht: als scheinbare Rechtfertigung für Vertreibungen, Kriege und Völkermorde.
Seit 66 Jahren herrscht in EU-Europa nun Frieden. Dieser ungeheuer glückliche Zustand wird nur dann von Dauer sein, wenn das europäische Projekt endlich erwachsen wird. Wenn die Nationalstaaten aufgehen in den Vereinigten Staaten von Europa. Die deutschen Sozialdemokraten fordern das seit 1925.(vorwärts Septemb

Risse im Tuch - Krawalle in englischen Städten

10/8/2011

 

Risse im Tuch - Krawalle in englischen Städten

10/8/2011

 
In London und Birmingham werden Häuser in Brand gesteckt und Geschäfte geplündert. Die jugendlichen Krawallmacher rotten sich via Twitter zusammen. Kaum weniger erschreckend als die Krawalle selbst ist es, dass offenbar niemand rechtzeitig wissen wollte, was sich da zusammenbraute. Das zeigt: die Zivilgesellschaft hat Risse. Die britische Demokratie steht auf einem morschen Fundament. Nur die britische?

 

Ganz gleich, warum Jugendliche massenhaft kriminell werden, ob sie arbeits- und perspektivlos oder schlicht gelangweilt sind und Fun – Spaß – haben wollen: ganz offensichtlich fühlen sich diese jungen Menschen nicht als Teil der sie umgebenden  Gesellschaft. Und die Gesellschaft schert sich nicht drum. Weder in Gestalt von Eltern oder Geschwistern oder Freunden, noch institutionell als Schule, Jugendamt, Medien und Politik.

Mitten in London und Birmingham, so scheint es, sind schwarze Löcher in der Gesellschaft entstanden. Das lässt sich deshalb auch von Berlin aus so diagnostizieren, weil Ähnliches in Ansätzen auch in deutschen Großstädten zu beobachten ist. Im Schutze der metropolitanen Anonymität entstehen Schattenzonen, in denen Menschen leben, die von der Gesellschaft nichts, vom Staat allenfalls „Hartz IV“ erwarten – und von denen auch die sie umgebende Gesellschaft nichts mehr erwartet – außer dass sie sich ruhig verhalten und nicht randalieren. Dafür wirft sie ihnen Geld hin und schickt den einen oder anderen Sozialarbeiter los. Es sind Menschen, die keine Autorität akzeptieren. Warum nicht? Weil sie zu selten oder nie Autoritäten erlebt haben, an denen sie sich aufrichten und anlehnen konnten.

Für Heranwachsende sollten Eltern, Erzieher, Lehrer, auch Nachbarn, Vereinsvorsitzende, Pfarrer, Ausbilder und Arbeitgeber solche Autoritäten sein - lange vor der ersten Begegnung mit der Polizei.

Wie reagiert ein Staat auf solche Krawalle wie die in englischen Städten? Natürlich muss er zunächst für Sicherheit sorgen, die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Aber dann? Auf diese Frage gibt es nur drei mögliche Antworten: die repressive, die feige und die demokratische.

Die repressive, man könnte sie aktuell auch die chinesisch-russische nennen, das heißt: die Polizeipräsenz erhöhen, das Internet stärker kontrollieren, innerstädtische Grenzen ziehen und auf Abschreckung durch hartes Durchgreifen und drastische Strafen setzen.

Die feige: sich ein bisschen erregen, die Polizeipräsenz zumindest zeitweise erhöhen, mit härteren Strafen drohen, wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag geben  - gleichsam als Expeditionen ins schwarze Loch der Gesellschaft - und hoffen, dass sich „alles“ bald wieder beruhigen werde.

Die demokratische: Dem Erschrecken und der Wiederherstellung von ziviler Ruhe würde die gründliche Reparatur der Zivilgesellschaft folgen, sprich der Grundlagen jeder funktionierenden Demokratie: des sozialen Gefüges, der politischen Institutionen und der organisierten Öffentlichkeit.

Eine demokratische Gesellschaft gleicht einem dichten Gewebe. In ihrem Mittelpunkt steht der Staatsbürger; jeder einzelne, ohne Ansehen von Herkunft, Einkommen, Geschlecht etcetera. Jeder einzelne muss eine Chance haben sich zu entfalten, muss sich ernst- und angenommen und – ja – auch geliebt fühlen können. Eine demokratische Gesellschaft lebt von funktionierenden Institutionen auf jeder Ebene. Das fängt in den Familien an und setzt sich in Gemeinden, Stadtteilen, Vereinen, Kirchen und Verbänden fort. Sie bedarf der aufklärenden und debattierenden Öffentlichkeit. Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen der boulevardeske Verwahrlosung der britischen Presse und der mentalen Verwahrlosung britischer Jugendlicher.

Es ist mehr als interessant zu beobachten, welche Antwort britische Politiker auf die Krawalle geben werden: die repressive, die feige oder eine demokratisch-mutige. England ist zwar eine Insel, aber Teil Europas. Was dort geschieht, geht auch uns in Deutschland sehr direkt etwas an.

Wir hier haben die Chance, nach Rissen und Löchern im Gewebe unserer Zivilgesellschaft zu suchen. Sie zu flicken, wo es geht. Oder neu zu weben, wo es notwendig ist – bevor auch in Berlin oder Frankfurt oder Hamburg eines Tages zu unser aller Überraschung Häuser brennen werden.  

(vorwärts.de 10. August 2011)

Der Europäische Gipfel in Nizza: Mut zur Vision

7/12/2000

 
An der Grenze zwischen Deutschland und Polen begann der Zweite Weltkrieg. Kaum eine Grenzlinie in Europa wurde so oft verschoben, mit so viel Gift beladen wie die zwischen Deutschen und Polen. Erst wenn diese Grenze aufgehoben wird, ist Europa geeint.

Und geeint muss es sein. Viel wird derzeit geklagt, die Idee Europa habe ihren Glanz verloren. Das mag stimmen. Doch an Wert hat sie mitnichten verloren.

Wann hat es das jemals gegeben, in Europas blutiger Geschichte: 50 Jahre Frieden, 50 Jahre Wohlstand. Jedenfalls im Westen des Kontinents, rund um jene Grenze herum, die einst ähnlich vergiftet war wie jene zwischen Deutschen und Polen: die zwischen den Erzfeinden, zwischen Franzosen und Deutschen?

Den Frieden und den Wohlstand, den wir Westeuropäer genießen, haben wir jenen Politikern zu verdanken, die den Weitblick und die Weisheit besaßen, den Grundstein zu einem Gebäude zu legen, dessen Richtfest sie - das wussten sie - nicht mehr würden erleben können. Solche Politiker sind auch heute wieder vonnöten.

Nichts von dem, was wir heute als selbstverständlich erachten, versteht sich von selbst: nicht der neckisch-zwanglose Umgang zwischen Deutschen und Franzosen und Briten, nicht die niederländischen Busse am Oberhausener CentrO, nicht die Allgegenwart unseres Italieners an der Ecke, nicht die Freiheit, mit der wir uns zwischen Lissabon und Athen, Kopenhagen und Salerno bewegen, nicht Ballermann 6 und die deutsche Finca auf Mallorca.

Jeder noch so winzige Fortschritt hin zur Europäischen Integration war nur möglich, weil in allen Hauptstädten Westeuropas Politiker regierten - und Beamte verwalteten -, die auch nach schier endlosen nächtlichen Verhandlungen über Milchquoten die Idee Europa nie aus dem Blick verloren. Lange zeit genügte das. Weil ein Bauplan vorgegeben war.

Doch dieser Bauplan trägt nicht mehr. Das Gebäude der Europäischen Union ist schon jetzt zu groß geworden, um noch übersichtlich zu sein. Es gleicht einem gewucherten Verwaltungsgebäude mit zahllosen Kammern und endlosen Fluren, ohne Maß und ohne Gesicht. Wenn Polen der EU beitreten wird und mit oder nach ihm zehn und mehr weitere Staaten, muss ein neues Gebäude her. Kein erweitertes, kein Anbau, nein: ein neues Gebäude.

Europa muss neu gedacht und geplant werden, und zwar jetzt. Zähigkeit und Pragmatismus reichen nicht aus, das Werk der Europäischen Einigung zu vollenden. Im Gegenteil: Wenn die Politiker derJetztzeit sich darauf beschränken, so weiter zu wursteln, wie es zwischen Brüssel und Straßburg jahrzehntelang üblich - und ausreichend - war, ist das Projekt Europa gefährdet.

Statt neuer Quotenregelungen braucht Europa einen Quantensprung.

Brüssels Kompetenzen gehören klar definiert und begrenzt. Das Europäische Parlament muss an Einfluss gewinnen. EU-Europa muss für seine Bürger begreifbar, verstehbar und zähmbar werden.

Aller Europa-Skepsis zum Trotz: Die allermeisten Menschen in Europa wollen die Integration nicht rückgängig machen - ebenso wenig wie die allermeisten Sachsen und Thüringer sich das Minenfeld der innerdeutschen Grenze zurückwünschen, allem Gegrummel zum Trotz.

Kanzler Schröder hat sich und seine Amtskollegen zum Beginn des Gipfels in Nizza aufgerufen, Mut zu beweisen. Dem ist wenig hinzuzufügen - außer: Es lohnt sich.

Politiker, die stets nur auf Wahltermine schielen, werden rasch vergessen. Schröder, Chirac und Co. haben die Chance, als Architekten Europas unvergessen zu bleiben.

Größeren Lohn hat Politik nicht zu bieten.

US und EG-Binnenmarkt: Noch steht der Abschied von Meile, Pint und Gallone in den Sternen



12/7/1992

 
Am 1. Januar 1993 werden sich viele Amerikaner erstaunt die Augen reiben, wenn sie hören: Der Europäische Binnenmarkt ist Wirklichkeit. Europa machte reichlich Schlagzeilen während der letzten Monate, aber es waren Schlagzeilen, die von Stillstand berichteten, von Enttäuschungen, von Rückschlägen.
(Eher bemitleidenswert schien Europa denn ein ernstlicher Konkurrent: Auf dem Balkan tobt ein Bürgerkrieg, in Deutschland marschieren wieder Nazis, die Dänen lehnten den Vertrag von Maastricht ab, die Franzosen beinahe - da wirken die USA geradezu wie ein Hort des Optimismus und der Sicherheit. Mit anderen Worten: Es bot sich das altgewohnte Bild.)
 Noch vor einem halben Jahr hatte das ganz anders ausgesehen: Da zweifelten die Amerikaner an sich selber, sahen ihre Führungsrolle mit dem Kalten Krieg beendet, da blickten sie voller Sorge auf ein Europa, daß sich anschickte, Muskeln zu zeigen.
Doch für die US-Wirtschaft ist der Binnenmarkt im Grunde eine größere Herausforderung als ein politisch geeintes Europa. Politisch mag Europa vorerst ein tönerner Riese bleiben, doch ökonomisch geraten die USA ins Hintertreffen, und viele hier wissen es.
Ab Januar werden die USA nicht mehr der größte Markt der Welt sein. Sie verlieren damit eine wesentliche Säule für ihren Anspruch, Führungsmacht zu sein, für ihr Selbstwertgefühl. Sie bleiben die größte Militärmacht, aber was bedeutet das in einer Welt, in der nicht mehr täglich Raketen gezählt werden, sondern Exporterfolge und Jobs? Diese besorgte Frage beflügelt den neugewählten Präsidenten Clinton zur Reform von Banken-, Gesundheits- und Bildungssystem - oft nach europäischem Muster.
Und Noch-Präsident George Bush hat als amerikanische Antwort auf den EG-Binnenmarkt mit Kanada und Mexiko das Nordamerikanische Freihandelsabkommen geschlossen: NAFTA. Der nordamerikanische Binnenmarkt wäre noch größer als der europäische:
- In den USA, Kanada und Mexiko leben derzeit rund 363 Mio Menschen, mehr als in den Grenzen der EG,
- die Bruttoinlandsprodukte addiert machen eine ähnliche, geringfügig größere Summe aus als in Europa,
- die umfaßte Landmasse ist allemal gewaltiger; dafür sorgt allein schon Kanada. Um hier mitzuhalten, müßte sich Rußland mit seinen sibirischen Weiten der EG und dem Binnenmarkt anschließen dürfen.
Doch das will in Westeuropa vorerst kaum jemand. Aus vergleichbaren Gründen heraus, aus denen in den USA viele vor offenen Marktgrenzen hin zu Mexiko warnen.
Zwar scheint Mexiko derzeit politisch und wirtschaftlich stabiler als Rußland, aber noch sieht seine Wirtschaftsstruktur mehr nach Dritter Welt aus als nach Industriegesellschaft. Die US-Gewerkschaften fürchten die Konkurrenz unterbezahlter mexikanischer Arbeiter. NAFTA-Befürworter halten dagegen, daß Mexikaner weiterhin in die USA strömen werden, wenn der nordamerikanische Lebensstandard nicht zu ihnen kommt - ein Argument, das besonders in deutschen Ohren vertraut klingt.
Doch während die innerdeutsche Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR von heute auf morgen Wirklichkeit wurde und der 1. Januar 1993 für den Europäischen Binnenmarkt Stichtag ist, steht NAFTA noch in den Sternen. Noch sind die Verträge nicht ratifiziert. Clinton will sie „nachbessern“. Aber selbst wenn sie, was allgemein erwartet wird, in Kraft treten, sorgen Übergangsfristen von fünfzehn Jahren dafür, daß Europa über die Jahrtausendwende hinaus der größte Markt der Welt bleiben wird.
In der Theorie verspricht NAFTA den ungehinderten Strom von Arbeitnehmern, Waren, Kapital und Dienstleistungen über die Grenzen hinweg. In Wahrheit dürfte der Vertrag ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Anwälte sein. Das Kleingedruckte steckt voller Schutzklauseln für Industrien hüben und drüben.
Noch haben auch nur wenige US-Amerikaner wahrgenommen, welche Opfer ihnen NAFTA abverlangt. Amerikaner gelten gemeinhin als Fortschrittsenthusiasten. Doch wo sie Traditionen haben, pflegen sie diese liebevoll und hartnäckig. Entfernungen zwischen Städten werden in Meilen gemessen, Benzin wird nicht literweise verkauft, sondern per Gallone (3,78 Liter), ein halbes Kilo Steakfleisch wiegt knapp achtzehn Unzen. In Kanada und Mexiko aber gilt das Dezimalsystem. Mancher Politiker in Washington fürchtet sich schon heute vor dem Sturm der Entrüstung, der einsetzen wird, wenn die Amerikaner erst merken, daß NAFTA ihnen Meile, Unze und Gallone nehmen wird.

Aktion Balkan-Sturm...

22/5/1992

 
Saddam Hussein hat einen Nachfolger: Slobodan Milosevic. Worin, so wird in Washington gefragt, unterscheidet sich Saddams öberfall auf Kuweit von den serbischen öberfällen erst auf Slowenen und Kroaten, jetzt auf Muslims in Bosnien-Herzegowina? In nichts, so die mitgelieferte Antwort, außer in der Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft.
 In Washington wächst der Druck auf die Regierung, mehr zu tun als ein paar Flugverbindungen zu kappen. Milosevic brauche einen ernsthaften Schlag auf die Finger.
Die offizielle Regierungshaltung heißt seit langem: Der Jugoslawien-Konflikt ist Angelegenheit der Europäer. Vitale amerikanische Interessen seien nicht berührt, anders als im Golfkonflikt. Dort ging es um ôlreserven und um die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen in der Hand eines unberechenbaren Regimes.
Doch Amerikas Bild von den Serben hat sich im Laufe der Jugoslawien-Krise um 180 Grad gedreht. Anfangs überwogen Sympathie für die Serben, das Gefühl, Jugoslawien müsse zusammenbleiben wie einst die USA, als die Südstaaten abfallen wollten, - und Mißtrauen gegenüber dem Vorpreschen ausgerechnet der Deutschen.
Unter dem Eindruck immer neuer, immer gleicher Fernsehbilder gequälter, ermordeter, vertriebener Zivilisten aus Gegenden, die serbisch werden sollen, schwand der Glaube an die Erhaltbarkeit Jugoslawiens, an die Verläßlichkeit von Milosevic. Auch wenn es vielen Amerikanern schwerfiel zuzugeben, daß die Deutschen, daß Kohl und Genscher dies schon früher klar erkannt haben.
Aus diesem Sinneswandel erwuchs die Politik des ÆEuropa, geh Du voranØ. Die EG zog ihre Botschafter aus Belgrad zurück, die USA zogen nach. Europa setzte auf Uno-Blauhelme, auf diplomatischen Druck, auf wirtschaftliche Sanktionen oder Sanktiönchen. Die USA zogen mit.
Doch allmählich wächst die Unruhe in Washington, gepaart auch mit Häme. Europa agiert, so hält man hier fest, und nichts geschieht, nichts wendet sich zum Besseren auf dem Balkan. So mehren sich die Stimmen, die sagen, Milosevic brauche eine Lektion wie vor einem Jahr Saddam. Der Aktion Wüstensturm müsse eine Aktion Balkansturm folgen. Die Serben, heißt es, verstehen nur die Sprache der Gewalt.
Doch wer soll die Truppen schicken? Die USA stecken mitten im Wahlkampf. Noch immer ärgern sich die steuerzahlenden Wähler über die Kosten des Golfkriegs. Außerdem: Milsosevic mag Saddam gleichen, die serbischen Truppen scheinen ungleich fanatischer als die irakischen Soldaten. Der Balkan könnte für fremde Eingreiftruppen zu einem gefährlichen Sumpf werden, warnen Regierungskreise, ähnlich wie einst Vietnam.
Vorerst ziehen die USA, noch nicht offiziell, aber unter der Hand, folgende Lehren aus dem Verlauf der Jugoslawien-Krise: Erstens, diplomatische Gesten und symbolische Boykotthandlungen reichen nicht aus. Ein echtes Embargo muß her, um Serbien wirtschaftlich die Luft abzudrehen. Zweitens: Wie schön wäre es, gäbe es internationale Eingreiftruppen, die andere Mächte bezahlen und, wenn’s denn sein muß, auch kommandieren, nicht die USA.
Bisher hat Washington die Bemühungen der Europäer um eine eigene Sicherheitsidentität, die Geburt einer Euro-Truppe, offiziell zwar mit Sympathie, ansonsten aber mit äußerstem Mißtrauen beäugelt. éhnliches gilt für die Idee, die Uno so zu reformieren, daß unter ihrem Kommando kämpfende Truppen Krisen beenden können wie die in Kuweit oder Jugoslawien. Dank "Saddam Milosevic" fragen hier viele jetzt ganz anders: Warum gibt es solche Truppen nicht längst?

Spielwiese für Bürgermeister

1/1/1990

 
Technologieparks sind zu einem neuen Statussymbol geworden

Aktualisiert  7. September 1984  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Ideen verbreiten sich manchmal wie Gerüchte: in Windeseile. Kaum galt die Erkenntnis ab gesichert, die deutsche Wirtschaft habe auf dem Gebiet der Mikroelektronik den Anschluß verpaßt, schien auch schon ein Instrument gefunden, die Schlappe wettzumachen, den Abstand aufzuholen: Technologieparks kombiniert mit Gründerzentren. Die Idee kam aus Amerika und heißt dort science park. Berühmtheit erlangte vor allem das kalifornische Silicon Valley. Dort hatten in enger Nachbarschaft zur Stanford University schon ab 1948 junge Wissenschaftler Unternehmen gegründet, die ihnen selber Reichtum und der Region Wohlstand brachten.

Am schnellsten waren die Berliner, angeführt von Wirtschaftssenator Elmar Pieroth. Ihr Innovations- und Gründerzentrum (BIG) auf dem alten AEG-Gelände im Wedding, Ende 1983 eröffnet, wurde zum Prototyp des neuen Instruments kommunaler und landespolitischer Wirtschaftsförderung, das sich offenbar nicht beschreiben läßt ohne inflationäre Verwendung der vier Werte Technologie, Innovation, Zukunft und Gründer. Glaubt man Presseberichten und den Absichtserklärungen der Bürgermeister, ist die Bundesrepublik inzwischen auf dem Wege, sich in eine gigantische Silicon-Tiefebene zu verwandeln.

Die Heftigkeit des Gründerbooms überraschte selbst seine Initiatoren. Seit dem Frühjahr – außer BIG war noch kein Zentrum wirklich in Betrieb – mehrten sich deshalb die kritischen Stimmen. Von einer „Modewelle“ war plötzlich die Rede, von unsinnigen kommunalen Konkurrenzkämpfen um neue Prestigeobjekte in der Nachfolge von Rathäusern und Badeanstalten. Der Gründerwelle werde zügig eine Pleitewelle folgen, ließen prophetisch begabte Experten sich zitieren. Was erst als Vorbild galt – BIG in Berlin – wurde nun als einzigartig, unkopierbar hingestellt.

Die Planer all der neuen Parks, Zentren und Fabriken wollen vor allem dreierlei:

  • einen engeren Zusammenhang herstellen zwischen Forschungsinstituten und Unternehmen; durch räumliche Nähe zueinander und personelle Bindungen untereinander.
  • Firmengründungen junger Wissenschaftler und anderer Pioniere mit unternehmerischer Neigung erleichtern, die zwar zündende Ideen, aber wenig Kapital und ökonomische Erfahrung besitzen. Preiswerte Räume, technische Dienste, Beratung und Finanzierungshilfen sollen ihnen aus den Startlöchern helfen.
  • Arbeitsplätze schaffen.
Im BIG residieren gegenwärtig achtzehn junge Unternehmen. Fünfzehn ernsthafte Interessenten warten darauf, daß weitere Räume fertig werden. Die jetzigen Mieter bauen Roboter, hydraulische Steuerungssysteme, entwickeln neue Dämmstoffe oder medizinische Geräte, mit denen sich der Säuregehalt des Magensaftes messen läßt. BIG arbeitet eng mit der Technischen Universität (TU) zusammen. Nebenan sollen sich ab 1985 schon etablierte Unternehmen niederlassen – Elektronikfirmen, Computerspezialisten, Apparatebauer – und das verwaiste AEG-Gelände so in den erhofften Technologiepark verwandeln.

Programmatisch verweisen die Berliner auf die „anderen“ Gründerjahre, die nach 1871. Schon sprechen sie von der „Technologiestadt Berlin“. Alle sechs Wochen treffen sich Jungunternehmer, Finanzbeamte, Mitarbeiter der Industrie- und Handelskammer und Steuerberater am „Gründerstammtisch“. Sie alle eint eine Aufbruchstimmung, ohne die „nichts laufen würde“ (BIG-Koordinator Heinz Fiedler).

Beflügelnd wirken mag dabei der rege Besucherverkehr im BIG. In den ersten sechs Monaten seines Bestehens haben sich schon rund 2200 Menschen durch das Zentrum führen lassen, Beobachter multinationaler Konzerne ebenso wie nachahmungswillige Kommunalpolitiker.

Herbert Krist vom Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) der Fraunhofer-Gesellschaft in Karlsruhe schätzt, daß es derzeit bundesweit rund fünfzig ernsthaft betriebene BIG-Nachahmungsprojekte gibt – „mit sehr unterschiedlichen Qualitäten“. Mindestens hundert weitere Bürgermeister hätten die vage Absicht bekundet, ihre Gemeinden auf diesem Weg in die technologische Neuzeit zu führen. Das ISI veranstaltet Seminare, in denen es Kommunalpolitiker über „ausländische Erfahrungen bei der Gründung, Finanzierung und beim Management von Zentren für junge Unternehmer“ aufklären will.

Zumindest teilweise schon mit Leben erfüllte Gründerzentren gibt es, außer in Berlin, momentan nur in Karlsruhe und Aachen mit jeweils sieben Mietern, in Kassel (23 Mieter) und in Schwerte (drei Mieter). In Vorbereitung befinden sich beispielsweise Zentren in Hamburg, Syke, Buxtehude, Hildesheim, Hannover, Dortmund und Duisburg, Saarbrücken, Stuttgart, Ulm und Heidelberg.

Vor allem im Norden und Westen der Republik wird rege geplant. Kein Wunder, denn die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben Förderprogramme aufgelegt. Sie locken technologiefreudige Kommunen und Jungunternehmer mit Millionenbeträgen. Allein der Düsseldorfer Wirtschaftsminister Reimut Jochimsen hatte in diesem Jahr und zu diesem Zweck 45 Millionen Mark zu vergeben.

Wer solche Hilfen richtig zu nutzen weiß, braucht nicht viel eigenes Geld zu riskieren. Die Stadt Buxtehude, in Niedersachsen nahe bei Hamburg gelegen, hat ihr „Technologiezentrum“ so konzipiert, daß sie selbst nur ein Fünftel der Kosten tragen muß. Die Saarbrücker rechnen mit EG-Zuschüssen aus dem Programm zur Rekultivierung von Industriestandorten. Die Landesregierung von Baden-Württemberg arbeitet noch an einem Konzept für „Technologiefabriken“. Schon in wenigen Monaten soll aber auch im Südwesten den Gemeinden das neue Instrument kommunaler Wirtschaftsförderung mit mehr als nur mit guten Worten schmackhaft gemacht werden.

Die Jungunternehmer selbst erhalten Geld vom Bundesminister für Forschung und Technologie – sofern sie sich mit Mikroelektronik befassen. Das Modewort Technologie benutzen viele Wirtschaftsförderer ohnehin bedeutungsgleich mit Mikroelektronik.

In funktionierenden Gründerzentren im Ausland aber arbeiten nicht nur Elektroniker, sondern oft auch klassische Handwerksbetriebe. Erfahrungen in den USA und den Niederlanden lehren: Technologieparks und Gründerzentren sollte man auseinanderhalten. Das erste taugt für wenige, das zweite aber möglicherweise für sehr viele deutsche Städte.

In den Niederlanden etwa wird die Zahl solcher Einrichtungen – bereits bezogen oder im Bau befindlich – auf rund 140 geschätzt. Nur fünf oder sechs davon sind reine Technologiezentren, in die nur einziehen darf, wer auf dem Gebiet der Mikroelektronik tätig ist. Die meisten dieser Zentren gleichen eher Gewerbehöfen. Sie sorgen dafür, daß in stillgelegte Fabrikanlagen wieder Leben einzieht: Wo sich ein Großunternehmen, aus welchen Gründen immer, nicht mehr halten konnte, gedeihen einige Dutzend kapitalschwacher Kleinbetriebe. Sie teilen sich nicht nur Gebäude- und Energiekosten. Gemeinsam finanzieren sie – über eine Trägergesellschaft –, was sich jeder von ihnen allein nicht leisten könnte: digitalisierte Telephonanlagen, Kopiergeräte, Telex und Fernkopierer, Konferenzräume, einen zentralen Schreibdienst.

Gründerzentren dieser Art, glaubt Herbert Krist vom ISI, könnten auch in Deutschland vielerorts erfolgreich sein. Sie dürften sich dann freilich nicht als rein „technologieorientierte Durchlauferhitzer“ verstehen, sie dürften nicht, wie viele Kommunen das planen, ihre Mieter nach drei, vier oder fünf Jahren wieder an die Luft setzen. Kurz: Sie dürfen sich weder am kalifornischen noch am Berliner Vorbild messen.

Ideenbrutstätten solchen Kalibers können bestenfalls dort entstehen, wo leistungsfähige Forschungseinrichtungen schon angesiedelt, Spitzenunternehmen der Elektronikbranche schon beheimatet sind. Krist räumt unter diesem Aspekt vor allem Karlsruhe und München Chancen ein. Enorme Forschungskapazitäten hat auch das Ruhrgebiet zu bieten. Die Industrie- und Handelskammern dort halten neuerdings engen Kontakt zu einigen Universitätsfakultäten. Vom Kommunalverband Ruhrgebiet besonnen moderiert, scheint ihnen der Durchbruch durch die Abwehrfront der Kohle- und Stahlproduzenten inzwischen gelungen zu sein, die jahrelang jeden Umstrukturierungsversuch in der Region zu blockieren wußten. Auch Aachen, mit seiner renommierten Technischen Hochschule und der Kernforschungsanlage Jülich nahebei, träumt vielleicht nicht nur von einer siliconträchtigen Zukunft.

Technologieparks hier und da, Gründerzentren aber allerorten, das könnte, zeigt der Blick nach Holland, eine Perspektive sein. Das könnte auch eine Methode sein, sichere Arbeitsplätze zu schaffen. Zunächst sollten die Erwartungen allerdings nicht zu hoch geschraubt werden: Im BIG finden gegenwärtig, neben den Gründern, 56 Menschen Arbeit; auf 80 soll ihre Zahl bis zum November steigen. Die Karlsruher Technologiefabrik soll einmal 150 bis 200 Mitarbeiter beschäftigen. Die aktuelle Zahl der Beschäftigten in Aachen: drei.

Die Betreiber der Zentren hoffen aber auf Multiplikatoreffekte. Einzelne Neugründungen werden wachsen und ausziehen. Eine Garantie, daß die Unternehmen dann in der Nähe ihrer Brutstätte bleiben und nicht etwa von Buxtehude nach Berlin oder von Berlin nach München umziehen, gibt es natürlich nicht. Die sichersten Arbeitsplätze sind die bei den Trägern der Zentren selbst; im Schreibdienst, in der Pförtnerloge, in der Verwaltung.

Und die solidesten Firmengründungen sind die, deren Unternehmenszweck im Zentrum selbst begründet liegt. Unter den Jungunternehmern, die bereits ihre Absicht bekundet haben sollen, in das geplante Technologiezentrum Buxtehude einzuziehen, befinden sich vier, die davon leben wollen, ihren späteren Kollegen Dienstleistungen anzutragen: Spezialisten für Marketing, industrielles Design, für „strategische Unternehmensplanung“.

Ein Unternehmen hat sich dieser Aufgabe bereits in großem Stil angenommen und ist dabei erfolgreicher als die meisten Politiker: In Großbritannien, wo die Stahlkrise früher begonnen hatte ab hierzulande, gründeten Manager der British Steel Corporation 1980 ein Unternehmen mit dem vielversprechenden Namen Job Creation Ltd. Zuerst auf der britischen Insel, dann in den Niederlanden, in Spanien, Belgien, Irland, den USA und jetzt auch in der Bundesrepublik, nämlich in Kassel, verwandelte Job Creation alte Industrieanlagen in Gewerbehöfe.

In Kassel nahm, sich das Unternehmen der verlassenen Enka-Werke an. Bis jetzt hat es dort 23 Kleinunternehmen ansiedeln können, darunter zwölf neugegründete. Neben Labors und High-Tech-Werkstätten ist hier Platz für alternative Bäckereien und auch für Unternehmer, die schlicht und einfach Lagerhallen suchen. Einen ausrangierten Eisenbahnwaggon baut sich eine Arbeitslose zur Cafeteria um.

„Um die siebzig“ Personen haben auf dem Enka-Gelände inzwischen wieder Arbeit gefunden, sagt der Projektleiter, Keith Freestone. Fünf- bis achthundert sollen es in drei Jahren sein. In England will Job Creation auf diese Art mittlerweile 18 000 Erwerbslose von der Straße geholt haben. Das Unternehmen kassiert Erfolgsprämien für jeden Arbeitsplatz, der nicht nach zwei Jahren wieder verschwunden ist. Freestone: „Wir arbeiten mit Gewinn.“

  • Quelle DIE ZEIT, 7.9.1984 Nr. 37
<<Zurück
    Loading
    Getty

    Archiv

    April 2020
    April 2019
    Februar 2019
    Mai 2018
    März 2015
    Januar 2015
    Oktober 2013
    Juli 2013
    April 2013
    Juni 2012
    Januar 2012
    Dezember 2011
    September 2011
    August 2011
    Juli 2011
    Mai 2008
    Dezember 2000
    November 2000
    Februar 1996
    Januar 1996
    Dezember 1995
    November 1995
    Oktober 1995
    Dezember 1992
    Oktober 1992
    September 1992
    August 1992
    Juli 1992
    Juni 1992
    Mai 1992
    April 1992
    Januar 1990

    Kategorien

    Alle
    Außenpolitik
    Bildung
    Bonn
    Ernährung
    Europa
    Fdp
    Frankreich
    Glossen
    Integration
    Irak
    Kommentare
    Kultur
    Leitartikel
    Medien
    Nachrufe
    Nahost
    Nato
    Rechte
    Religion
    Reportagen
    Rezensionen
    Ruhr
    Soziales
    Spd
    Sport
    Terror
    Umwelt
    Usa
    Verkehr
    Vorwärts
    Vorwärts
    Wirtschaft
    Zeit Artikel

    Downloads

    Die kompletten Jahrgänge 
    1992, 1993, 1994, 1995 sind als unformatierte txt. Dateien (Fließtext) erhältlich.

    Disclaimer

    Viele der hier verfügbaren Texte sind nicht end-redigiert. Sie können Fehler enthalten, die in der Druckfassung korrigiert worden sind. Das trifft insbesondere auf die Beiträge aus den Jahren 1992-2000 zu (USA-Berichterstattung). Das Copyright zu allen hier verfügbaren Texten und Fotos liegt beim Autor beziehungsweise bei den Fotografen. Wer Fotos oder Texte, im Ganzen oder teilweise, kopieren oder sonstwie publizistisch verwenden will, bedarf dazu der ausdrücklichen Einwilligung des Autors beziehungsweise des Fotografen.

Powered by Create your own unique website with customizable templates.