Uwe Knüpfer
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Lampedusa und die SPD

10/10/2013

 

 Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der Sozialdemokratie. Deshalb kann es nur eine sozialdemokratische Antwort auf die gescheiterte Flüchtlingspolitik der Europäischen Union geben: Wir müssen unsere Arme weit öffnen für Menschen, die ihrer alten Heimat aus Angst und Not den Rücken kehren und  unglaubliche Gefahren auf sich nehmen, um in Europa eine neue Heimat zu finden.

 So einfach ist das. Alles andere – verstärkte Frontex-Einsätze, Programme zur Verbesserung der Lage in den Heimatländern, neue Arbeitsgruppen auf EU-Ebene – ist Augenwischerei. Die Einlassungen unseres Bundesinnenministers laden zum Fremdschämen ein.

Die EU-Flüchtlingspolitik ist unmenschlich, verlogen und feige.

Unmenschlich, denn sie nimmt das Leid und den Tod Tausender von Flüchtlingen in Kauf.

Verlogen, denn sie tut so, als wolle sie das eigentlich nicht, während sie insgeheim auf den Abschreckungseffekt solcher Schiffskatastrophen wie der vor Lampedusa setzt.

Feige, denn sie sie lässt sich dabei leiten von der Angst vor rassistischen und fremdenfeindlichen Stimmungen in den Wählerschaften der EU-Mitgliedsländer.

 Die SPD ist entstanden, weil die Mächtigen des 19. Jahrhunderts den Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur auf sich bezogen. Der selbsterteilte Auftrag der Sozialdemokratie war und ist es, auf die universale Gültigkeit dieser Werte zu pochen. Immer. Sie gelten eben auch für Arbeiter, auch für Frauen, für Juden und Moslems wie für Christen. Und eben auch für Afrikaner, Syrer und Roma.

 

Die europäische Sozialdemokratie hat jetzt die Gelegenheit, diesem Auftrag einmal mehr gerecht zu werden. Indem sie auf eine grundlegende Änderung der EU-Flüchtlingspolitik dringt - und das auch mutig zum Thema der Europawahl 2014 macht.

 

Sozialdemokraten wissen aus ihrer eigenen Geschichte sehr gut, was Verfolgung, Not und Flucht bedeuten. Und wie wichtig es für Fliehende ist, in anderen Ländern auf offene Arme zu treffen. Wie Willy Brandt in Norwegen, wie Ernst Reuter in der Türkei, wie Otto Wels in Paris, wie Tausende in Großbritannien oder in den USA.

 

Eine Flüchtlings- und Asylpolitik, die sich an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, darf nicht zulassen, dass noch ein einziger weiterer Mensch im Mittelmeer oder im Atlantik ertrinkt - weil wir in Europa behaupten, unser Boot sei voll.

An Gregor Gysi: Knipsen Sie das Licht ruhig aus!

15/6/2012

 
  "Wer bin ick denn," wird Gregor Gysi in der Zeit zitiert, "det ick der Partei von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht das Licht ausknipse?" Mal abgesehen vom koketten Understatement, das in dieser Bemerkung enthalten ist: Es wäre eine historische Leistung und nur konsequent , würde Gregor Gysi eingestehen, dass der Weg zum Kommunismus eine Sackgasse war - an deren Ende Vernichtungslager und Bonzenburgen lagen.

Die Partei, die sich Die Linke nennt, nährt sich aus zwei Quellen: DDR-Nostalgie und Hass auf die SPD. Aus beiden Quellen kommt kein reines Wasser.

Auf ihrem Parteitag in Göttingen hat die Linke deutlich gemacht, dass sie nicht nur überflüssig ist, sondern eine Zumutung - gerade auch für jene unter ihren Mitgliedern, Wählern und Funktionären, die den Anspruch ernst nehmen, im Grunde sei die Linke die wahre  oder jedenfalls eine bessere, die eigentliche SPD.

  Sie ist es nicht. Eine Partei, die - ob offen oder heimlich - mit bolschewistischen Vorstellungen von Machteroberung und- wahrung sympathisiert, hat die Idee der Sozialdemokratie entweder nie verstanden oder verraten. 

Diese Idee wurzelt in der Aufklärung. Sozialdemokraten wollen nichts anderes - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger - , als dafür sorgen, dass wirklich alle Menschen gleiche Rechten haben und die Chance, sie durchzusetzen. Und nicht nur Adelige, Besitzbürger, Männer oder Kader. Das setzt Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit voraus und fordert einen Einsatz, der nie enden wird.  Es schließt jede Form von Klassenherrschaft, von Privilegiensicherung und Willkürherrschaft aus.

Sozialdemokraten haben das Gemeinwohl im Blick. Sie vertreten die Interessen der Allgemeinheit, immer im Jetzt. Sie tun das mit demokratischen, mit publizistischen, wenn es sein muss mit juristischen Mitteln. Dabei haben sie in Kauf zu nehmen, dass andere Kräfte andere Interessen - Partikularinteressen - vertreten und manchmal obsiegen. Sie akzeptieren die Notwendigkeit des Interessenausgleichs, sprich: des Kompromisses. 

  Mit der Gründung der Vorgängerparteien der heutigen Linken ging die Verächtlichmachung des Kompromisses einher - als "Kompromisslertum".  Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kann man zugutehalten, dass sie sich von der SPD zu einer Zeit abwandten, als Krieg herrschte und in jeder Hinsicht eine große Konfusion. Sie hatten kein Modell einer funktionierenden Demokratie, einer sozialen Marktwirtschaft vor Augen. Wer weiß, welchen Erkenntnispfad diese beiden leidenschaftlichen Kämpfer für eine bessere soziale Ordnung noch eingeschlagen hätten, wären sie nicht heimtückisch ermordet worden?  Lebten sie heute noch, vielleicht gefiele ihnen vieles, was sie in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht sähen.  Es gab in Deutschlands Geschichte keinen Staat, der sozialer und demokratischer gewesen wäre.

  Gregor Gysi kann sich auf solches Nichtwissen nicht berufen. Indem er die Zombiepartei Die Linke künstlich beatmet, hilft er mit, gefährliche Illusionen zu nähren und reale gesellschaftliche Fortschritte  zu erschweren - indem er Engagement und Wählerstimmen an eine überflüssige und untergehende Partei bindet, das und die bei Sozialdemokraten besser aufgehoben wären. 

  Gregor Gysi, machen Sie sich nicht kleiner, als Sie sind! Knipsen Sie das flackernde Licht der Linkspartei ruhig aus!

 

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"Es liegt an uns selbst" - Peer Steinbrück, Heinrich August Winkler und Europa

22/9/2011

 
Ein doppeltes Plädoyer für eine neue, mutige Europapolitik: Peer Steinbrück diskutierte im  Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Ihre Begegnung geriet zu einer Sternstunde des historisch-politischen Diskurses.

Offiziell stellte Winkler sein neues  Buch zur Geschichte des Westens vor. Tatsächlich wurde daraus eine Manifestation für einen Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten. "Der alte Westen steht am Scheideweg," stellte Steinbrück fest: zwischen Renationalisierung oder "vorausschreitender Integration" Europas.

Winklers auf drei Bände angelegtes Werk über die Geschichte des Westens kreist um das  "normative Projekt" einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, ausgestattet mit unveräußerlichen Rechten. So, wie es  1776 in der Unabhängigkeitserklärung der USA erstmals zum staatlichen Programm erhoben wurde, im "neuen Westen". Drei Jahre später war der "alte Westen" infiziert. Die Erklärung allgemeiner Menschenrechte leitete nicht nur die Französische Revolution ein, sondern auch die allmähliche und windungsreiche Verwandlung großer Teile Europas.

Der jetzt vorgestellte Band 2 des Werkes - "Die Zeit der Weltkriege. 1914-1945" - handelt von schweren Rückschlägen bei der Verwirklichung des Projekts. Winkler geht der Frage nach, weshalb ausgerechnet in einem wohlhabenden, sozialen, bildungsreichen Staat im Herzen Europas ein Gegenprojekt seine Vernichtungskraft entfalten konnte, kreisend nicht um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit , sondern um "Ordnung, Zucht, Innerlichkeit." Steinbrück ergänzte das um "Reichsmythos, Führerkult, der neue Mensch".

Letztlich hat sich der Westen über Faschismus und Nationalsozialismus erhoben. 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch Beschluss  der Vereinten Nationen zum weltpolitischen Programm.  Winkler ist zuversichtlich, dass  die "subversive Kraft des normativen Projektes" seither nicht nachgelassen habe - siehe China - , auch wenn es in den USA derzeit schwächele. Europa habe die Chance, das Projekt neu zu  befeuern. Dazu sei es allerdings notwendig, "die Diskussion um die Finalität des Einigungsprozesses wieder aufzunehmen."

An dieser Stelle gab es spontanen, kräftigen Applaus. Steinbrück zeigte sich verblüfft und fragte ins Publikum, ob es sicher sei, was eine Änderung der europäischen Verträge bedeute: "Deutschland muss Souveränitätsrechte abgeben." Dieses Publikum zumindest schien damit einverstanden zu sein.

Zuvor hatte Steinbrück warnend darauf hingewiesen, dass eine pro-europäische Politik "ressentimenthafte Reflexe" auslöse, die zu Sprüchen führe wie: "Die Akropolis nehmen wir nicht, weil sie kaputt ist."

Als Politiker habe er erlebt, dass Aufforderungen wie "Strengen Sie sich an!" selten belohnt werden. Wer hingegen verspreche: "Wir entlasten Sie von allen Steuern", dem strahlten "erotisch-verklärte Gesichter" entgegen. Steinbrück erinnerte auch daran, dass der letzte Versuch, Europa eine Verfassung zu geben, an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist.

Winkler veranlasste das zu einem Exkurs über die Vorzüge einer parlamentarischen Demokratie. Er erinnerte daran, dass der SPD-Vorstand beschlossen habe, Referenden auf Bundesebene einführen zu wollen, auf der Grundlage niedriger Quoren. Er warne davor und hoffe, dass daraus nichts werde. Steinbrück trocken: "Ich gehöre dem Parteivorstand nicht mehr an."

Fast 300 Bürger hatten je zwölf Euro gezahlt, um mitzuerleben, wie ein Großer der historischen Wissenschaft auf eine (vorerst Ex-)Größe der deutschen Politik traf.

Das konzentriert lauschende Publikum erlebte, was eher selten vorkommt, eine Begegnung zwischen Wissenschaft und Politik auf Augenhöhe  - ohne dass der Wissenschaftler sich in die Niederungen des politischen Jargons begeben musste.

Dort fühlt Steinbrück sich ohnehin nicht wohl, wie er immer wieder gern zu erkennen gibt. Auch diesmal konnte er sich einer Spitze gegen den einfühlsamen Moderator des Gesprächs, Klaus Wiegrefe vom Spiegel, nicht enthalten.

"Das ist eine typische Journalistenfrage," blaffte Steinbrück zurück, als Wiegrefe zum Abschluss wissen wollte, wie es in zehn Jahren um das normative Projekt des Westens bestellt sein werde. Eine Antwort lieferte er dann aber doch: "Es liegt an uns selber!"

Im Zweifel für die Freiheit? - Über Liberalismus und Sozialdemokratie

7/7/2011

 
Jorgo Chatzimarkakis ist ein Sozialdemokrat. Er weiß es nur nicht. Immerhin hat er seine Idee davon, wie sich die FDP wieder in eine Partei verwandeln könnte, die dem ursprünglichen Auftrag des politischen Liberalismus gerecht würde, in einer sozialdemokratischen Zeitschrift vorgestellt! Im Schutze eines Appells allerdings, den Ralf Dahrendorf 1960 an die SPD gerichtet hat: sie möge zu einer modernen liberalen Partei werden. Und im Schutze der Aufforderung, die SPD möge sich erinnern, „dass die einzige funktionierende Wirtschaftsform die soziale Marktwirtschaft ist“.

 

Als wäre es nötig, die SPD daran zu erinnern! Hat sie etwa die Einführung staatlicher Fünfjahrespläne in ihr Hamburger Programm geschrieben? Hat sie, was durchaus naheläge, die Vergesellschaftung des Bankenwesens gefordert? Haben die Banken doch, deren  Geschäft es sein sollte, Werte zu bewahren und zu mehren und durch einen geregelten Geldfluss Anderen Geschäfte zu ermöglichen, mit ihnen anvertrautem Vermögen spekuliert, Gewinne zu Boni gemacht und Verluste sozialisieren lassen. Wem an einer sozialen Marktwirtschaft gelegen ist, muss sich angesichts solch massiven Systemversagens fragen, ob der Geldmarkt nicht neue Regeln, neue Aufseher und eventuell auch neue Akteure braucht.

 

Ähnlichen privatwirtschaftlichen Exzessen von Gier, Egoismus und Anstandslosigkeit, wie sie sich in ungeregelten Märkten nun einmal ausbreiten wie Kolibakterien in einem geschwächten Darm, sahen sich auch die frühen Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert gegenüber. Forderungen nach Vergesellschaftung von Industrien, die Sehnsucht nach einem Staat, der mit starker, ordnender Hand in einen Markt eingreift, in dem sonst nur ein Gesetz gälte, nämlich das des Stärkeren, fanden ihren Weg in die ersten Programme der Sozialdemokratie nicht, weil Sozialdemokraten von einer durchbürokratisierten Welt träumten, sondern ganz im Gegenteil, weil es ihnen um Freiheit ging. Um Freiheit von Ausbeutung, Willkür, Tyrannei, wie sie in frühkapitalistischen Betrieben weniger die Ausnahme als die Regel waren.

 

„Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ stand auf den Fahnen der ersten Sozialdemokraten. Im Gothaer Programm wurde daraus „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“. In dieser Reihenfolge. Käme heute jemand auf die Idee, ein SPD-Parteiprogramm ähnlich knapp und allgemein verständlich zu formulieren wie das ehedem üblich war, oder es gar auf drei zentrale Begriffe zu kondensieren, wären es immer noch dieselben: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

 

Es ist kein Zufall, dass diese drei Begriffe an den Kampfruf der Französischen Revolution nach „Liberté, Egalité, Fraternité“ erinnern. Die Französische Revolution ist in die Geschichtsbücher eingegangen als bürgerliche Revolution. Das müsste heutigen Kathederliberalen zu denken geben. Die Forderung nach Egalité ist ein bürgerlicher Kampfruf gewesen? Natürlich, denn denen, die das Ancien Régime beseitigen wollten, ging es um die Durchsetzung der Idee der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte. Sie waren Schüler und Handlanger der Aufklärung. Ihnen waren auch der König Bürger: Bürger Capet.

 

Aufgeklärte Christen würden an dieser Stelle in einer Fußnote darauf hinweisen, dass vor dem Einen Gott alle Menschen gleich sind. Die Aufklärung sei also der Versuch, christlich zu denken und zu handeln, ohne dafür Gott in Anspruch zu nehmen. Die bürgerlichen Revolutionäre hatten Probleme, sich diese Sichtweise zu eigen zu machen. Sie sahen, dass die Idee von der Allgemeinheit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte nicht zu vereinbaren war mit einem Gesellschaftssystem, das Menschen nach Geburt, Kleidung, Stand sortierte. Da die Kirche zu den zentralen Stützen dieses Systems zählte, hatte sie genauso zu weichen wie Monarchen, Adel und Standesorganisationen.

 

Damals waren Liberale Revolutionäre. Oder andersherum: die Anti-Monarchisten und Anti-Klerikalen hätten kein Problem damit gehabt, wenn man sie als Liberale bezeichnet hätte. In der FDP freilich fänden sie sich nicht zurecht.

 

Die bürgerlichen liberalen Revolutionäre des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wussten, dass Freiheit nur im Gleichklang mit Gerechtigkeit – mit organisierter und staatlich durchgesetzter Gleichheit – zu bekommen war. Die Feinde der Freiheit sind selten die Ohnmächtigen, die Feinde der Freiheit sind immer die Allzumächtigen. Sie neigen dazu, sich Freiheiten auf Kosten anderer, Schwächerer zu nehmen. Man kann ihnen das nicht einmal persönlich übel nehmen. Erstens ist auch ein solches Verhalten menschlich und "naturgemäß", zweitens würden sie unter Ihresgleichen verlacht, würden sie sich anders verhalten.

 

Zur Zeit der Französischen Revolution waren die Mächtigen und Allzumächtigen Feudalherren und Kirchenfürsten. Erst im Keim erkennbar war, dass eine neue Gruppe gesellschaftlich Übermächtiger im Begriff war heranzuwachsen: Industrielle, Unternehmer und ihre bezahlten Handlanger. Menschen, die über große Mengen Kapitals geboten und so zugleich über die Schicksale anderer Menschen.

 

Für den Ausgebeuteten, Geknechteten, Rechtlosen macht es keinen Unterschied, ob der, der ihn knechtet, einen Talar, eine Krone trägt oder einen schlichten Überrock (aus feinem Garn).

 

Das ist den liberalen Revolutionären bald deutlich geworden. Die frühen Sozialdemokraten verstanden sich denn auch in aller Regel als Liberale. Nicht wenige traten liberalen Parteien bei. Das lag nahe. Wenn jeder ein Bürger und jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist, gilt das doch auch für Arbeiter, für Mägde und Knechte, für Sklaven. Die frühen Sozialdemokraten dachten gar nicht daran, eine Partei zu gründen. Sie verstanden sich als Angehörige einer Emanzipationsbewegung. Sie wollten Proletarier zu Bürgern machen. Zu „citoyens“ im Sinne der Aufklärung und der Französischen Revolution.

 

Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden Industrialisierung bekam das Wort Bürger einen neuen, einen schlechteren Klang. Die Franzosen hatten es leichter. Sie unterscheiden zwischen citoyen und bourgeois. Im Deutschen muss der Begriff Bürger für beides herhalten. Vielleicht liegt hier die Ursache für Jorgo Chatzimarkakis´ Konfusion.

 

Der politische Liberalismus, um es kurz zu machen, verriet angesichts reich gefüllter Brotkörbe seine Ideale. Er tat es ziemlich bald und gründlich. Nur gelegentlich, nach schlechten Träumen oder wenn liberale Bußprediger wie Ralf Dahrendorf oder Werner Mayhofer die Parteitagsbühne betreten, erinnert er sich dunkel und beschwört die Erinnerung an eine Zeit, in der der Liberalismus „ganzheitlich“ gewesen ist, „weder marktvergessen noch marktversessen“ (Claus Dierksmeier).

 

Dafür kann es auf Parteitagen, vor allem in Krisenzeiten, also wenn Wähler weglaufen und die Führung kopflos ist, rauschenden Applaus geben. Ernstgemeint ist er natürlich nicht -. Wie man leicht daran erkennen kann, wie die FPD mit ihren Freiburger Thesen, mit Werner Mayhofer und anderen umgegangen ist. Und wie sie mit Jorgo Chatzimarkakis umgehen wird, wenn er ernst meint, was er in der Berliner Republik geschrieben hat. Eine FDP, die nicht weiß, ob sie rötlich ergrünen oder besser bräunlich werden soll. Weil sie keine Wertefundamente mehr hat, seit langem nicht, keine ethischen Leitplanken, die ihr in windigen Zeiten Halt geben könnten.

 

Die FDP ist eben nicht die Lordsiegelbewahrerin der bürgerlichen Revolution, sie ist vielmehr die direkte Nachfahrin jenes deutschen politischen Liberalismus, der sich im 19. Jahrhundert mit dem preußischen Adel im Interesse der Schaffung einer neuen Gesellschaft zusammentat, in der Besitzbürger an der Tafel des Königs Platz nehmen durften. Kaiser Wilhelm hat sich in der Krupp´schen Villa Hügel immer wohl gefühlt. Der neue, „bürgerliche“ – bourgeoise – Adel ahmte den alten nicht nur in Lebensführung und Baugewohnheiten nach, sondern auch in dessen Verachtung für die da unten.

 

In diesem historischen Moment verwandelte sich der politische Liberalismus von einer Agentur zur Durchsetzung der universalen Geltung der Menschenrechte - universal heißt: sie gelten auch innerhalb von Fabrikmauern – zu einer Klientelpartei. Als die Anwälte der Emanzipation des Proletariats das erkannten, begannen sie, sich von den liberalen Parteien abzuwenden und eigene zu gründen. Daraus entstand die Sozialdemokratie. Seither ist sie die einzige Partei, die ihrem Wesen und Selbstverständnis nach keine Klientelpartei ist, sein kann und darf.

 

Auf der Titelseite der Null-Nummer des ersten „Vorwärts“, erschienen 1876: "...unser Kampf (gilt) nicht den Sonderinteressen einzelner Personen oder einzelner Klassen, sondern der Erlösung der Menschheit..."

 

Nicht die Anwälte der Emanzipation auch des Proletariats wandten sich von den Ideen des Liberalismus ab – denen blieben sie treu, wie ihr Kampfruf „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ weithin und lautstark deutlich machte –, ihre Ideen verraten hatten die, die sich weiterhin „Liberale“ nannten. Sie vertraten fortan die Interessen ihrer Klientel, des Besitzbürgertums, zunächst gegen den immer noch tonangebenden Adel, heute gegenüber einem demokratischen Staat, der den Anspruch erhebt, neutraler Sachwalter der Interessen Aller zu sein.

 

Privilegien, das erkennt jeder Privilegierte rasch, sind umso wertvoller, je geringer die Zahl der Mitprivilegierten ist. Wer Privilegien wahren will, zum Beispiel das Privileg, seine Kinder auf eine bessere Schule zu schicken als Migrantenfamilien und Hartz IV-Empfänger, tut sich schwer damit, Anhänger einer emanzipatorischen Bewegung zu sein. Das quält diejenigen in der FDP, die gerne besser wären, als ihre Partei es ihnen zu sein erlaubt.

 

Ja, wenn die FDP wäre, wie Jorgo Chatzimarkakis sie sich erträumt, wenn es ihr wirklich darum ginge, im Sinne Dahrendorfs „den Menschen Türen zu öffnen“, allen Menschen wohlgemerkt, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Armut, ihrer Beziehungen und der PS-Zahl ihres Autos, dann könnte sie ein ernsthafter Partner sein, wenn es darum geht, das erneute Auseinanderfallen der Gesellschaft in Superreiche und deshalb Privilegierte auf der einen Seite, zum gesellschaftlichen Ab- oder Nichtaufstieg Verurteilte auf der anderen Seite zu verhindern. Dann könnte sie, wenn es wieder in Mode käme, Fahnen zu schwenken, „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ darauf schreiben. Oder gar „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Aber dann wäre sie ja eine sozialdemokratische Partei.

Die Berliner Republik, Juli 2011


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