Uwe Knüpfer
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Vom Leben in der Mitte

18/7/2013

 
Mit „Mitte“ darf man dem Berliner nicht kommen. Erstens ist da, wo der Berliner ist, sowieso die Mitte. Weshalb die ganze Aufregung um den neuen „Flughafen“ Berliner im Grunde kalt lässt: wer braucht schon ein Flugzeug, um von Wilmersdorf zum Wannsee zu kommen?
Zweitens hat Berlin angeblich selbst eine Mitte. Jedenfalls behaupten das Touristen und die, die dort wohnen. Also Schwaben und Kreative. Menschen, die nicht wissen, dass man Brötchen „Schrippen“ nennt.

Die Mitte ist jener Ortsteil Berlins, den echte Berliner prinzipiell nicht betreten. Erstens (siehe oben), weil dort, wo sie leben - also in Schöneberg, Lichterfelde oder Neukölln - sowieso die wahre Mitte ist.

Zweitens, weil in der Gegend zwischen dem Brandenburger Tor, dem Potsdamer, dem Rosenthaler und dem Alexanderplatz Berliner Subventionsempfänger weder leben können noch wollen. Alles viel zu teuer. Currywurstfritten vierfuffzig: Nee, det gloobste nich! Und dann die vielen Schwaben und Politiker und Touristen! Alles fremdbesetzt. Wie die reden! Englisch, Spanisch, Transnistrisch - jedenfalls weder Türkisch noch Deutsch, wie es sich gehörte. Da fühlste Dir fremd.

Dabei ist der Berliner insgeheim natürlich schon ein bisschen stolz, dass seine Stadt jetzt so ungeheuer angesagt ist, bei Schwaben aus der ganzen Welt.

Junge Amis haben Stars und Stripes in den Augen, wenn sie von Berlin erzählen. Wo man für 4,50 Euro satt wird. Wo man beim Flanieren ungestraft ein Wegbier süppeln kann. Das Schönste, jedenfalls für kreative junge Amis mit betuchten Eltern: für den Preis eines fensterlosen New Yorker Wohnklos sind in Berlin ganze Häuser zu mieten! Und überall wird Englisch getalkt. Also jedenfalls in Mitte.

Berlin ist „open“ rund um die Uhr. Ständig und überall fahren Bahnen und Busse. Für peanuts, man! Cafés, die auf sich halten, bieten Breakfast auch weit nach 16 Uhr noch an. Irgendwelche Geschäfte sind immer geöffnet. Uhren und Gedächtnisse werden überflüssig. Welchen Tag wir haben? Wie spät es ist? Egal. Wer will das wissen? Jung und kreativ, alt und dement: so kommt man sich näher. Alles fließt, da, wo die Mitte ist.

Schöne Grüße
(Brief aus Berlin, für ID55/Juli 2013)

Amerika privat/Brief aus Washington zu: es schneit

8/1/1996

 
Es schneit. So kann man es sehen. Oder auch so: "Einer der schrecklichsten Schneestürme der letzten 70 Jahre tobt über dem Nordosten der USA. Washington versinkt im Schnee." So sehen es Amerikaner. Und es ergibt, definitiv, die besseren Schlagzeilen rund um den Globus.

Amerikaner sind die besten Verkäufer der Welt. Sie verkaufen, was ihnen in die Finger gerät. Jetzt ist es Schnee.

Die nüchternen Daten: Es schneit seit der Nacht auf Sonntag. Vor dem Fenster des Korrespondenten sind seither rund sechzig Zentimenter wunderbar lockeren Pulverschnees gefallen. Es ist minus sechs Grad Celsius kalt und wunderbar still.

Aber was besagt das schon? Was macht das her? Wie wär`s damit: Alle Schulen, Universitäten, alle Behörden sind geschlossen. Besorgt blickende Gouverneure rufen den Notstand aus. Auf den Flughäfen zwischen Boston und Washington bewegen sich nur noch Schneeräummobile. Die Nationalgarde steht in Bereitschaft.

Nachrichtensprecher empfehlen, hellwach und tiefernst: "Bleiben Sie, wo Sie sind!" Auf der achtspurigen Ringautobahn rund um die US-Hauptstadt sind Autos so selten geworden wie Nacktbader im Januar auf Sylt. Wie wirklich ernst die Situation ist, zeigt dies: Selbst manche Supermärkte waren am Sonntag geschlossen.

Sie hätten ohnehin nicht viel zu verkaufen gehabt. Die Regale waren Samstagabend schon geplündert. Den ganzen Tag über hatten Radiostationen vor dem Heranziehen eines "wirklich schweren Schneesturms" gewarnt, und alerte Hörer zogen Konsequenzen: Sie hamsterten - Lebensmittel, Bier, Feuerholz, Kerzen, Videos; alles, was man so zum überleben braucht. Videos vor allem. Der Sturm konnte kommen.

In amerikanischen Adern fließt das Blut von Pionieren. Leider bietet der moderne Alltag wenig Chancen, Pioniergeist zu beweisen. Wie gut, daß es das Wetter gibt. Am Sonntag fuhr so manches uns unbekannte Auto durch unsere Straße. Was deshalb bemerkenswert ist, weil es sich um eine Sackgasse handelt und Räumfahrzeuge sich nicht blicken ließen. Die Autos waren allradgetriebene Geländewagen. Nichts am Automarkt hat sich in den letzten Jahren so gut verkauft wie allradgetriebene Geländewagen. Seht alle her, riefen uns deren stolze Besitzer nun zu; wortlos, schlichtweg fahrend: Wir waren gescheit!

Dutzende von Vierradfahrern meldeten sich bei den örtlichen Krankenhäusern - auch das ist Amerika -, um ihre Hilfe anzubieten: Die Hospitäler suchten verzweifelt nach Fahrzeugen und Fahrern, eingeschneite érzte und Patienten zu transportieren oder Medikamente auszuliefern.  In Zeiten der Not rücken Pioniere zusammen, bauen eine Wagenburg.

Wetterexperten raten Eltern dringend, ihre Kinder im Haus zu behalten: Die Kälte sei gefährlich. In unserer Nachbarschaft ist nicht zu beobachten, daß dieser Aufruf erhört worden wäre. Auch amerikanische Kids lieben die Herausforderung. Und wozu hat man Schlitten.

Die Prachtstraße Pennsylvania Avenue - sie verbindet Kapitol und Weißes Haus - gehörte bis Montagfrüh Menschen auf Langlaufskiern. Sie genossen die Katastrophe sichtlich. Auch die Familie Clinton schien es zu genießen, von der Kirche zum Weißen Haus zurück zu Fuß stapfen zu können, in dicke Wintermäntel gehüllt. Bei Normalwetter wäre das unmöglich und der Secret Service davor.

Zu einer wahren Katastrophe gehören, naturgemäß, Tote. Hätte im Sommer nicht ein cleverer Leichenbeschauer in Chicago jeden Verstorbenen der Großstadt flugs zum "Hitzetoten" erklärt, wäre der Welt womöglich die Meldung von der "Killerhitze" entgangen, die den Norden der USA überzog, damals.

In Chicago können sie über sechzig Zentimeter Schnee nur lachen. Schneestürme und eisige Kälte gehören dort zum Alltag. Doch im winterlich lauwarmen, sommerlich treibhaushaft schwülen Washington minichten. Dort gehört die Angst vorm Schnee zum Alltag. Die Schulen schließen hier schon, wenn nur drei Flocken fallen. Wer von überlebbaren Katastrophen nicht verwöhnt ist, genießt sie, wie sie kommen.

Die schlechte Nachricht ist: Montagmittag hörte es auf zu schneien, ja: Blauer Himmel, Sonnenschein waren vorhergesagt. Die gute Nachricht: Der nächste Schnee soll schon am Wochenende nahen. Und der Korrespondent ist zwar kein Kap Hoorner, kann aber seinen Enkeln und Lesern erzählen: Ich habe den "Blizzard of '96" überlebt.

Revolution im Namensrecht

9/6/1992

 
Wie finden Sie den Namen Müller-Lüdenscheid? Zum Schmunzeln? Oder Cervinski-Querenburg. Oder Lamar-Schadler. Oder wie heißt unsere neue Justizministerin?
Sie als Leser haben, vielleicht und warum auch immer, Ihren Spaß an Doppelnamen. Aber was machen Tageszeitungs-Redakteure? Wer weiß, vielleicht bleibt manch politisches Talent nur deshalb der Öffentlichkeit verborgen, weil sein Doppelname partout nicht in die Schlagzeile paßt. Möglicherweise liegt hier sogar der heimliche Grund, daß die meisten Potentaten nach wie vor Männer sind. Die Doppelnamen tragen meistens die Frauen. Alle Kanzler von Brandt bis Kohl: einsilbig. Kann das ein Zufall sein?
Doch Rettung naht.
Woher? Natürlich aus Amerika. Dem Land der praktischen Ideen. Hier ist schon lange Gang und gäbe, was sich in Deutschland gerade erst Bahn bricht: Eheleute haben die freie Auswahl. Sie können sich auf seinen oder ihren Namen einigen, beide Namen in beliebiger Reihenfolge koppeln oder jeweils ihren Namen behalten. Doch erst jetzt kommt in den USA eine wahrhaft revolutionäre Neuerung auf.
In New York haben sich zwei junge Menschen namens Valerie Silverman und Michael Flaherty verehelicht. Und wie heißen sie jetzt?
Flaherman.
Aus zwei mach eins. Daß darauf noch niemand gekommen ist! Ist das nicht der tiefe Sinn der Ehe? Schluß mit dem Streit, wer seinen geliebten Namen aufgeben muß. Schluß mit den Doppelnamen-Verschlingungen. Gerechter geht es nicht. Jeder verzichtet auf einen Teil seines alten Namens, jeder erkennt sich im neuen Namen wieder.
Aus Müller-Lüdenscheid wird Müllscheid, aus Lamar-Schadler Ladler. Cervinski-Querenburg: Querinski.
Nur wenn zwei Menschen namens Müller und Meier heiraten, bleibt die Sache schwierig. Es sei denn, sie einigen sich auf Meiler.
Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, die Idee aus New York auch in Deutschland aufzugreifen. Bevor das neue Namensrecht geschrieben ist. Schön wäre das. In den Schlagzeilen wäre wieder Platz für Wichtiges.
Und unsere Justizministerin - verflixt, wie heißt sie gleich? - sie könnte Kanzlerin werden.

Junge Leute: Stehen da und stellen Ansprüche

1/1/1990

 
Stehen da und stellen Ansprüche von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 22. Juni 1984  08:00 Uhr  Unter der Überschrift „Zur Strafe auf die Uni“ sang die junge Studentin Claudia Duchene das Klagelied der unfreiwilligen Studenten, die die Hörsäle bevölkern und doch viel lieber etwas ganz anderes lernen würden (ZEIT Nr. 25). Der Vorspann zu diesem Beitrag ließ Distanz, ja Ironie erkennen („ja, sie sind übel dran, die jungen Menschen ...“). Er hat diese Antwort provoziert.

Die Jungen verstehen die Alten nicht, und den Alten fehlt das Verständnis für die Jungen. Das ist nichts Neues. Seitdem das verkrampfte „Gespräch mit der Jugend“ abgelöst wurde durch Helmut Kohls lockeres Lächeln mit der Jugend (von den CDU-Plakaten herab zu uns Wählern), darf man sich endlich wieder so richtig herrlich nichtverstehen. Die gezwungene Suche nach Gründen, das Vorgeben und Erheischen von „Verständnis“, das alles braucht nicht mehr zu sein. Seitdem keine Steine mehr fliegen, können und dürfen auch die Alten Vorurteile und tiefsitzendes Unverständnis wieder pflegen und – äußern. Die Jungen haben von dieser lieben Gewohnheit ohnehin niemals gelassen. Das „Gespräch mit der Jugend“, ja das war in aller Munde. Aber wer von den Jungen wollte das „Gespräch mit dem Alter“?

Wo also eine junge Studentin heute über Perspektivlosigkeit klagt, von der vermeintlich schönen, ihr aber verschlossenen Welt des Handwerks träumt, da darf ein gestandener Mann mit Lebenserfahrung (und sei es ein Redakteur) sich auch wieder öffentlich belustigen über diesen ihren Mangel an Optimismus, an Initiative, an Kampfgeist. Zur Freude seines Publikums, des älteren also: Wie jämmerlich wirkt doch eine Jugend, die jammert!

Sicher, junge Menschen haben es heute schwer: Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Verlust des Fortschrittsglaubens. Aber junge Menschen hatten es doch immer schwer. Und wer will, wer wirklich will, der beißt sich durch. Der biß sich immer durch. Wenn ich keine Lehrstelle finde, wie ich sie mir wünsche, mit Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz und so weiter, dann suche ich mir halt einen Job, und sei es als Büglerin, und mache das Beste draus. Wo Gedränge herrscht, da gilt es, Nischen zu entdecken. Etwa im Dienstleistungsbereich, wo Möglichkeiten schlummern, an die lange niemand laut zu denken wagte. Es geht bei uns ja – Gott sei Dank! – nicht allen schlecht.

Vielen geht es sehr gut. Und endlich dürfen sie das auch wieder zeigen. In einem Magazin für Feinschmecker beklagte sich ein Journalist kürzlich darüber, daß Mann auf Reisen niemanden finde, der ihm seine Hemden bügelt. Ganz anders in Amerika. Dort stürzen sich die Menschen willig auf jede Art von Arbeit, für die man bezahlt. Auch wenn sie vorher studiert haben oder sonstwas waren. Keine Spur von Dünkel.

Alles Gute kommt von drüben wieder. Mag sein, die erzieherische Kraft der Rezession beschert auch uns erneut Stubenmädchen und Brötchenjungen, willige Büglerinnen wie dankbare Schuhputzer. Die Jugend muß nur wollen!

Aber noch will sie nicht, noch bestätigen Ausnahmen nur die traurige Regel. Statt dessen beklagt sie sich, weil sie die strahlende und sorgenfreie Welt der Werbung, in der sie großgeworden, nach der Schule in der Wirklichkeit nicht wiederfindet.

Großgeworden sind die heute 20jährigen bekanntlich mit einer Pädagogik, die zu glauben lehrte, Konkurrenz sei böse, Solidarität gut. Und wo immer sie hinkamen, war die Welt schon fertig. Es wurde ihnen beigebracht, daß Ansprüche stellen muß, wer etwas bekommen will. Daß man sich, so man sucht, nach Wegweisern zu richten hat.

Ein Schüler der Sekundarstufe II lernte doch nicht, einfach nur so gut zu sein, auf irgendeinem als interessant empfundenen Gebiet. Daß es ebenso nützlich wie schön sein kann, aus einem vorgeebenen System auszubrechen, auf eigene Faust, Eigenes zu suchen, dieser ihm vielleicht schon von der Natur mitgegebene Gedanke wurde einem solchen Schüler doch mit zäher pädagogischer Geduld und gründlich ausgetrieben. Punkte zu sammeln sei wichtig, lernte er, egal in welchem Fach. Ein durchtriebenes System der Leistungsbewertung zu durchschauen und auszutricksen, das lernte er. Sich später nahtlos einzufügen in das Volk der Antragsteller und der Steuerbetrüger.

Und jetzt steht er da, studiert irgend etwas, das ihn nie interessierte: Doch eben dieser Fachbereich stand ihm offen – und dumm wäre er gewesen, diese Chance etwa nicht zu nutzen. Und plötzlich sind all die schönen Kanäle verstopft.

Einen Job will er haben, einen gutbezahlten noch dazu, in einem Beruf, der ihm Spaß macht? Lächerlich. Träumt womöglich gar schon jetzt von einer sicheren Pension! Der „nahtlose Übergang vom Bafög zur Rente“, Sie wissen?

Der gestandene Ältere aber, der längst schon auf einem gutdotierten Arbeitsplatz sitzt, wie es seiner akademischen Ausbildung entspricht, klopft sich lachend auf die Schenkel. Etwas Schadenfreude ist dabei, durchaus. Endlich sind die Jungen mal düpiert und nicht die Alten. Stehen da und stellen Ansprüche an die Wohlstandsgesellschaft, die sie doch so verachtet haben.

Das Kapitel aus dem Roman vom Generationskonflikt hat ein Happy-End, vorerst. Kriegt doch im Grunde jeder das, was er so gerne wollte: die Alten eine Jugend, die aufschaut und strampelt, sich anstrengt und buckelt, die Jugend eine Aufgabe: zu vergessen, was sie lernte, und mit eigenen Händen ganz was Neues aufzubauen.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 22.6.1984 Nr. 26

Nahverkehr: Eiserne Schaffner

1/1/1990

 
Aktualisiert 17. August 1984  08:00 Uhr  Passé sind jene glücklichen Zeiten, da ein Reisender in fremden Städten nur die Tram zu besteigen, dem Schaffner sein Ziel zu nennen und den geforderten Betrag zu zahlen brauchte. In Bussen geht’s ja noch. Da sitzt, sichtbar und zugänglich, ein Fahrer, und mit dem sollte sich doch reden lassen. Auf S- und U-Bahnhöfen aber stehen große, eckige, nicht immer funktionsbereite Klötze aus Metall und Plastik: Fahrscheinautomaten.

Vielleicht, weil solche Geräte einem rascheren Generationenwechsel unterliegen als wir Menschen, steht der rückständige Reisende heute so oft staunend und hilflos vor dieser weit fortgeschrittenen Fahrkartenausgabetechnik der öffentlichen Nahverkehrsunternehmen.

Die Geräte der ersten Generation, Kurbelautomaten noch, gelten Experten heute als „wenig flexibel“ und gleichen so vielen Benutzern. In den siebziger Jahren wurden sie weithin ersetzt durch Apparate, die immerhin schon verschieden wertvolle Karten auszuspucken verstanden, aber noch kein Wechselgeld. Das war die zweite Automatengeneration. In großen Städten begegnen wir heute schon den Enkeln der Kurbelgeräte. An ihnen erlaubt eine Vielzahl von Drucktasten eine reiche Fahrkartenauswahl, ein eingebauter Nadeldrucker beschriftet Blankotickets, ganz nach Kundenwunsch, zuviel eingezahlte Geldbeträge werden wieder ausgespuckt.

Möglicherweise wird die vierte Generation, die etwa für Anfang der 90er Jahre zu erwarten wäre, dem alten Schaffner wieder ähnlicher: durchaus denkbar, daß die Geräte dann sprechen können. Einstweilen helfen dem Reisenden nur Tabellen, Karten und behördendeutsche Texte bei der Beantwortung von Fragen wie diesen: In welcher Tarifzone befinde ich mich, in welcher Wabe liegt mein Fahrziel, welche Verbundstufe gilt derzeit, und welche der bis zu 17 Preisstufen ist meiner Fahrstrecke wohl zuzuordnen?

Man merkt es sofort: Bei der Planung der Verkehrsverbünde waren deutsche Tüftler am Werk. Sie ersannen Systeme, Regeln und Ausnahmeregelungen, bei deren Studium die Berufsgrammatiker der Duden-Redaktion blaß werden können.

In Stuttgart etwa richtet sich der Fahrpreis „nach der Zahl der Zonen, die bei einer Fahrt berührt werden. Ausnahme: Werden auf einer Fahrt die Kernzone und mindestens zwei Zonen des Innenrings berührt, wird eine Zone des Innenrings nicht berechnet.“ In Hamburg ist das ganz anders. Aber wiederum auch nicht so wie in Köln oder München.

Die bayerische Metropole hat ganz was Besonderes zu bieten: den Straßenunterführungstarif. Was auch immer, jedenfalls ist er preiswert: 30 Pfennig.

Als preiswert gilt auch das Lösen von Sammel- oder Mehrfachkarten, weißen oder grünen, Zeitkarten oder Verbundpässen, gelben oder grünen, oder – Gipfel des Ganzen – der Frankfurter top-ticket-Wertmarke. Guten Gewissens ist der Kauf solcher Karten aber nur Zeitgenossen zu empfehlen, die sich nach Aneignung der Grundregeln des jeweiligen Tarifwesens nun zu einem tieferen Einstieg in die Welt der Waben und Zonen berufen fühlen.

Natürlich gibt es auch Rabatte. In Berlin für Touristen, in Hamburg für Familien, in Stuttgart für Kongreßteilnehmer und im Ruhrgebiet für Arbeitslose.

Experten, die sich einen Vergleich der im Grunde unvergleichlichen Tarifsysteme zutrauen, sagen: In München ist es am billigsten. Ganz sicher gilt das für Fahrten erster Klasse; die kosten dort nichts extra.

Münchner müssen umlernen, kommen sie doch einmal ins Rheinland oder nach Westfalen. Die Verkehrsverbünde dort verlangen ihren Kunden ein gerüttelt Maß an Demut ab: Sie fordern sie zur Selbstentwertung auf. Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 17.8.1984 Nr. 34

Nicht Vater, nur Erzeuger

1/1/1990

 
Der beschwerliche Weg durch die Bürokratie von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 31. August 1984  08:00 Uhr  Der Gesetzgeber hat es bewußt in Ihr eigenes Interesse gelegt, mit der Mutter Ihres Kindes verheiratet zu sein.“ Der Standesbeamte lehnt sich würdevoll zurück und schaut den stolzen, doch ledigen Vater auf der anderen Seite seines Schreibtisches beschwörend an. „Stellen Sie sich vor, Ihr Kind darf ja von Rechts wegen noch nicht einmal ‚Papa‘ zu Ihnen sagen! Vor dem Gesetz sind Sie nur sein Erzeuger.“

Der Ehrentitel Vater ist Ehemännern vorbehalten. Die Diskriminierung unehelich geborener Kinder wurde wirksam bekämpft, auch ledige Mütter stehen heute in vielerlei Hinsicht besser da als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ledige Väter hingegen sind nicht nur rechtlos gegenüber ihren Kindern, sie müssen sich, haben sie mit Ämtern zu tun, Diskriminierungen und Schikanen gefallen lassen.

Benjamin wurde zu Hause geboren. Die Hebamme bescheinigte die Geburt. Der Vater, der rechtlich keiner ist, ging zum Standesamt, um das freudige Ereignis der Behörde zu vermelden. Da sitzt er nun, diktiert den Namen der Mutter und gibt auch seinen eigenen an. „Benjamin“, fügt er hinzu, solle sein Sohn heißen. Der Beamte bedauet: „Das sagen Sie. Wir brauchen aber eine schriftliche Bestätigung der Mutter, daß sie diesen Namen will.“ Das leuchtet dem Vater ein.

Doch dann bekommt er die Geburtsurkunde, liest sie und wundert sich. Unter „Eltern“ steht dort nur der Name der Mutter, sodann: Punkt–Strich-Punkt. Noch immer frohgestimmt, erinnert er daran, daß er seinen Namen doch schon nannte „Ja, das ist auch wichtig. Wir müssen schließlich wissen, wer die Geburt gemeldet hat“, lautet die Antwort. Ob das denn ernstlich nötig sei, will der naive Vater wissen und bietet an, zur Bestätigung seiner Vaterschaft gern eine schriftliche Bestätigung der Mutter beizubringen.

Geduldig holt der Beamte aus, erläutert die Rechtslage: „Bei nicht ehelich geborenen Kindern tritt automatisch eine Amtspflegschaft ein. Das Jugendamt erhält von uns eine Nachricht und wird dann Ihre ... äh... Frau vorladen und nach Namen und Anschrift des Erzeugers fragen. Kann sie beides angeben, werden als nächstes Sie angeschrieben und ebenfalls vorgeladen. Man wird Sie dann fragen, ob Sie die Vaterschaft anerkennen. Wenn Sie ja sagen, erhalten wiederum wir vom Jugendamt darüber eine Mitteilung.“

Der Standesbeamte holt ein dickes Buch hervor, in dem die Gemeinde alle angezeigten Geburten chronologisch festhält. Er schlägt es auf: „Dort, an Rana neben dem Geburtsvermerk wird dann nachgetragen: Die Vaterschaft erkannte an der Soundso in Daunddort!“

Ob das nicht ein reichlich kompliziertes Verfahren sei, das sich in Fällen wie dem seinen gut abkürzen ließe, will der staunende Vater wissen. „Das Gesetz geht davon aus, daß bei nicht ehelich geborenen Kindern der Vater unbekannt ist.“

Soll das Kind getauft werden, zeigen sich die Kirchen flexibler als der Staat. „Das Kind kann ja nichts dafür, wenn seine Eltern in Unordnung leben“, sagt Domkapitular Max Huber aus dem schwarzen Passau.

Auch der protestantische Pastor, fragt: „Warum laßt ihr euch denn nicht konsequenterweise auch trauen?“ Die Frage sei „werbend“ gemeint, beteuert Albrecht von Mutius aus dem Evangelischen Büro in Düsseldorf. Er könne durchaus begreifen – nicht billigen –, daß viele junge Leute heute die Institution Ehe „als Fessel verstehen und nicht als eine Chance“.

Kompliziert wird es für Benjamins Eltern erst wieder bei der Lohnsteuerstelle im Einwohnermeldeamt. Sie möchten, daß Benjamin auf der Lohnsteuerkarte des Vaters eingetragen wird. „Sie sind ja nicht verheiratet!“ Der Schalterbeamte hat verdächtig lange den Bildschirm seiner elektronischen Einwohnerkartei studieren müssen. Was nun klingt wie ein Vorwurf, entspringt seiner Ratlosigkeit. Der Beamte entschuldigt sich, sucht seinen Vorgesetzten auf. Derweil wächst die Menschenschlange am Schalter.

Zurückgekehrt auf seinen Stuhl hinter der milchglasbewehrten Theke, verkündet er: „So geht das nicht. Sie müssen sich erst vom Jugendamt bestätigen lassen, daß Sie gemeinsam in einem Haushalt wohnen.“ Benjamins Mutter will das nicht einleuchten. „Wer“, fragt sie, „soll das denn wissen, wenn nicht das Einwohnermeldeamt?“ Kurzes Nachdenken seitens des Beamten, dann: „Wir kennen ja nur Straße und Hausnummer. Wie sollen wir denn wissen, ob Sie in derselben Wohnung leben?“ Einwand der Mutter: „Und woher soll das Jugendamt das wissen? Die Amtspflegschaft ist aufgehoben.“ Der Beamte ist ein freundlicher Mann, ein sehr junger übrigens dazu. „Ich telephoniere“, bietet er an, „und frag’ mal nach.“ Unmut in der Warteschlange.

Als der Beamte zurückkehrt, klärt sich der Fall nach Art der Bürger von Schilda: „Beim Jugendamt ist der Vorgang tatsächlich nicht vorhanden.“ Kunstpause. „Aber ich habe mit dem Kollegen gesprochen, er weiß jetzt Bescheid. Sie brauchen nur hinzugehen, erklären, daß Sie zusammen wohnen, und dann kommen Sie mit der Bescheinigung zurück.“ Benjamins Mutter würde gern noch fragen, warum sie eine solche Erklärung nicht an Ort und Stelle schon abgeben kann. Doch die Menge drängelt, und Benjamins Vater wiegelt ab. Er möchte das Erreichte nicht gefährden.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 31.8.1984 Nr. 36
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