Aktualisiert 22. Februar 1985 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Er ist barfuß in seinen Pantinen, der alte Mann, der da, mitten im tiefen Winter, seelenruhig am Leubach steht und mit uns plaudert; ohne Hast und ohne Socken. Der Bach fließt durch das Rhön-Städtchen Fladungen und trieb einst elf Mühlen an. Heute sind es immerhin noch zwei. Einen Bäcker gibt es nicht: Die Einwohner backen ihr Brot noch selbst.
In dem Bach, so berichtet der alte Mann, war auch schon mal Gift, das kam von „drüben“ und kostete gut 4000 Rhön-Forellen im Staubecken oberhalb von Fladungen vor der Zeit das Leben. „Von drüben“, das heißt natürlich: aus der DDR. Kurz hinter dem Ort hören alle Straßen auf, Wanderwege verlaufen sich im Wald, eine Schneise und ein Zaun markieren das Ende der westlichen Welt.
Wir sind in der Mitte Deutschlands, in der Bayerischen Rhön und fast in Thüringen, in einem Mittelgebirge, das für den Wintersport wie geschaffen scheint. Jedenfalls suggeriert dies jener höhnisch gemeinte Uralt-Sprucn, der der Rhön bescheinigt, hier gebe es neun Monate Winter und drei Monate Schnee. Kalt ist es in der Tat. Und Schnee findet sich auch: auf der Wasserkuppe, dem mit 950 Metern höchsten Gipfel (aber der liegt schon in Hessen), ebenso wie auf dem Kreuz- und dem Arnsberg, dem doppelten Mekka der Alpin-Skiläufer im bayerischen Teil des Gebirges.
Eigentlich ist es ja der fränkische Teil. Doch scheinen die Franken hier mit ihrer politischethnischen Zuordnung durchaus einverstanden. Die Touristik-Manager der Region versuchen gar aus dem „bayerisch“ Kapital zu schlagen. Mit der Rhön beginne „Deutschlands schönstes Urlaubsland“, werben sie.
Vorsichtshalber fahren wir nicht an einem Wochenende zum Kreuzberg, sondern an einem Donnerstag. Es schneit, und kurz hinter Bischofsheim geht es ohne Schneeketten nicht mehr weiter. In fast 900 Metern Höhe, auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz, erwarten uns klirrender Frost und eine unüberblickbare Menge Gleichgesinnter. Es herrscht Hochbetrieb. Die Sicht ist schlecht, die Schlange am Lift lang. Alles Muskelfleisch fühlt sich an wie zu Eis erstarrt, schon bevor uns einer der fünf Ankerlifte in die Höhe zieht, einer – mit Muße – Dreiminutenfahrt entgegen.
Dichtes Gedränge auch am anderen touristischen Wallfahrtsort hier auf dem „heiligen Berg der Franken“: in der Klosterschänke. Familien mit frierend-unzufriedenen Kindern warten ungeduldig, daß andere Familien, kurz zuvor noch in ähnlich peinlicher Lage, endlich ihren Tisch freimachen.
Das Herzstück dieses eigenartigen Gebirges, ist – Wasserkuppe hin, Kreuzberg her – zweifellos der langgezogene Gebirgsstock, der sich bei Bischofsheim beginnend bis in die DDR hinein nach Norden erstreckt: die Lange oder auch die Hohe Rhön genannt. Obenauf, immer höher als 800 Meter über dem Meeresspiegel, dehnen sich weite, moorreiche Hochflächen, nur leicht gewellt und spärlich bewaldet. Sporadisch öffnen sich weite Ausblicke über breite Täler auf andere sanftgebuckelte Höhen und wieder andere, die schemenhaft dahinter liegen.
Rauh sei dieses Land, wußten frierende Durchreisende seit alters her zu berichten. Dazu ist es karg und steinig. Die Bauern, die hier lebten, waren immer arm. Das wissend, wirkt der seltsame Liebreiz der Landschaftsformen geradezu deplaziert. Gelassen schlängeln sich unregulierte Bäche und Flüßchen durch Täler, in denen es Sägewerke gibt, beinahe mehr als Kirchen, aber keine Industrie. Je ärmer das Dorf, desto weniger Fachwerkfassaden wurden. in den Wirtschaftswunderjahren unter bonbonfarbenem Rauhputz versteckt. Aus der Not heraus haben sich die Städtchen ihr mittelalterliches Ortsbild bewahrt. Das beginnt sich nun als Segen zu erweisen.
Doch zurück zur Landschaft. Von Liebreiz war die Rede, Schroffes ist ihr fremd. Und so entbehrt sie auch Steil- und Buckelpisten. Menschenarm, naturbelassen, wie die Rhön daliegt, niederschlagsreich und kalt, ist sie im Winter so recht ein Ziel für Menschen, die anderes wollen als bibbernd Schlange zu stehen und um andere Skiläufer wie um Slalomstangen herum ins nahe Tal zu wedeln. 20 Langlauf-Loipen mit einer Gesamtlänge von rund 160 Kilometern werden regelmäßig gespurt.
Tage später, an einem der Parkplätze entlang der „Hochrhönstraße“, der fränkischen „Route des Crêtes“, steigen wir in die Rundloipe „Moorschlinge“ ein. Weit voraus lösen sich die Umrisse eines Schnelleren hinter einem Schleier aus Schnee allmählich auf. Nur ein paar vom Frost in bizarre Kristallskelette verwandelte Sträucher und Bäume geben dem Auge Halt. Die Illusion sibirischer Weite und Einsamkeit ist perfekt. Zu hören ist nichts als ein leises Pfeifen. Es ist der Wind. Er jagt über das Hochplateau, läßt dort unsere Spur unter einer Düne von Schnee rasch wieder verschwinden.
Als wir gestartet waren, hatten wir ihn kaum bemerkt: den Kiosk am Parkplatz. Jetzt, nach einer knappen Stunde Rundkurs, riechen wir ihn schon, bevor wir die Rauchschwaden sehen, die von dort den Duft „bester thüringischer Bratwürste“ vom Grill herübertragen. Rund um das Holzhäuschen stehen kleine Gruppen fröhlich schwatzender Menschen, die alle in der vom Handschuh befreiten Faust ein knackiges Brötchen halten. Darin eingeklemmt ist die längliche dunkelbraune Wurst, die, wie der erste Bin beweist, nicht das geringste gemein hat mit ihren industriell gefertigten Namensvettern, die uns in den Imbißbuden der Großstädte so ärgern können. Die gute Stimmung der Mampfenden, das merken wir schnell, hängt freilich auch zusammen mit dem warmen Apfelwein, den es ebenfalls für wenig Geld zu kaufen gibt.
Daß hier thüringische Würstchen feilgeboten werden statt solcher Nürnberger oder Coburger Art, ist keine Reminiszenz an die Bewohner jenseits der übernächsten Berge. Wer in die Rhön fährt, kann seinen Urlaub tatsächlich in Thüringen verbringen, ganz ohne Visum. Die sächsischen Grafen von Henneberg nämlich teilten sich zu Feudalzeiten die Rhön mit den Bischöfen von Würzburg und Fulda. An die Stelle der Grafen trat 1741 das Haus Sachsen-Weimar, weshalb auch der bekannte Herr von Goethe einige Tage in Ostheim weilte: Gleich zweimal, 1780 und 1782, hatte er dort Verwaltungsdinge zu regeln.
Ostheim und einige das Städtchen umgebende Weiler bilden heute eine thüringische Enklave im Bayerischen. Hier werden statt Knödeln Klöße gegessen, dazu trinkt man keine Maß, sondern „Bierchen“. Hier wird auf lutherische Weise Gott gedient, und selbst mancher Zwiebelturm hat noch eine lange, schlanke Spitze obenauf.
Und so klärt sich auch, was dem Nachkriegs-Westdeutschen an den Namen mancher Rhön-Städtchen so geheimnisvoll in die Irre führend dünkt. Ostheim, Nordheim, Sondheim firmieren auf Straßenkarten und Ortsschildern allesamt als „vor der Rhön“ gelegen – wo sie doch, wenn nicht mittendrin, so doch augenfällig dahinter liegen. Im Osten nämlich.
Bei einsetzender Dämmerung folgen wir dem zugeschneiten Weg von der Sennhütte hinab nach Fladungen. Zwei Spurrillen, die ein anderer Langläufer schon vor uns durch den Neuschnee zog, bieten Halt und Orientierung. Wie hineingeworfen in das Tal unter uns liegen Nordheim rechts, Fladungen links, Heufurt dazwischen. Die Sonne inszeniert noch immer ihr dramatisches Wolkentheater, als wir die ersten Häuser erreichen. Ein Landwirt auf seinem Traktor, dem wir begegnen, starrt uns an, als wären wir Yetis.
Daß die Rhön heute mehr ist als ein Geheimtip unter Wanderfreunden meist älteren Semesters, daß auffallend viele junge Familien mit Kindern durch Fladungen, Ost-, Nord- und Bischofsheim streifen, ist zweifellos die Folge einer umstrittenen Hotelansiedlung mitten im Naturschutzgebiet. Das „Rhön-Park-Hotel“, eine 1100-Betten-Burg, würde die östliche Silhouette der Langen Rhön beherrschen, wenn sie sich nicht so schamhaft schieferverkleidet oberhalb des Dorfes Roth im Wald verstecken würde: ein Zugeständnis an die prostestierenden Naturfreunde. Der Bau hat sich gelohnt. Erstens wurde er, Anfang der siebziger Jahre, vom Fiskus wegen seiner Grenznähe und der „Strukturschwäche“ der Region kräftig gefördert. Zweitens erfreut er sich bei Urlaubern ganz offenkundig, großer Beliebtheit. Selbst extreme Freizeit-Aktivisten brauchen das Hotel im Grunde kaum zu verlassen. Schwimmbad, Sauna, Kegelbahn, drei Restaurants, Kindergarten, Tennishalle, Spielautomaten und die langen Korridore des Hause lassen der Langeweile Keine Chance, Wer will, kann – im Bademantel – stundenlang durch die vielen Flure der wie Treppenstufen in den Hang gedrückten Bauteile wandern und zwischendurch immer wieder Aufzug fahren.
Die Geschäftsleute von Ostheim, während der Planungs- und Bauzeit eher skeptisch, würden heute wohl jeden Sonntag eine Bittprozession zu dem Hotel hinauf zelebrieren, sollte jemals der Plan erwachen, es wieder abzureißen. Denn in Ostheim kaufen die Appartement-Bewohner Lebensmittel ein, schaffen sich neue Schuhe an oder Spielzeug für die Kinder. Viele von ihnen wohnen vielleicht auch, wenn sie im nächsten Jahr wiederkommen, in einer kleinen Pension. Ganz folgerichtig sind die ehedem niedrigen Übernachtungs- und Essenspreise in der Bayerischen Rhön kräftig gestiegen in den letzten Jahren.
Ohne das „Rhön-Park-Hotel“ in seiner Nähe könnte es sich auch der junge Stettener Wirt des alten Gasthofs „Zur Linae“ nicht erlauben, jenen bekannten rheinischen Viktualien-Spediteur bei sich halten zu lassen, der seit Jahren, von Paris aus, frische Fische gleichmäßig über die deutsche Edelfreßlandschaft verteilt. Wen große Portionen, Papierservietten und „gutbürgerlicher“ Gasthaus-Service nicht stören, kann in der „Linde“ übrigens preiswert schlemmen: eine Consommée vom Reh vielleicht oder Donauwaller im Wurzelsud, Seezungenfilets in Krebsbuttersauce.
Von ihrer kulinarischen Tradition her freilich zählt die Rhön zu jenen Landstrichen, in denen der Armut ihrer Bewohner wegen gut essen stets gleichbedeutend war mit viel essen. Die Tradition ist lebendig, und wer sich darauf einläßt, tut gut daran, anschließend auf lange Wanderung zu gehen. Ein Marsch durch den Rhöner Winterwald wird gegenwärtig leicht zum Hindernisrennen. Die Waldarbeitertrupps kommen mit der Arbeit kaum nach, so viele stramme Bäume, mitten im Forst, liegen quer. Sie sind, samt Wurzeln, im Herbststurm einfach umgefallen. Der sterbende deutsche Wald eröffnet dem Wanderer ganz neue Perspektiven: Er kann die Bäume, die der Schnee bedeckt, als wär’s ein Leichentuch, jetzt auch von unten betrachten.
*
Auskünfte: Fremdenverkehrsverband Rhön, Postfach 6 69, 6400 Fulda, Tel. (06 61) 60 06-3 05 und Fremdenverkehrsverband Franken, Gebiet Rhön, Landratsamt, 8740 Bad Neustadt, Tel. (0 97 71) 9 43 10.
- Quelle DIE ZEIT, 22.2.1985 Nr. 09