Uwe Knüpfer
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Viel Lärm um die Entfernungspauschale

8/12/2000

 
In Berlin wird derzeit viel über Verkehrspolitik geredet. Leider wird dort keine Verkehrspolitik betrieben. Jedenfalls keine, die diesen Titel verdiente.

Die Bundesregierung will eine Entfernungspauschale einführen. Nicht, weil dies ökonomisch oder ökologisch sinnvoll wäre. Sondern, um der Opposition Luft aus den Segeln zu nehmen.

Vor einigen Wochen machten CDU und CSU gegen die Ökosteuer mobil. Nicht, weil dies ökonomisch oder ökologisch sinnvoll war, sondern weil es populär schien. Die Benzinpreise stiegen scheinbar ins Unermessliche, die Heizölpreise auch. Und die Union suchte nach einem Thema, mit dem sich die Regierung jagen ließe.

Doch Kanzler Schröder bremste die Union aus. Ein Heizkostenzuschuss links, eine Erhöhung der Kilometerpauschale rechts, und das Wahlvolk war besänftigt, die Opposition ihres Themas beraubt. Ein glänzender Schachzug, rein sportlich betrachtet. Doch Politik sollte mehr sein als eine Verlängerung des sportlichen Wettkampfs mit anderen Mitteln. Verkehrspolitik sollte die Bedingungen dafür schaffen, dass wir auch übermorgen noch von A nach B kommen, in berechenbarer Zeit. Und das ist leider nicht gewährleistet.

Der Verkehr von Menschen und Waren in und durch Deutschland wird weiter wachsen; um 20 beziehungsweise gar 64% bis zum Jahr 2015, ernsthaften Prognosen zufolge.

Gefragt ist eine Verkehrspolitik, die freien Verkehrsfluss ermöglicht, wo es notwendig ist, und Verkehr zu vermeiden hilft, wo das möglich ist. Eine Entfernungspauschale einzuführen, die Pendler dazu anreizt, möglichst oft möglichst weite Wege zurückzulegen, ist unsinnig; ökonomisch und ökologisch.

Zudem sinken die Benzinpreise derzeit wieder. Herr Bundeskanzler, was nun?

Nahverkehr: Eiserne Schaffner

1/1/1990

 
Aktualisiert 17. August 1984  08:00 Uhr  Passé sind jene glücklichen Zeiten, da ein Reisender in fremden Städten nur die Tram zu besteigen, dem Schaffner sein Ziel zu nennen und den geforderten Betrag zu zahlen brauchte. In Bussen geht’s ja noch. Da sitzt, sichtbar und zugänglich, ein Fahrer, und mit dem sollte sich doch reden lassen. Auf S- und U-Bahnhöfen aber stehen große, eckige, nicht immer funktionsbereite Klötze aus Metall und Plastik: Fahrscheinautomaten.

Vielleicht, weil solche Geräte einem rascheren Generationenwechsel unterliegen als wir Menschen, steht der rückständige Reisende heute so oft staunend und hilflos vor dieser weit fortgeschrittenen Fahrkartenausgabetechnik der öffentlichen Nahverkehrsunternehmen.

Die Geräte der ersten Generation, Kurbelautomaten noch, gelten Experten heute als „wenig flexibel“ und gleichen so vielen Benutzern. In den siebziger Jahren wurden sie weithin ersetzt durch Apparate, die immerhin schon verschieden wertvolle Karten auszuspucken verstanden, aber noch kein Wechselgeld. Das war die zweite Automatengeneration. In großen Städten begegnen wir heute schon den Enkeln der Kurbelgeräte. An ihnen erlaubt eine Vielzahl von Drucktasten eine reiche Fahrkartenauswahl, ein eingebauter Nadeldrucker beschriftet Blankotickets, ganz nach Kundenwunsch, zuviel eingezahlte Geldbeträge werden wieder ausgespuckt.

Möglicherweise wird die vierte Generation, die etwa für Anfang der 90er Jahre zu erwarten wäre, dem alten Schaffner wieder ähnlicher: durchaus denkbar, daß die Geräte dann sprechen können. Einstweilen helfen dem Reisenden nur Tabellen, Karten und behördendeutsche Texte bei der Beantwortung von Fragen wie diesen: In welcher Tarifzone befinde ich mich, in welcher Wabe liegt mein Fahrziel, welche Verbundstufe gilt derzeit, und welche der bis zu 17 Preisstufen ist meiner Fahrstrecke wohl zuzuordnen?

Man merkt es sofort: Bei der Planung der Verkehrsverbünde waren deutsche Tüftler am Werk. Sie ersannen Systeme, Regeln und Ausnahmeregelungen, bei deren Studium die Berufsgrammatiker der Duden-Redaktion blaß werden können.

In Stuttgart etwa richtet sich der Fahrpreis „nach der Zahl der Zonen, die bei einer Fahrt berührt werden. Ausnahme: Werden auf einer Fahrt die Kernzone und mindestens zwei Zonen des Innenrings berührt, wird eine Zone des Innenrings nicht berechnet.“ In Hamburg ist das ganz anders. Aber wiederum auch nicht so wie in Köln oder München.

Die bayerische Metropole hat ganz was Besonderes zu bieten: den Straßenunterführungstarif. Was auch immer, jedenfalls ist er preiswert: 30 Pfennig.

Als preiswert gilt auch das Lösen von Sammel- oder Mehrfachkarten, weißen oder grünen, Zeitkarten oder Verbundpässen, gelben oder grünen, oder – Gipfel des Ganzen – der Frankfurter top-ticket-Wertmarke. Guten Gewissens ist der Kauf solcher Karten aber nur Zeitgenossen zu empfehlen, die sich nach Aneignung der Grundregeln des jeweiligen Tarifwesens nun zu einem tieferen Einstieg in die Welt der Waben und Zonen berufen fühlen.

Natürlich gibt es auch Rabatte. In Berlin für Touristen, in Hamburg für Familien, in Stuttgart für Kongreßteilnehmer und im Ruhrgebiet für Arbeitslose.

Experten, die sich einen Vergleich der im Grunde unvergleichlichen Tarifsysteme zutrauen, sagen: In München ist es am billigsten. Ganz sicher gilt das für Fahrten erster Klasse; die kosten dort nichts extra.

Münchner müssen umlernen, kommen sie doch einmal ins Rheinland oder nach Westfalen. Die Verkehrsverbünde dort verlangen ihren Kunden ein gerüttelt Maß an Demut ab: Sie fordern sie zur Selbstentwertung auf. Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 17.8.1984 Nr. 34

Interrail: für Bahn-Globetrotter

1/1/1990

 
Fast nur mit der Lupe zu lesen: Tips, kleingedruckt wie das Kursbuch von Uwe Knüpf er

Aktualisiert 21. September 1984  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Preiswerte Netzkarten wie das Interrail-Ticket haben die alte Bahn vor allem unter jungen Rucksacktouristen wieder sehr beliebt gemacht. Schon existieren auch spezielle Reiseführer, zugeschnitten auf die Bedürfnisse und Fragen jener, die innerhalb von vier kostbaren Wochen Europa mit schmalem Brustbeutel und der Bahn kennenlernen wollen.

Der gleichsam enzyklopädische Anspruch solcher Bücher verleitet die Verlage aber offenbar dazu, derart winzige Druckbuchstaben zu wählen, daß die Lektüre nur Menschen mit scharfen Augen, und auch dann nur bei günstigen Lichtverhältnissen, zuzumuten ist. Das gilt besonders für

Eberhard Fohrer: „Mit der Eisenbahn durch Europa“, 1984 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen im Verlag Michael Müsser, Ebermannstadt, 22,80 Mark.

Auf Seite 16 dieses Fleißwerks von fast 600 Druckseiten wird das so weit getrieben, daß die Legende der bahnüblichen Bildsymbole, die hier erklärt werden sollen, sich selbst unter Zuhilfenahme einer Lupe kaum enträtseln läßt.

Doch wo es lesbar ist, birst das Buch vor Informationen: Wie man von Italien oder Irland aus daheim anrufen kann, wird da beispielsweise beschrieben. Die wichtigsten europäischen Schiffsverbindungen sind aufgelistet, ebenso die zuschlagpflichtigen Bahnstrecken. Den Schienensträngen folgend skizziert Fohrer eine große Anzahl von Landstrichen und Städten, knapp, aber durchaus treffend. Seine Tips zum Essen, Amüsieren und Übernachten entsprechen, so zeigen Stichproben, dem Informationsniveau von Stadtzeitungen und Szeneblättern. Das ist in der Regel hoch.

Mancher Tip ist allerdings reichlich originell. Unter der Kapitelüberschrift „Trampen“ („Kann durchaus lohnenswert sein, ab und zu ruhig mal einen kleinen Ausflug mit dem Daumen einschieben!“) rät der Autor Anhalterinnen: „Falls der Fahrer zudringlich wird, Finger in den Hals und loskotzen!“

Konventionell mutet dagegen Fohrers Auswahl sehenswerter Reiseziel an. Auch Rucksackreisende kommen um Heidelberg und Neuschwanstein offensichtlich nicht herum. Sie unterscheiden sich von Pauschale und Koffertouristen – Originalton Fohrer: „Die Neckermänner“ – zwar in Habitus und Sprache, die Klischeevorstellungen beider Gruppen scheinen sich aber in oft bedrückender Weise zu gleichen: Im römischen Straßenverkehr wird, behauptet Fohrer, wer nicht aufpaßt, „gnadenlos überfahren“. Zur Reise durch das Ruhrgebiet locken angeblich „zahllose Kohlezechen“ und am Abteilfenster vorüberziehende Giftschwaden.

Ob man ihm glaubt oder nicht, jedenfalls schreibt Fohrer ein unverkrampftes, verständliches Deutsch. Dabei greift er zwar oft zurück auf die derzeit gängigen Idiome der Jugendsprache, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, er wolle sich anbiedern.

Genau dieser ärgerliche Eindruck kommt dagegen auf bei der Lektüre von:

Interrail. Handbuch für Bahnreisen in Europa, erschienen 1984 im Unterwegs Verlag Manfred Kiemann, Rielasingen, 12,80 Mark.

Die Autoren heißen Klaus Michael Peter und Manfred Kretz, sind beide Mitte Zwanzig und wurden gesponsert von einer Tabakfirma, die zum Dank (nicht nur) auf dem Buchdeckel für sich Reklame machen darf.

Ihre Karten der wichtigsten und schönsten Strecken der beschriebenen Urlaubsländer haben die Autoren offenbar selbst gezeichnet, locker aus dem Handgelenk. Das mag den Charme des Spontanen ausstrahlen, übersichtlich wirkt es nicht. Die Beschreibungen politischer und geographischer Landschaften wirken wie aus dem Lexikon abgeschrieben; nur daß sich dabei orthographische Fehler eingeschlichen haben.

Auch beim Ausdenken ihrer Tips, etwa jener kulinarischer Art, haben sich Peter und Kretz wenig Mühe gegeben und/oder verraten mangelnde Kennerschaft.

Ganz anders, wenn sie über Eisenbahnen an sich schreiben. Für globetrottende Schienenfreaks, denen die Bahn mehr bedeutet als ein schnödes Transportmittel, ist das Buch sicher eine Fundgrube. Nicht nur, daß die „Biographien“ der nationalen Eisenbahngesellschaften weit ausführlicher ausgefallen sind als alle anderen Info-Teile: Peter und Kretz machen den Inter-Railer auf grandiose und noch heute sichtbare Ingenieurleistungen aufmerksam, und sie führen ihn zu Zugraritäten wie dem „kleinen Krokodil“ in der Schweiz oder auch in das „Tal der rostenden Dampfrösser“ (an der Strecke von Tripolis nach Korinth gelegen). Auch beschreiben sie liebevoll die zahlreichen europäischen Eisenbahnmuseen.

  • Quelle DIE ZEIT, 21.9.1984 Nr. 39

Nahverkehr: Tickets für die City

1/1/1990

 
Wer in einer fremden Stadt statt Taxi lieber Bus oder Straßenbahn fährt, tut sich oft schwer, den richtigen Tarif zu finden.

Die Bus- und Bahnbenutzung in der Fremde erleichtern soll das Städte-Ticket des Verbandes öffentlicher Nahverkehrsbetriebe (VöV). Wer sich dies etwa in Hamburg für 9,50 Mark kauft und nach München fliegt oder fährt, darf in beiden Städten 24 Stunden lang eine (von Ort zu Ort unterschiedliche) Anzahl von Bussen und Bahnen benutzen. In Berlin sogar Schiffe.

1983 verursachte die Werbung für das Städte-Ticket mehr Kosten, als der Verkauf den Betrieben einbrachte. Deshalb wird es dieses Ticket ab 1986 nicht mehr geben.

Oft empfiehlt sich eher der Kauf einer Tageskarte. Deren Geltungsbereich ist von Region zu Region verschieden; manche Verkehrs verbunde bieten gleich mehrere Alternativen an (für sechs bis zwölf Mark).

Eine einfache Fahrkarte, die in der Regel innerhalb eines räumlich begrenzten Gebietes gültig ist, kostet derzeit zwischen 1,60 Mark in Hamburg und 2,20 in München.

In München, Köln und bald auch dem Ruhrgebiet steht noch der Kurzstreckentarif zur Wahl. Für rund 1,50 Mark darf man damit vier bis fünf Haltestellen weit fahren.

Normale Tickets berechtigen zu beliebig häufigem Umsteigen. Rück- und Rundfahrten sind allerdings nicht erlaubt, außer (noch) im Ruhrgebiet.

Kinder bis zum Alter von vier Jahren fahren überall umsonst. In Stuttgart, Berlin und Köln liegt die Altersgrenze sogar bei sechs Jahren.

Der Kauf von Mehrfahrtenkarten verbilligt jede Fahrt im Schnitt um 20 Prozent. Die Hamburger und die Frankfurter Verkehrsbetriebe bieten solche Karten allerdings nicht an. Wo es sie gibt, ist übrigens daran zu denken, daß die Tickets beim Betreten von Bus oder Bahn oder auf dem Bahnsteig noch eigenhändig entwertet werden müssen. Nur mit Stempelaufdruck sind sie gültig. Wer’s vergißt, gilt als Schwarzfahrer und muß, falls er erwischt wird, 40 Mark bezahlen.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 5.10.1984 Nr. 41

Bahn: Silberlinge für Pendler

1/1/1990

 
Mit neuer Optik und besserem Komfort will die Deutsche Bundesbahn das Image ihrer Nahverkehrszüge aufpolieren. Zwischen Köln und Gummersbach pendelt – als Versuch – seit Anfang September der „Aggertaler“.

Nach den euphorischen Ankündigungen der Bundesbahn-Pressestelle hätte eigentlich ein Raunen durch die wartende Menge gehen müssen, als die erste „City-Bahn“ in den Hauptbahnhof von Köln einfuhr. Niemand raunte. Ja, nicht einmal der Informations-Schaffner wußte, wann die City-Bahn und wann der normale Zug die Strecke befährt. Wirklich unübersehbar wird die Neuerung erst, wenn man den Zug bestiegen hat. Manch ein Fahrgast soll schnurstracks wieder kehrtgemacht haben, Richtung Schaffner, mit der Frage, wo denn die zweite Klasse sei.

Das „neue Kapitel im Schienenverkehr“ ähnelt im Innern den Intercity-Großraumwaggons. Die Sitze sind stoffbezogen, die klassischen Gepäcknetze über den Köpfen verschwunden, der Boden ist gummi-genoppt wie in den Wartehallen von Flughäfen. Polster und Wandflächen changieren zwischen dottergelb und orangerot.

Leider legt sich das Intercity-Feeling, sobald der Zug anfährt, spätestens aber, wenn er wieder hält. Die City-Bahn schaukelt, ruckt und rüttelt (natürlich) wie jeder andere Nahverkehrszug auch.

Gerade Berufspendler will die Bundesbahn von der Straße locken. Hat der „Aggertaler“ Erfolg, sollen künftig überall dort in der Umgebung von Ballungszentren, wo keine S- oder U-Bahn mehr hinkommt, City-Bahnen verkehren, im festen Zeittakt. Ganz kleine Bahnhöfe werden nicht mehr angefahren, der Zug gewinnt dadurch an Tempo: Die Bahn fordert auf zum „Park and Ride“.

Der größte Clou der City-Bahn findet sich am Ende des Waggons. Zwei Getränkeautomaten stehen dort, offerieren „Cold drinks“, Kaffee, Espresso und Kakao. Einheitspreis: 1,50 Mark. Auch Bier ist im Angebot.

Niemand braucht hier mit der Papptasse in der Hand durch die Gänge zu seinem Platz zu wanken. Mit hohen Tischen und Lehnen an den Wänden gleicht die Automatenecke einer Mischung aus Stehkneipe und Kaffee-Shop.

Ein Gepäckabteil gibt es nicht mehr in der City-Bahn. An seine Stelle ist ein Mehrzweckraum getreten, freundlich gestylt wie die anderen Zugteile auch. Fahrräder passen hier rein und Kinderwagen. Ob die City-Bahn Zukunft hat, schreibt die DB, „liegt zu großen Teilen an der Resonanz im Bergischen Land“. Wer regelmäßig mit dem „Aggertaler“ fährt, hat große Chancen, von Mitarbeitern eines Marktforschungsinstituts befragt zu werden. Bisher habe fast jeder bereitwillig Auskunft gegeben, sagt eine Interviewerin. Die Stimmung schwanke zwischen spontaner Zustimmung und Angst Angesichts des Fragebogens überkomme viele Fahrgäste nämlich die pure Sorge, auch „ihre“ Strecke könnte eines Tages stillgelegt werden.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 16.11.1984 Nr. 47

Von Reiz der armen Rhön

1/1/1990

 
Wo alle Straßen enden – das Mittelgebirge an der Grenze von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 22. Februar 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Er ist barfuß in seinen Pantinen, der alte Mann, der da, mitten im tiefen Winter, seelenruhig am Leubach steht und mit uns plaudert; ohne Hast und ohne Socken. Der Bach fließt durch das Rhön-Städtchen Fladungen und trieb einst elf Mühlen an. Heute sind es immerhin noch zwei. Einen Bäcker gibt es nicht: Die Einwohner backen ihr Brot noch selbst.

In dem Bach, so berichtet der alte Mann, war auch schon mal Gift, das kam von „drüben“ und kostete gut 4000 Rhön-Forellen im Staubecken oberhalb von Fladungen vor der Zeit das Leben. „Von drüben“, das heißt natürlich: aus der DDR. Kurz hinter dem Ort hören alle Straßen auf, Wanderwege verlaufen sich im Wald, eine Schneise und ein Zaun markieren das Ende der westlichen Welt.

Wir sind in der Mitte Deutschlands, in der Bayerischen Rhön und fast in Thüringen, in einem Mittelgebirge, das für den Wintersport wie geschaffen scheint. Jedenfalls suggeriert dies jener höhnisch gemeinte Uralt-Sprucn, der der Rhön bescheinigt, hier gebe es neun Monate Winter und drei Monate Schnee. Kalt ist es in der Tat. Und Schnee findet sich auch: auf der Wasserkuppe, dem mit 950 Metern höchsten Gipfel (aber der liegt schon in Hessen), ebenso wie auf dem Kreuz- und dem Arnsberg, dem doppelten Mekka der Alpin-Skiläufer im bayerischen Teil des Gebirges.

Eigentlich ist es ja der fränkische Teil. Doch scheinen die Franken hier mit ihrer politischethnischen Zuordnung durchaus einverstanden. Die Touristik-Manager der Region versuchen gar aus dem „bayerisch“ Kapital zu schlagen. Mit der Rhön beginne „Deutschlands schönstes Urlaubsland“, werben sie.

Vorsichtshalber fahren wir nicht an einem Wochenende zum Kreuzberg, sondern an einem Donnerstag. Es schneit, und kurz hinter Bischofsheim geht es ohne Schneeketten nicht mehr weiter. In fast 900 Metern Höhe, auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz, erwarten uns klirrender Frost und eine unüberblickbare Menge Gleichgesinnter. Es herrscht Hochbetrieb. Die Sicht ist schlecht, die Schlange am Lift lang. Alles Muskelfleisch fühlt sich an wie zu Eis erstarrt, schon bevor uns einer der fünf Ankerlifte in die Höhe zieht, einer – mit Muße – Dreiminutenfahrt entgegen.

Dichtes Gedränge auch am anderen touristischen Wallfahrtsort hier auf dem „heiligen Berg der Franken“: in der Klosterschänke. Familien mit frierend-unzufriedenen Kindern warten ungeduldig, daß andere Familien, kurz zuvor noch in ähnlich peinlicher Lage, endlich ihren Tisch freimachen.

Das Herzstück dieses eigenartigen Gebirges, ist – Wasserkuppe hin, Kreuzberg her – zweifellos der langgezogene Gebirgsstock, der sich bei Bischofsheim beginnend bis in die DDR hinein nach Norden erstreckt: die Lange oder auch die Hohe Rhön genannt. Obenauf, immer höher als 800 Meter über dem Meeresspiegel, dehnen sich weite, moorreiche Hochflächen, nur leicht gewellt und spärlich bewaldet. Sporadisch öffnen sich weite Ausblicke über breite Täler auf andere sanftgebuckelte Höhen und wieder andere, die schemenhaft dahinter liegen.

Rauh sei dieses Land, wußten frierende Durchreisende seit alters her zu berichten. Dazu ist es karg und steinig. Die Bauern, die hier lebten, waren immer arm. Das wissend, wirkt der seltsame Liebreiz der Landschaftsformen geradezu deplaziert. Gelassen schlängeln sich unregulierte Bäche und Flüßchen durch Täler, in denen es Sägewerke gibt, beinahe mehr als Kirchen, aber keine Industrie. Je ärmer das Dorf, desto weniger Fachwerkfassaden wurden. in den Wirtschaftswunderjahren unter bonbonfarbenem Rauhputz versteckt. Aus der Not heraus haben sich die Städtchen ihr mittelalterliches Ortsbild bewahrt. Das beginnt sich nun als Segen zu erweisen.

Doch zurück zur Landschaft. Von Liebreiz war die Rede, Schroffes ist ihr fremd. Und so entbehrt sie auch Steil- und Buckelpisten. Menschenarm, naturbelassen, wie die Rhön daliegt, niederschlagsreich und kalt, ist sie im Winter so recht ein Ziel für Menschen, die anderes wollen als bibbernd Schlange zu stehen und um andere Skiläufer wie um Slalomstangen herum ins nahe Tal zu wedeln. 20 Langlauf-Loipen mit einer Gesamtlänge von rund 160 Kilometern werden regelmäßig gespurt.

Tage später, an einem der Parkplätze entlang der „Hochrhönstraße“, der fränkischen „Route des Crêtes“, steigen wir in die Rundloipe „Moorschlinge“ ein. Weit voraus lösen sich die Umrisse eines Schnelleren hinter einem Schleier aus Schnee allmählich auf. Nur ein paar vom Frost in bizarre Kristallskelette verwandelte Sträucher und Bäume geben dem Auge Halt. Die Illusion sibirischer Weite und Einsamkeit ist perfekt. Zu hören ist nichts als ein leises Pfeifen. Es ist der Wind. Er jagt über das Hochplateau, läßt dort unsere Spur unter einer Düne von Schnee rasch wieder verschwinden.

Als wir gestartet waren, hatten wir ihn kaum bemerkt: den Kiosk am Parkplatz. Jetzt, nach einer knappen Stunde Rundkurs, riechen wir ihn schon, bevor wir die Rauchschwaden sehen, die von dort den Duft „bester thüringischer Bratwürste“ vom Grill herübertragen. Rund um das Holzhäuschen stehen kleine Gruppen fröhlich schwatzender Menschen, die alle in der vom Handschuh befreiten Faust ein knackiges Brötchen halten. Darin eingeklemmt ist die längliche dunkelbraune Wurst, die, wie der erste Bin beweist, nicht das geringste gemein hat mit ihren industriell gefertigten Namensvettern, die uns in den Imbißbuden der Großstädte so ärgern können. Die gute Stimmung der Mampfenden, das merken wir schnell, hängt freilich auch zusammen mit dem warmen Apfelwein, den es ebenfalls für wenig Geld zu kaufen gibt.

Daß hier thüringische Würstchen feilgeboten werden statt solcher Nürnberger oder Coburger Art, ist keine Reminiszenz an die Bewohner jenseits der übernächsten Berge. Wer in die Rhön fährt, kann seinen Urlaub tatsächlich in Thüringen verbringen, ganz ohne Visum. Die sächsischen Grafen von Henneberg nämlich teilten sich zu Feudalzeiten die Rhön mit den Bischöfen von Würzburg und Fulda. An die Stelle der Grafen trat 1741 das Haus Sachsen-Weimar, weshalb auch der bekannte Herr von Goethe einige Tage in Ostheim weilte: Gleich zweimal, 1780 und 1782, hatte er dort Verwaltungsdinge zu regeln.

Ostheim und einige das Städtchen umgebende Weiler bilden heute eine thüringische Enklave im Bayerischen. Hier werden statt Knödeln Klöße gegessen, dazu trinkt man keine Maß, sondern „Bierchen“. Hier wird auf lutherische Weise Gott gedient, und selbst mancher Zwiebelturm hat noch eine lange, schlanke Spitze obenauf.

Und so klärt sich auch, was dem Nachkriegs-Westdeutschen an den Namen mancher Rhön-Städtchen so geheimnisvoll in die Irre führend dünkt. Ostheim, Nordheim, Sondheim firmieren auf Straßenkarten und Ortsschildern allesamt als „vor der Rhön“ gelegen – wo sie doch, wenn nicht mittendrin, so doch augenfällig dahinter liegen. Im Osten nämlich.

Bei einsetzender Dämmerung folgen wir dem zugeschneiten Weg von der Sennhütte hinab nach Fladungen. Zwei Spurrillen, die ein anderer Langläufer schon vor uns durch den Neuschnee zog, bieten Halt und Orientierung. Wie hineingeworfen in das Tal unter uns liegen Nordheim rechts, Fladungen links, Heufurt dazwischen. Die Sonne inszeniert noch immer ihr dramatisches Wolkentheater, als wir die ersten Häuser erreichen. Ein Landwirt auf seinem Traktor, dem wir begegnen, starrt uns an, als wären wir Yetis.

Daß die Rhön heute mehr ist als ein Geheimtip unter Wanderfreunden meist älteren Semesters, daß auffallend viele junge Familien mit Kindern durch Fladungen, Ost-, Nord- und Bischofsheim streifen, ist zweifellos die Folge einer umstrittenen Hotelansiedlung mitten im Naturschutzgebiet. Das „Rhön-Park-Hotel“, eine 1100-Betten-Burg, würde die östliche Silhouette der Langen Rhön beherrschen, wenn sie sich nicht so schamhaft schieferverkleidet oberhalb des Dorfes Roth im Wald verstecken würde: ein Zugeständnis an die prostestierenden Naturfreunde. Der Bau hat sich gelohnt. Erstens wurde er, Anfang der siebziger Jahre, vom Fiskus wegen seiner Grenznähe und der „Strukturschwäche“ der Region kräftig gefördert. Zweitens erfreut er sich bei Urlaubern ganz offenkundig, großer Beliebtheit. Selbst extreme Freizeit-Aktivisten brauchen das Hotel im Grunde kaum zu verlassen. Schwimmbad, Sauna, Kegelbahn, drei Restaurants, Kindergarten, Tennishalle, Spielautomaten und die langen Korridore des Hause lassen der Langeweile Keine Chance, Wer will, kann – im Bademantel – stundenlang durch die vielen Flure der wie Treppenstufen in den Hang gedrückten Bauteile wandern und zwischendurch immer wieder Aufzug fahren.

Die Geschäftsleute von Ostheim, während der Planungs- und Bauzeit eher skeptisch, würden heute wohl jeden Sonntag eine Bittprozession zu dem Hotel hinauf zelebrieren, sollte jemals der Plan erwachen, es wieder abzureißen. Denn in Ostheim kaufen die Appartement-Bewohner Lebensmittel ein, schaffen sich neue Schuhe an oder Spielzeug für die Kinder. Viele von ihnen wohnen vielleicht auch, wenn sie im nächsten Jahr wiederkommen, in einer kleinen Pension. Ganz folgerichtig sind die ehedem niedrigen Übernachtungs- und Essenspreise in der Bayerischen Rhön kräftig gestiegen in den letzten Jahren.

Ohne das „Rhön-Park-Hotel“ in seiner Nähe könnte es sich auch der junge Stettener Wirt des alten Gasthofs „Zur Linae“ nicht erlauben, jenen bekannten rheinischen Viktualien-Spediteur bei sich halten zu lassen, der seit Jahren, von Paris aus, frische Fische gleichmäßig über die deutsche Edelfreßlandschaft verteilt. Wen große Portionen, Papierservietten und „gutbürgerlicher“ Gasthaus-Service nicht stören, kann in der „Linde“ übrigens preiswert schlemmen: eine Consommée vom Reh vielleicht oder Donauwaller im Wurzelsud, Seezungenfilets in Krebsbuttersauce.

Von ihrer kulinarischen Tradition her freilich zählt die Rhön zu jenen Landstrichen, in denen der Armut ihrer Bewohner wegen gut essen stets gleichbedeutend war mit viel essen. Die Tradition ist lebendig, und wer sich darauf einläßt, tut gut daran, anschließend auf lange Wanderung zu gehen. Ein Marsch durch den Rhöner Winterwald wird gegenwärtig leicht zum Hindernisrennen. Die Waldarbeitertrupps kommen mit der Arbeit kaum nach, so viele stramme Bäume, mitten im Forst, liegen quer. Sie sind, samt Wurzeln, im Herbststurm einfach umgefallen. Der sterbende deutsche Wald eröffnet dem Wanderer ganz neue Perspektiven: Er kann die Bäume, die der Schnee bedeckt, als wär’s ein Leichentuch, jetzt auch von unten betrachten.

*

Auskünfte: Fremdenverkehrsverband Rhön, Postfach 6 69, 6400 Fulda, Tel. (06 61) 60 06-3 05 und Fremdenverkehrsverband Franken, Gebiet Rhön, Landratsamt, 8740 Bad Neustadt, Tel. (0 97 71) 9 43 10.

  • Quelle DIE ZEIT, 22.2.1985 Nr. 09

Gepäckträger: Gelungenes Comeback

1/1/1990

 
Aktualisiert 19. April 1985  08:00 Uhr  Einmal ist ihm der Koffer einer jungen Dame aufgesprungen. „Der war voller Reizwäsehe.“ Willi Kreuzer, 63 Jahre alt und seit 1948 im Dienst erst der Reichsbahn und dann der Deutschen Bundesbahn, muß lange überlegen, bis ihm ein Berufserlebnis einfällt, das ihm spektakulär genug erscheint für die Zeitung. Die Geschichte mit der Reizwäsche, fügt er schnell hinzu, habe er schon einmal einem Journalisten erzählt.

Willi Kreuzer ist Gepäckträger. Sein Arbeitsplatz ist der Hauptbahnhof in Köln am Rhein. Gepäckträger, ja, gibt’s denn die noch? Sind sie nicht längst jenen Blechkarren gewichen, die den Vorteil haben, überall abgestellt werden zu können? Nein, es gibt sie – wieder. Jedenfalls in Köln, Bonn, Düsseldorf, Koblenz und Wuppertal. Bis Mai will die Bundesbahn testen, wie der neue/alte Service angenommen wird. Um ja keinen Fehler zu machen, hat sie auch noch eine Marktforschungsanalyse in Auftrag gegeben. Sollten Reisende und Wissenschaft „Ja“ sagen zu dieser Humanisierung des deutschen Gepäcktransportwesens, würde das Angebot mindestens auf alle Intercity-Haltepunkte ausgedehnt.

Für Willi Kreuzer ist es ein Comeback. Ihn holte der Wille des DB-Vorstandes, das Image der Bahn zu verbessern, zurück aus der tristen Arbeitswelt des Gepäckdienstes unter den Gleisen ins Rampenlicht der großen weiten Reisewelt. Hier stand Willi Kreuzer schon einmal, vierzehn Jahre lang, bis 1983. Pardon: Meistens ging er und schleppte Koffer. Damals war er ein quasi selbständiger Unternehmer mit Garantielohn, heute bezieht er ein festes Gehalt. Gebühren, die er kassiert (fünf Mark für das erste und 2,50 Mark für jedes weitere Gepäckstück), hat er unverzüglich am Fahrkartenschalter abzuliefern. Früher wartete er, in den besten Zeiten gemeinsam mit einem Dutzend Kollegen, oben auf dem Bahnsteig, bis er gerufen wurde; per Knopfdruck und Lichtsignal vom Reisenden selbst oder, später, über Lautsprecher vom Kollegen in der Meldestelle.

Heute heißt die alte Meldestelle Kundendienststelle. Der Gepäckträger muß jetzt vorbestellt werden; telephonisch oder schriftlich oder über Bahnfunk vom Intercity aus. So lasse sich viel exakter planen, meinen die DB-Oberen, und die Arbeitskraft der Träger könne zwischenzeitlich anders genutzt werden. Wenn niemand seine Dienste anfordert, schiebt Willi Kreuzer ganz normalen Gepäckdienst, Untertage sozusagen, im schmuddeligen Blaumann. Schallt dann der Ruf: „Williii!“ durch die Bahnhofsunterwelt, tauscht er rasch die blaue gegen eine grüne Jacke und setzt sich jene ehrfurchtgebietende Dienstmütze auf den Kopf, auf der gelb und deutlich steht: „Gepäckträger“. Dann strafft sich sein Körper, und er begibt sich, gemessenen Schrittes, nach oben.

Auf Gleis drei hat Einfahrt der Zug aus Den Haag. Willi Kreuzer geht auf eine ältere Dame zu,, die am Bahnsteig wartet: „Haben Sie einen Gepäckträger bestellt?“ Er kennt die Dame, sie kommt öfter. Diesmal erwartet sie eine Freundin aus Holland, die eine Stunde später schon Weiterreisen will. Willi Kreuzer soll die Koffer zum anderen Gleis hinüberbringen. Ob die Damen nicht in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken wollten, fragt er, er nehme das Gepäck solange in Verwahrung, schließlich sei es kalt, und eine ganze Stunde in der zugigen Halle ...?

Kassieren wird Willi Kreuzer später. Die doppelte Gebühr, weil er zweimal kommen muß? Nein, wehrt er ab, das wäre ja wohl etwas teuer. Doch streng nach Vorschrift wäre jetzt zweimal eine Gebühr fällig.

Im Schnitt zehnmal am Tag wechselt Willi Kreuzer oder einer seiner Kollegen das Kostüm. Ihr Kölner Dienststellenleiter Franz-Josef Winnemöller findet die Nachfrage „angemessen gut“. Auf den kleineren Bahnhöfen im Versuchsgebiet soll es ruhiger zugehen. Hektik kommt allerdings auch in Köln selten auf.

Meist sind es ältere Leute, die um einen Gepäckträger bitten. Oder Japaner. Oder Kommunisten. Sowjetische und ungarische Diplomaten der rheinischen Handelsmissionen zählen zu den Stammkunden. Sie wissen den Wert menschlicher Arbeit eben zu schätzen. Uwe Knüpfer

Für Camper und Karossen

1/1/1990

 
Zur Sommerszeit leistet ein mobiles Autoclub-Team an der Adria Lebens- und Pannenhilfe von Uwe Knüpfer

Aktualisiert  9. August 1985  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Iwan ist nicht mehr da. Und sein Nachfolger, der neue „direttore“ des Campingplatzes, weiß noch nicht, welchen Respekt die „Bernhardiner“ erwarten und gewohnt sind. Die Bernhardiner, offiziell als „Adria-Service-Team“ unterwegs, tingeln in jedem Jahr von Anfang Juli bis Ende August über die Campingplätze an der Adria. Der Bernhardiner ist das Markenzeichen ihres Auftraggebers, des „Auto Club Europa“ (ACE), der mit dem ARBÖ die Urlauber betreut. ACE ist der Autoclub des DGB und ARBÖ sein österreichischer Bruderverein. Einst nannte er sich Arbeiter-Radfahrer-Bund Österreichs. Jetzt, zeitgemäß und praktisch, ist das Kürzel geblieben, aber A steht nun für Auto.

Lothar Peter, der hochgewachsene Stuttgarter mit dem Bernhardiner-T-Shirt, kann es immer noch nicht begreifen, daß der neue Campingplatzwächter die Ausweise der Helfer sehen wollte, ja sie sogar warten ließ wie gewöhnliche Gäste, ehe er ihnen Einfahrt gewährte. Dabei kennt ihn doch jeder an der oberen Adria, an der brettflachen Küste zwischen Rovigo und Aquileia. Und jeder kommt, um Rat zu holen.

Denn deshalb ist der Gewerkschaftler hier, jedes Jahr im Sommer, wenn es heiß wird am Strand und eng und sandig in den Waschbaracken auf den Campingplätzen: um zu helfen, wenn Urlauber in und mit der Fremde Probleme haben, etwa so, wie der gutmütig-große Hund Lawinenopfer mit Rum versorgt.

Der ARBÖ hat in diesem Jahr zwei technisch versierte Pannenhelfer geschickt, Heinz Schwab und Josef Hofer. Der Bruderverein ACE stellt Lothar Peter. Der Schwabe ist Fachmann fürs Touristische und, landsmannschaftlich gesehen, in der Minderheit. Wie ja überhaupt die obere Adria sommers ein österreichisches Staatsgewässer zu sein scheint. Überall klingt’s wienerisch, werden Vokale quälend in die Länge gezogen, und der Renner am Freß-Corso von Bibiöne-Pineta ist die „Pizza Wienna“ (mit W).

Selbst aus dem Äther tönt’s nach Wiener Art. Zwei alpenrepublikanische Sender mit Studiositz an der Adria beschallen Sonnenanbeter mit Klängen und Informationen aus der Heimat. Wiens Massenblätter proben hier den Einstieg in den Kabelfunk und erzählen zum Frühstück, wieviele Österreicher im letzten Jahr an Lungenkrebs gestorben sind, daß die ÖVP Steuersenkungen fordert und Piz Buin das Auftragen der Sonnencreme mit dem Schutzfaktor sechs empfiehlt. Und außerdem: „Ob Sonne, Sand, ob Hitze, Bernhardiner, die sind Spitze. Heute finden Sie das hilfreiche Team von ACE und ARBÖ auf dem Campingplatz X in Y.“

Die Bernhardiner bedanken sich, indem sie ihrerseits für die Privatsender a bisserl Reklame machen. Die frechbunten Aufkleber von „Radio Lignano International“ und „Radio Adria“ sind am schnellsten weg, wenn sich die Urlauber um das Team aus Stuttgart und Wien scharen. Abgesehen von gelegentlich auftretenden Naturkatastrophen und Schlagersternchen ist das Strandleben nämlich arm an wirklichen Sensationen. Da nimmt man mit, was kommt. Und sei es Papier. Mancher, der daheim in der Fußgängerzone jedes Flugblatt brüsk zurückweist, greift hier gerne zu.

Auch das Faltblatt „Töchter können mehr als wir denken“, herausgegeben vom Staatssekretariat für Allgemeine Frauenfragen im österreichischem Bundeskanzleramt, findet reißenden Absatz. Die Kinder sammeln Luftballons, Buttons und Autoaufkleben. „Der andere eben hat aber zehn gekriegt“, entrüstet sich ein kleiner Junge, als Lothar Peter ihn mit einem Bernhardiner-Abziehbild abzuspeisen versucht. Im Hintergrund, zwischen Caravandeichseln und Wäscheleinen, blüht das Tauschgeschäft.

Doch die Bernhardiner tragen nicht nur zur Unterhaltung bei, sie schlagen sich auch mit den Nöten der Urlauber herum. Es muß ja nicht gleich ein Unfall sein oder ein Motorschaden. So was kommt nur alle paar Tage vor. Besitzer von altersschwachen Autos nämlich, hat Heinz Schwab herausgefunden, fahren nicht an die Adria, jedenfalls nicht an die italienische; eher trifft man Problemfahrzeuge in Jugoslawien. Die ACE-Helfer kennen ihre Klientel – es sind penible Leute. Ihnen nehmen sich auch objektiv kleine Defekte an Auto, Caravan oder Bötchen nicht selten aus wie Schicksalsschläge.

Zum Beispiel die Familie aus Braunschweig. Zuerst kommt nur der Vater auf den Platz, leise und unauffällig. Vielleicht hat er sich ohne Besucherschein am gestrengen „direttore“ vorbeigemogelt? Aber nein, der wird sich ordentlich angemeldet haben. Zaghaft wendet sich der Kunde an die Berater. Er habe ein Problem. Sein Wagen, ein Opel, sei noch ganz neu, und trotzdem, während der Fahrt fällt doch auf einmal die Tankanzeige aus! Bekümmert blickt er dem Hofer Sepp ins Gesicht. Der sagt nur: „Kommen’S her mit dem Wagen!“

Sepp öffnet den Kofferraum, schiebt den Plastikteppich beiseite und fingert am Tankverschluß. Und dann meint er auch schon: „Probieren Sie mal.“ Der Zweifel, ob dieser junge Mann vom Autoclub wohl auch mit dem rechten Ernst bei der Sache sei, steht dem Opelbesitzer ins Gesicht schrieben. Zögerlich setzt er sich ans Steuer. Ein Dreh am Zündschloß, und die Nadel der Tankanzeige steigt und steigt. Erleichtert ruft der Mann seine Familie herbei, die sich inzwischen auch eingefunden hat, um den fremden Platz zu inspizieren. Das Familienoberhaupt strafft seine Haltung und greift sich ans Gesäß: „Was bin ich schuldig?“ „Nix“, sagt der Sepp.

Das sind die leichten Fälle, die, in denen ein Handgriff wahre Freudenstürme auszulösen vermag. Eine Sicherung ist durchgebrannt, einem Bastler fehlen Schrauben, ein Blinker versagt. Josef Hofer, ganz Zampano, verrät einen Trick: Warnblinker einschalten und gleichzeitig den Blinkerhebel drücken. Groß ist das Staunen.

„Des san Tschapperl“, sagt Heinz Schwab, wenn solche Kundschaft wieder weg ist. Nur Wiener wissen, was er meint. Wir anderen ahnen es.

Wenn am Morgen der Himmel bedeckt ist, das Meer zum Bade noch nicht lockt, ein Ausflug aber auch nicht lohnend scheint, wenn also Langeweile-Wetter herrscht und Unentschlossenheit in allen Waschkabinen nistet, dann bereitet sich das Adria-Service-Team auf ganz besonders harte Arbeit vor. An solchen Tagen sind die campingplatzeigenen Autowaschplätze dauerbelegt, und mißmutigen Autopflegern fallen an ihren Karossen Defekte ins Auge, die sie zu Hause monatelang übersehen. Da erwacht der Reparatureifer, die Bastelwut, da wird im Gedächtnis gekramt, was man denn das Helferteam so alles fragen könnte. An solchen Tagen darf Lothar Peter Reiserouten im Dutzend erläutern, Sachverständiges über die Wassertemperatur des Ossiacher Sees verkünden, fachsimpeln über die Unterschiede zwischen den Campingplätzen in Grado und Caorle.

Doch dann tut’s plötzlich eine Zündung nicht so, wie sie’s sollte, und Sepp liegt stundenlang über der geöffneten Motorhaube, mißt Spannungen, probiert aus, rätselt, probiert erneut und nichts passiert! Längst hat ihn der Ehrgeiz gepackt, und man merkt ihm den Ärger an, wenn er, was selten vorkommt, am Ende doch klein beigeben muß: „Fahren Sie zur Werkstatt.“

Dies ist der Moment, da der Mann auf dem Klapprad deutlich zu verstehen gibt, daß er es schon die ganze Zeit gewußt habe.

Der Mann auf dem Klapprad taucht zuverlässig immer dann auf, wenn die ACE- und ARBÖ-Mannen ganz was Kniffliges zu tun bekommen. Meist ist er mittleren Alters, mager, gern trägt er zur kurzen Trevira-Hose ein geripptes Unterhemd. Er beugt sich, eine Sandale auf der Erde, die andere auf dem Fahrradpedal, über verhexte Motoren, er schaut Sepp Hofer zu, wie der in seinen Werkzeug- und Ersatzteilkisten kramt, beide ahnend, das gesuchte Teil, eben das, werde wohl gerade nicht vorhanden sein. Allgegenwärtig und lästig wie eine Fliege ist er, nur größer. Und er spricht, wenn man den Fehler macht, ihm ins Gesicht zu sehen.

Deshalb macht das Campen ja gerade in der Hochsaison den meisten Spaß: Man hockt eng beieinander und ist doch anonym. Man braucht sich seiner Schwächen wegen nicht wie im Alltag zu genieren, und man kann sich obendrein auch noch an den Macken der anderen ergötzen. Wann sonst ist soviel Gelegenheit zur Schadenfreude gegeben, dieser aufrichtigen Variante menschlicher Heiterkeit?

Natürlich hört man es gern, daß der Zeltplatznachbar Wasser in den Öleinfüllstutzen seines Wagens gegossen hat, weil „da was qualmte“. Natürlich macht es Spaß zuzusehen, wie jemand, weil er den Rat erhielt, seinen arbeitsunwilligen Kühlschrank „um 180 Grad zu drehen“, auf daß die Kühlflüssigkeit wieder in Bewegung komme, sich darangibt, seinen Wohnwagen mühsam um dessen Achse zu schwenken. Natürlich kolportiert man auch alle Witzchen weiter. Beispielsweise jenes von dem Fahrer, der in Triest eine Panne hatte, beim Adria-Service anrief und, als er gefragt wurde, in welcher Straße er denn zu finden sei, einen Blick aus der Telephonzelle warf und dann antwortete: „Senso unico.“

Die Einbahnstraßen freilich sind an der Adria noch nicht zweisprachig ausgeschildert. Sonst aber scheuen die geschäftstüchtigen Einheimischen keine Mühe, den Gästen aus dem Norden entgegenzukommen. Die Pizzen schmecken in Bibione genauso wie in Gütersloh, belegt sind sie mit Wiener Würsteln. Wenn jemand statt eines Bieres ausnahmsweise doch mal ein Glas Weißwein in der Strandbar bestellt, bekommt er ungefragt sirupsüßen Frizzantino.

Kioske und Imbißbuden werden auf Hochglanz poliert, und jeder Hüter von Campingplatzordnungen sorgt für deren peinlichste Einhaltung. Dafür kassieren manche Campingplätze von den Tedeschi mitunter mehr, als die Übernachtung in einer Pension kosten würde.

Doch die Touristen zahlen willig, vielleicht, weil sie immer wieder dem erliegen, was sie für den diskreten Charme des mediterranen Menschen halten. Nicht einmal die ortskundigen ACE-Berater sind dagegen gefeit.

Es ist schon dunkel, die Musik wird lauter im Strandimbiß „Snoopy“. Da beginnt der dicke Wirt, bislang ernst und geschäftig, sich in den Hüften zu wiegen und lauthals einen Schlager mitzuträllern, während er weiter Hot dogs in Papierservietten legt.

Lothar Peter hebt den Kopf, atmet tief durch und strahlt: „Ja, so sind sie, die Italiener.“

  • Quelle DIE ZEIT, 9.8.1985 Nr. 33
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