Uwe Knüpfer
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Wechsel im Amt des Staatsministers für Kultur: Sieg der Provinz

24/11/2000

 
Braucht Deutschland, braucht die Berliner Republik einen Staatsminister für Kultur? Gerhard Schröder war dieser Ansicht, und in Michael Naumann schien er die Idealbesetzung gefunden zu haben.

Nun ist Naumann gescheitert; zum Teil an sich selbst, zum Teil aber auch daran, dass zu unklar blieb, was seine Aufgabe war.

Naumann ist ein Feuilletonist, ein Mann des Wortes und der Texte. Geistreich, elegant, weltläufig. Schröder stand er gut.

Berlin tat es gut, dass Naumann wirbelte. Fast zwei Mrd Mark schaffte Naumann für Berliner Museen, Gedenkstätten und Musentempel an, und das unter den kritischen Augen des Sparkommissars Eichel.

Die Hauptstadt wird es Naumann danken, der nun nach Hamburg ziehen will, um dort Mitherausgeber einer Wochenzeitung - Die Zeit - zu werden.

Naumann brachte Ästhetik in die Politik und nach Berlin, oder zumindest schien es so. Doch je erfolgreicher er Berlin dekorierte, desto misstrauischer wurde er von außerhalb der Hauptstadt aus beobachtet. Weil man dort weiß, dass auch in der Kulturpolitik eine Mark nur einmal ausgegeben werden kann: entweder in Berlin oder der Provinz.

Als Naumann dann noch - in der Zeit - gegen die Kulturhoheit der Länder polemisierte (Verfassungsfolklore), brach ein Sturm der Entrüstung los.

Berlin ist nun Regierungssitz. Eine Mehrheit des Bundestages hat es so gewollt. Doch eine Hauptstadt, die alles an sich zieht - Geld und Geist, die besten Regisseure, die Eliten dieser Republik -, die will die Mehrheit der Deutschen nicht. Das hat Naumann nicht begriffen.

Sein Amtsnachfolger Julian Nida-Rümelin war bisher Kulturreferent in München. Das lässt hoffen, dass Deutschland sich auch künftig viele heimliche Hauptstädte gönnt.

Kein Herz für Kinder

1/1/1990

 
Korrespondenten der New York Times in vielen Ländern der Welt haben ausgeschrieben, wie es Fremden mit Kindern dort ergeht. Sie geben ihren Lesern Tips, wohin sie als Touristen mit ihren Sprößlingen zu deren Unterhaltung gehen können.

In London empfiehlt sich ein Besuch im Zoo, in Moskau der Gang ins Puppentheater. In China, so erfahren wir, kann man immerhin prächtiges Kriegsspielzeug erwerben, wenn auch keine Wegwerfwindeln. Toll für Kinder sind Griechenland und Spanien. Probleme entstehen in Moskau, schon allein, weil es dort keinen McDonald’s gibt. Dabei sind die Russen im Grunde kinderlieb. Ganz anders als wir Deutschen. Für New York Times-Korrespondent James M. Markberg zählt die Bundesrepublik zu jenen Ländern, die eine amerikanische Familie auf Reisen besser meidet: ‚Wenn Sie mit Ihren Kindern eine schöne Zeit in diesem Teil der Welt erleben wollen, nehmen Sie sie mit nach Holland. Dort lieben sie Kinder.“

Nicht daß es in Deutschland keine Attraktionen gäbe: Da wäre immerhin die Fußball-Bundesliga – die aber dummerweise ausgerechnet im Sommer pausiert. Doch in dieser Jahreszeit, schreibt Markham, entschädigt die Kleinen eine Bootsfahrt auf dem Rhein oder ein Museumsbesuch: „Das Deutsche Museum in München ist ein Smithsonian im Kleinformat.“

Auch seien die Parks schön und zahlreich hierzulande; das wär’ schon was: „Doch die Rasenflächen sind für Hunde gedacht und nicht für Kinder.“

Außer in den ihnen zugewiesenen Reservaten, so sieht es der Autor, sind Kinder in Deutschland im Grunde allerorten unerwünscht. Und nur ein langes deutsches Hauptwort scheint ihm „schrecklich“ genug, dieses Verhalten treffend zu benennen Kinderfeindlichkeit.

„Wenn meine Kinder mit dem Bus zur Schule fahren, treffen sie regelmäßig auf ältere Deutsche, die sie herumstoßen, quetschen und ihnen den Sitzplatz streitig machen; lachen die Kinder oder werden sie beim Scherzen laut, werden sie mit barschen Drohungen zur Ordnung gerufen – jedenfalls wird der Versuch unternommen.“

Zwar klebten sich die Deutschen gerne Aufkleber an ihre Autos, die behaupten, der Fahrer besitze „Ein Herz für Kinder“, aber „ihre aggressive Fahrweise führt zu fürchterlichen Unfällen mit Kindern im Straßenverkehr“.

An Kreuzungen und Übergängen mit Ampeln sollten sich Touristen daher besser deutschen Gewohnheiten anpassen, rät Markham: stehenbleiben, warten, sich nach den Signalen richten. Aber auch nur dort, denn: „Die einzige Möglichkeit für einen Touristen, mit der allgegenwärtigen Kinderfeindlichkeit klarzukommen, besteht darin, die Einheimischen einfach zu ignorieren. Wenn ältere Menschen mittels böser Blicke versuchen, Ihre Kinder zu bändigen, blicken Sie genauso böse zurück!“ Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 20.7.1984 Nr. 30

Nicht Vater, nur Erzeuger

1/1/1990

 
Der beschwerliche Weg durch die Bürokratie von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 31. August 1984  08:00 Uhr  Der Gesetzgeber hat es bewußt in Ihr eigenes Interesse gelegt, mit der Mutter Ihres Kindes verheiratet zu sein.“ Der Standesbeamte lehnt sich würdevoll zurück und schaut den stolzen, doch ledigen Vater auf der anderen Seite seines Schreibtisches beschwörend an. „Stellen Sie sich vor, Ihr Kind darf ja von Rechts wegen noch nicht einmal ‚Papa‘ zu Ihnen sagen! Vor dem Gesetz sind Sie nur sein Erzeuger.“

Der Ehrentitel Vater ist Ehemännern vorbehalten. Die Diskriminierung unehelich geborener Kinder wurde wirksam bekämpft, auch ledige Mütter stehen heute in vielerlei Hinsicht besser da als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ledige Väter hingegen sind nicht nur rechtlos gegenüber ihren Kindern, sie müssen sich, haben sie mit Ämtern zu tun, Diskriminierungen und Schikanen gefallen lassen.

Benjamin wurde zu Hause geboren. Die Hebamme bescheinigte die Geburt. Der Vater, der rechtlich keiner ist, ging zum Standesamt, um das freudige Ereignis der Behörde zu vermelden. Da sitzt er nun, diktiert den Namen der Mutter und gibt auch seinen eigenen an. „Benjamin“, fügt er hinzu, solle sein Sohn heißen. Der Beamte bedauet: „Das sagen Sie. Wir brauchen aber eine schriftliche Bestätigung der Mutter, daß sie diesen Namen will.“ Das leuchtet dem Vater ein.

Doch dann bekommt er die Geburtsurkunde, liest sie und wundert sich. Unter „Eltern“ steht dort nur der Name der Mutter, sodann: Punkt–Strich-Punkt. Noch immer frohgestimmt, erinnert er daran, daß er seinen Namen doch schon nannte „Ja, das ist auch wichtig. Wir müssen schließlich wissen, wer die Geburt gemeldet hat“, lautet die Antwort. Ob das denn ernstlich nötig sei, will der naive Vater wissen und bietet an, zur Bestätigung seiner Vaterschaft gern eine schriftliche Bestätigung der Mutter beizubringen.

Geduldig holt der Beamte aus, erläutert die Rechtslage: „Bei nicht ehelich geborenen Kindern tritt automatisch eine Amtspflegschaft ein. Das Jugendamt erhält von uns eine Nachricht und wird dann Ihre ... äh... Frau vorladen und nach Namen und Anschrift des Erzeugers fragen. Kann sie beides angeben, werden als nächstes Sie angeschrieben und ebenfalls vorgeladen. Man wird Sie dann fragen, ob Sie die Vaterschaft anerkennen. Wenn Sie ja sagen, erhalten wiederum wir vom Jugendamt darüber eine Mitteilung.“

Der Standesbeamte holt ein dickes Buch hervor, in dem die Gemeinde alle angezeigten Geburten chronologisch festhält. Er schlägt es auf: „Dort, an Rana neben dem Geburtsvermerk wird dann nachgetragen: Die Vaterschaft erkannte an der Soundso in Daunddort!“

Ob das nicht ein reichlich kompliziertes Verfahren sei, das sich in Fällen wie dem seinen gut abkürzen ließe, will der staunende Vater wissen. „Das Gesetz geht davon aus, daß bei nicht ehelich geborenen Kindern der Vater unbekannt ist.“

Soll das Kind getauft werden, zeigen sich die Kirchen flexibler als der Staat. „Das Kind kann ja nichts dafür, wenn seine Eltern in Unordnung leben“, sagt Domkapitular Max Huber aus dem schwarzen Passau.

Auch der protestantische Pastor, fragt: „Warum laßt ihr euch denn nicht konsequenterweise auch trauen?“ Die Frage sei „werbend“ gemeint, beteuert Albrecht von Mutius aus dem Evangelischen Büro in Düsseldorf. Er könne durchaus begreifen – nicht billigen –, daß viele junge Leute heute die Institution Ehe „als Fessel verstehen und nicht als eine Chance“.

Kompliziert wird es für Benjamins Eltern erst wieder bei der Lohnsteuerstelle im Einwohnermeldeamt. Sie möchten, daß Benjamin auf der Lohnsteuerkarte des Vaters eingetragen wird. „Sie sind ja nicht verheiratet!“ Der Schalterbeamte hat verdächtig lange den Bildschirm seiner elektronischen Einwohnerkartei studieren müssen. Was nun klingt wie ein Vorwurf, entspringt seiner Ratlosigkeit. Der Beamte entschuldigt sich, sucht seinen Vorgesetzten auf. Derweil wächst die Menschenschlange am Schalter.

Zurückgekehrt auf seinen Stuhl hinter der milchglasbewehrten Theke, verkündet er: „So geht das nicht. Sie müssen sich erst vom Jugendamt bestätigen lassen, daß Sie gemeinsam in einem Haushalt wohnen.“ Benjamins Mutter will das nicht einleuchten. „Wer“, fragt sie, „soll das denn wissen, wenn nicht das Einwohnermeldeamt?“ Kurzes Nachdenken seitens des Beamten, dann: „Wir kennen ja nur Straße und Hausnummer. Wie sollen wir denn wissen, ob Sie in derselben Wohnung leben?“ Einwand der Mutter: „Und woher soll das Jugendamt das wissen? Die Amtspflegschaft ist aufgehoben.“ Der Beamte ist ein freundlicher Mann, ein sehr junger übrigens dazu. „Ich telephoniere“, bietet er an, „und frag’ mal nach.“ Unmut in der Warteschlange.

Als der Beamte zurückkehrt, klärt sich der Fall nach Art der Bürger von Schilda: „Beim Jugendamt ist der Vorgang tatsächlich nicht vorhanden.“ Kunstpause. „Aber ich habe mit dem Kollegen gesprochen, er weiß jetzt Bescheid. Sie brauchen nur hinzugehen, erklären, daß Sie zusammen wohnen, und dann kommen Sie mit der Bescheinigung zurück.“ Benjamins Mutter würde gern noch fragen, warum sie eine solche Erklärung nicht an Ort und Stelle schon abgeben kann. Doch die Menge drängelt, und Benjamins Vater wiegelt ab. Er möchte das Erreichte nicht gefährden.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 31.8.1984 Nr. 36

Aktion Schulkultur: Es fehlen die Worte

1/1/1990

 
Was Schule ist, weiß jeder. Hier liegen sinnliche Erfahrungen vor. Auch unter Kultur vermag sich der eine oder die andere durchaus etwas vorzustellen. Aber was ist Schulkultur?

Natürlich, da steht Ciceros/Heisenbergs gipserne Büste in der Aula des Gymnasiums, oder es überfällt uns die Erinnerung an den weißhaarigen Musiklehrer, der alle Sextaner zum Tonleiterabsingen antreten ließ; zwecks Rekrutierung geeigneter Talente zur Komplettierung des Schulchors. Kultur, so lernten wir daraus, ist etwas Hehres, Ernstes, Getragenes, kurz: ist nicht von dieser Schülerwelt.

Nun begibt es sich aber seit geraumer Zeit immer häufiger, daß Menschen sich, teilnehmend an Ereignissen, die den amtlichen Stempel „Kultur“ tragen dürfen, ganz offensichtlich famos amüsieren. Im Schauspielhaus zu Bochum etwa erklingt frohes Lachen sogar, wenn brandaktuelle Inszenierungen zu sehen sind – ja gerade dann. In einigen Museen sieht man die Bilder oder die geblümten Kaffeetassen kaum vor lauter Kindern. Es ist schon lange wieder chic, die geplante Bebauung eines Stadtplatzes unter ästhetischen mehr als unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten zu diskutieren.

Die Kultur, so schließen wir daraus, ist von ihrem hohen Sockel gestiegen (oder gefallen), und siehe da, jetzt ist sie mitten unter uns.

Davon, meinten die weisen Väter der Stadt Münster in Westfalen, müßte eigentlich auch etwas in den Schulen zu bemerken sein. Und so baten sie schon 1980, und seither alljährlich mit ständig wachsendem Erfolg, die Schüler und die Lehrer ihrer Stadt, doch öffentlich mal vorzuführen, was sie derzeit unter Kultur verstehen. Den gleichen Appell richteten sie jetzt an die 23 anderen nordrhein-westfälischen Großstädte, die, gemeinsam mit Münster und Osnabrück, das „Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit“ mit Sitz in Wuppertal unterhalten.

Von der Resonanz auf ihren Aufruf waren die Initiatoren, so sagen sie, selbst überrascht. Fast 300 Projekte wurden vorgeschlagen. 67 davon werden am 10. November in der Halle Münsterland, wo sonst Bullen versteigert werden, zu sehen und zu hören sein. Fast 1400 Grund-, Haupt-, Sonder-, Realschüler und Gymnasiasten aus allen Teilen des Landes werden dann dort musizieren, Selbstgereimtes rezitieren, parodieren, tanzen oder Ausstellungen, ja gar „Environments“ zeigen.

„Schulkultur NW 85/86“ nennt sich das Ganze. Die Münsteraner Großveranstaltung soll erst der Auftakt sein einer Serie, dann dezentraler Aktionen gleicher Art. Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier hat dazu nicht nur seinen Segen gegeben, sondern auch gleich seine Teilnahme an der Auftaktveranstaltung in Aussicht gestellt. Dort kann er sich dann (wenn er sich beeilt beim Gang durch die Halle) erst türkische Folklore anhören, danach vielleicht eine „Kindersymphonie“, flugs darauf die „8×5×1-Rockband“, als Schmankerl zwischendurch „... es muß nicht immer Marzipan sein“ (eine Revue), bevor er, gegen Abend, erschöpft aber glücklich den satten Sound einer Schüler-Big-Band genießt.

Wer das Programmheft des Tages der schulischen Kultur durchblättert, gewinnt den Eindruck, es gibt nichts, womit sich Lehrer und Schüler (ganz normaler Schulen) heute nicht beschäftigen: Stadtgeschichte, Pantomime, Videos, „Wohnen“, Kabarett, Musical, Märchen – und das alles, da sind sie ganz unbefangen, gilt ihnen als Kultur.

Sollte dem Minister bei seinem Bummel von Bühne zu Bühne der Überblick abhanden kommen, kann er zwischendurch dem Münsteraner Literaturprofessor Gunter Reiß lauschen. Der will über das „Lernziel Kultur?“ – mit Fragezeichen – referieren.

Reiß wurde engagiert, das einjährige Projekt wissenschaftlich zu begleiten. Überbau muß sein; ganz ohne höhere Weihen geht es ja doch nicht. Das ist deutsch. Undeutsch hingegen scheint das Spektakel selber zu sein. Denn in dessen Mittelpunkt stehen Darbietungen mit Titeln wie „Lieder erfinden“ oder „Theater“, an denen jeder Besucher, so er will, teilnehmen kann. Workshops nennt man so etwas, und die Initiatoren schließen sich dem an. Germanist Reiß beteuert: Dem Deutschen fehlen die Worte. Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 1.11.1985 Nr. 45

Los geht's - aber bitte mit Köpfchen

1/1/1990

 
Kultusminister Hans Schwier möchte mit der neuen Technik die Allgemeinbildung retten von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 29. November 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Wieviel Informatik braucht der Mensch? Ist der Computer im Klassenzimmer die neue große Lernhilfe, die gequälten Pädagogen zu der beglückenden Erfahrung verhilft, daß es doch noch fleißige, begeisterungsfähige, konzentriert lernende Schüler gibt? Oder macht er, im Gegenteil, jede pädagogische Anstrengung zunichte, förderte er die schleichende Digitalisierung des Bewußtseins, produziert er, als Medium der Welterfahrung, Menschen, die, wie der Computer nur zwischen eins und null, ihrerseits nur zwischen schwarz und weiß zu unterscheiden vermögen? Menschen mit Mattscheibe also, die „Dallas“ für die Wirklichkeit nehmen?

Seit gut zwei Jahren wogt dieser Streit in deutschen Klassenzimmern, Seminarsälen und Zeitungsspalten hin und her. Nun, allmählich, legt sich der Rauch, und erkennbar wird: Die Fronten haben sich verschoben, die staatliche Anstalt Schule nimmt ihn an, den Computer.

Als erstes Bundesland hat, jetzt im Herbst, ausgerechnet das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen ein Rahmenkonzept „Neue Informations- und Kommunikationstechnologien in der Schule“ vorgelegt. Danach sollen künftig zwischen Aachen und Paderborn, zwischen Siegen und Münster alle Schüler der Jahrgangsklassen sechs bis acht ein informationstechnisches Grundwissen erwerben, und zwar in den Unterrichtsstunden traditioneller Fächer. Ein eigenes (Wahl-)Fach Informatik wird es erst ab Klasse neun geben. Es kann dann auch Abiturfach sein.

Zunächst sollen 24 ausgewählte Schulen das Rahmenkonzept erproben und mit Erfahrungen füllen. In einigen Grundschulen wird zudem ausprobiert werden, ob der Rechner mit Glotze auch schon für die Kleinsten als Lernmittel taugt.

Daß Nordrhein-Westfalen es plötzlich so eilig hat, mag auf den ersten Blick verwundern. Hatte man sich doch daran gewöhnt, daß die lautesten Chip-chip-Hurra-Rufe aus den Kultusministerien der CDU-regierten Länder schallten, gleichsam als Echo auf Prophezeiungen aus dem Dunstkreis der Industrie, schon 1990 würden 70 Prozent aller Bundesbürger im Alltag mit neuen Informationstechniken zu tun haben. Das Computern werde bald so wichtig sein wie Schreiben, Lesen und Rechnen. Wie die anderen drei müsse die Schule auch diese neue, vierte, „Kulturtechnik“ vermitteln. Warnend wurde vorgerechnet, wie viele Rechner und Terminals bereits in amerikanischen oder britischen Schulen stehen. Offenbar zutiefst besorgt um das Weltniveau des deutschen Bildungswesens überschwemmten die Computer-Hersteller die Schulen mit Sonderangeboten. Ergebnis: Schon jetzt dürfte mindestens jede zweite deutsche Lehranstalt über elektronische Rechner irgendwelcher Art und Güte verfügen.

Am computerfreudigsten sind die Gymnasien. In Nordrhein-Westfalen sollen, nach Berechnungen des Landes-Kultusministeriums, bereits jetzt 85 Prozent aller Schulen dieses Typs mindestens Zugang zu einem Rechner haben. Ziel sei es, daß für je höchstens drei Schüler ein Terminal zur Verfügung steht.

Noch erheblich quicker bei der Anschaffung von Schulrechnern als sein Düsseldorfer Kollege gibt sich der Kultusminister von Niedersachsen. 20 Millionen Mark hat er im Sommer zu diesem Zweck bereitgestellt.

Mancherorts entschieden sich auch Städte als Schulträger oder gar um die Aktualität der Bildung ihrer Sprößlinge besorgte Eltern im Alleingang für den Kauf den Schulen günstig offerierter Hardware.

Nicht selten stellte sich erst anschließend heraus, daß der schönste Computer nichts taugt, wenn es an kindgerechten Programmen, an der Software, mangelt. Und wenn es an Lehrern fehlt, die sich damit auskennen. Der nackte Rechner allein verliert für die meisten rasch den Reiz des Neuen. In der schuleigenen Gerätekammer verstaubt er dann bald Seit an Seit mit dem Bandwurm in Spiritus und der Wandkarte über die geologische Beschaffenheit der Anden.

„Die Innovationen von heute sind die Fossilien von morgen“, teilte der Bremer Didaktik-Professor Hans Brügelmann den Lesern der Süddeutschen Zeitung mit. Noch immer, da besteht kein Zweifel, entwickelt sich die Informationstechnik in rasantem Tempo. Wer eine sichere Wette gewinnen will, sollte darauf setzen, daß heute teuer beschaffte Geräte schneller veralten, als der gebeutelte Schuletat sich von diesem finanziellen Kraftakt wieder erholt.

Nordrhein-Westfalens Kultuminister Hans Schwier legt in seinem Rahmenkonzept denn auch mehr Wert auf die Entwicklung von schüler- und lehrerfreundlichen Aneignungsmethoden der neuen Techniken als auf die eilige Anschaffung zusätzlicher Hardware. Er nimmt – bedauernd? – zur Kenntnis, daß der Umgang mit dem Computer für viele Jugendliche längst so selbstverständlich ist wie der mit einer Mofa oder einem Walkman. Er akzeptiert diese Tatsache als eine „Herausforderung an die Schule“ und versucht, sich die Erfahrungen engagierter Lehrer, die sich eben dieser Herausforderung früher als er, aus eigenem Antrieb, gestellt haben, zunutze zu machen.

Nicht: „Ja, so schnell wie möglich!“, auch nicht: „Um des Buches willen: Nein!“ sei die beste Antwort auf die allen Kultusministern gestellte Frage „Wollt ihr Computer für Eure Schulen?“, meint der Sozialdemokrat Schwier, sondern ein entschiedenes: „Ja, aber ...“

„Reflektieren“ ist eines seiner Lieblingsverben. „Kompetent, vernünftig und verantwortungsbewußt“ sollen Nordrhein-Westfalens Schulabsolventen künftig mit den elektronischen Informationstechniken umgehen können. Dahinter mag man die alte Pädagogen-Erfahrung vermuten, wonach nichts so fasziniert wie das, was verboten ist. Im Umkehrschluß: Das geheimnisvollste Gedicht verliert seinen Liebreiz, der knalligste Comic seinen Pep, wenn sich ein Pädagoge ihrer annimmt.

Stimmt das, verlieren auch Computer und Bildschirm, aus Sicht der Skeptiker, bald an Bedrohlichkeit. Noch freilich scheint ihnen des Schülers Herz zu gehören, scheinen sie ihn blind und taub zu machen für andere wichtige Dinge wie Rechtschreibung, Geschichte und Latein.

Mit seinem „Ja, aber“ zu den „Neuen Technologien“ will Minister Schwier in Wahrheit die gute alte Allgemeinbildung retten. Die Welt von morgen verlange nicht, heißt es in seinem Rahmenkonzept, nach mehr Spezialisten. Sie benötige vor allem „besser gebildete Menschen, also Menschen, die in der Lage sind, in einer Welt, die immer mehr in Einzelinformationen zerfällt, Gesamtzusammenhänge zu erkennen, zu reflektieren, Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend praktisch zu handeln“.

Heim- und Arbeitsplatzcomputer der nächsten und übernächsten Generation, da geben alle Experten dem Minister recht, werden entschieden leichter zu bedienen sein, als die heute käuflichen Geräte. Mit elektronisch gespeicherten Daten zu hantieren wird demnach künftig so selbstverständlich, aber auch so simpel sein, wie heute der Umgang mit der Elektrizität.

Nur eine kleine Minderheit von Spezialisten wird Computer bauen und Programme schreiben, fast alle Bürger aber werden beides anzuwenden haben. Vor diesem Zukunftsbild wäre es ein entscheidender Verlust an Chancengerechtigkeit, wenn der frühzeitige Umgang mit Computern nur Kindern aus begüterten Elternhäusern möglich bliebe, wenn nur Privilegierte die doppelte Chance besäßen, qualifizierte Informatiker oder aber auch nur kundig-nüchterne Benutzer eines Terminals zu werden.

So sieht es momentan aber aus. Noch sind Computer, allen Sonderangeboten zum Trotz, ein teures Spielzeug. In Sozialbauwohnungen sind sie selten zu finden. Hans Schwier dürfte es deshalb nicht sonderlich schwerfallen, auch nostalgisch gestimmte Parteigenossen davon zu überzeugen, daß sein beherztes „Ja, aber“ voll in der Tradition sozialdemokratischer Politik steht.

Mindestens so rar wie Arbeitslosenkinder, die sich fürs Digitale handfest begeistern können, sind Mädchen, die das wollen. In Computer-Camps, an den Vorführgeräten in Kaufhäusern, in schulischen Interessengemeinschaften sind sie hoffnungslos in der Minderheit. Am ersten Bundeswettbewerb Informatik haben sich nur drei Mädchen beteiligt, aber fast 150 Jungen.

Bevor Feministinnen nun aufschreien, glaubend, ihre jungen Geschlechtsgenossinnen verlören den Kontakt zum Schalthebel der Zukunft, sollten sie einen Blick nach Dortmund werfen.

Dort, an der Universität, sitzt das Institut für Schulentwicklungsforschung. Und das hat 1050 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren nach dem Einfluß von Kabelfernsehen und Computern auf ihre Freizeit und ihren Schulalltag befragt. Zwei der Resultate: Erstens: Gute Schüler verbringen weniger Zeit vor dem Bildschirm als schlechte Schüler. Zweitens: Es sind in der Mehrzahl die schlechteren Schüler, die es zum Computer zieht. Wer viel liest, hat die besseren Noten.

  • Quelle DIE ZEIT, 29.11.1985 Nr. 49

Tauziehen ohne Ende

1/1/1990

 
Wie sich die Kultusminister in die Sackgasse geredet haben Von Uwe Knüpfer

Eine Posse. Beteiligt sind: die Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, Hans Schwier also, Hans Maier und Gerhard Meyer-Vorfelder. Zudem der Philologenverband. Gegenstand der Erregung: die 22 nordrhein-westfälischen Kollegschulen. Oder genauer: Die Tatsache, daß an diesen, wie man sie nennen könnte, Schulen mit gymnasialer Oberstufe, neben anderen Abschlüssen auch die allgemeine Hochschulreife erworben wird. Oder, noch genauer: daß Hans Schwier einen versprochenen Bericht angeblich nicht abgeliefert hat. Oder doch, aber den falschen. Oder den richtigen zu früh.

Starke Worte. „Billig-Abitur!“ wettert der Philologenverband und zitiert einen Bericht, den, so sein nordrhein-westfälischer Pressesprecher, „niemand kennt“.

Aus München kommen dunkle Drohungen. Es sei höchst fraglich, ob das Kollegschul-Abitur weiterhin anerkannt werden könne. Man erwarte gespannt den längst zugesagten Zwischenbericht aus Düsseldorf. Eine Schlamperei, klingt es zwischen den Zeilen durch, eine unverantwortliche noch dazu. Denn was soll man davon halten, wenn das Land Nordrhein-Westfalen einen Schulversuch startet, sich dazu die Zustimmung der anderen Länder-Kultusminister einholt, sich dabei auf eine Frist einläßt und dann diese Frist verstreichen läßt, ohne den zugesagten Bericht zu erstatten, ja, ohne sich bei den anderen Ländern zu erkundigen, ob die denn bereit sind, auch weiterhin Abiturienten aus Kollegschulen in ihren Universitäten studieren zu lassen?

Wer wollte da nicht dem Sprecher des Stuttgarter Kultusministers zustimmen, der ein solches Vorgehen dreist findet und von einer „Geheimdiplomatie“ der Düsseldorfer spricht, von einer „Kollegschul-Komödie“, in der mitzuspielen man nicht länger bereit sei – „so bedauerlich das für die Schüler sein mag“.

Billig-Abiturienten vom Kolleg? Bedauerlich, in der Tat. 50 000 Schülerinnen und Schüler besuchen derzeit eine Kollegschule. Rund 900 von ihnen gehen Jahr für Jahr in die Abiturprüfung. Sie alle, ihre Eltern, ihre Freunde, haben in den letzten Wochen reichlich Anlaß gehabt, sich über Zeitungsschlagzeilen aufzuregen. Wer hält sich schon gern für einen Billig-Abiturienten? Und schlimmer noch: Lebensplanungen scheinen über Nacht in Frage gestellt, Wer 1986 das Abitur machen will, ist verunsichert, weiß nicht mehr, ob er noch studieren kann, wo er will und wo er glaubt, in dem von ihm gewählten Fach am besten lernen zu können. Eine Posse?

Bis vor kurzem noch haben außer den betroffenen Schülern, Eltern, Lehrern nur ein paar Insider, meist Ministerialbeamte oder Pädagogik-Professoren, vielleicht noch zwei oder drei Journalisten mit ausgeprägtem Langzeitgedächtnis, gewußt, was Kollegschulen eigentlich sind. Das ist auch kein Wunder. Das Wort Kolleg, abgeleitet vom englischen College, erfreute sich bei den Bildungsplanern der 70er Jahre einer ausgesprochenen Beliebtheit (möglicherweise, weil jedermann dabei sofort an grünen Rasen und adrette, freundliche Studenten denkt).

Was nennt sich heute nicht alles Kolleg. In Nordrhein-Westfalen heißen Schulen so, auf denen Erwachsene das Abitur nachholen können. Mit den Kollegschulen, um die es hier geht, haben sie ebensowenig zu tun wie mit Hartmut von Hentigs berühmten Kolleg-Studien-Versuch in Bielefeld. Oder etwa mit der Kollegstufe an bayerischen Gymnasien.

Die Idee der Kollegschule geht zurück auf Überlegungen des Bildungsrates aus den frühen 70er Jahren, auf damals wohl in der gesamten Republik angestellte Überlegungen, wie sich berufliche und allgemeine Bildung zusammenfügen ließen. Anderswo und standen technische oder berufliche Gymnasien, „Fachgymnasien Technik“ oder „Hauswirtschaftswissenschaftlichen Typs“, und wie sie alle heißen. Gustav Grüner hat (in: „Die berufsbildende Schule“, Heft 33, 1981) 66 verschiedene Bezeichnungen für diese Schulform aufgezählt.

Das Kollegschul-Modell entwarf eine Kommission mit dem inzwischen verstorbenen Münsteraner Professor Herwig Blankertz. Wer diese Schule verläßt, soll eine „Doppel-Qualifikation“ in der Tasche haben. Er soll einen Beruf erlernt und gleichzeitig, je nach Fortbildung, Talent und Eifer, einen Hauptschulabschluß, die Fachoberschulreife oder gar das Abitur erworben haben. In den ersten drei Jahren funktioniert die Kollegschule wie eine normale Berufsschule: Ausbildung im Betrieb und Unterricht laufen nebeneinander her. Nur daß Kollegschüler sechzehn Wochenstunden lang die Schulbank drücken müssen, „normale“ Berufsschüler nur zwölf Stunden lang.

1976 schlossen die Kultusminister der Länder eine Sondervereinbarung, sie verpflichteten sich, bis zum 31. Juli 1985 die von Kollegschulen ausgestellten Zeugnisse der Hochschulreife überall anzuerkennen. Im Mai 1983 teilte der Düsseldorfer Kultusminister seinen Kollegen mit, der Schulversuch solle verlängert werden. Daher sei nun „die Anerkennung dieser Abschlußzeugnisse nach dem 31. Juli 1985 sicherzustellen“. Dem Schreiben beigefügt wurde ein Zwischenbericht, ergänzt um statistisches Material. Der Minister bot an, in der 215. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz zusätzlich Auskunft zu geben, „falls dies gewünscht wird“.

Es wurde nicht gewünscht. Der Minister gab seinen Zwischenbericht nebst Schreiben pünktlich vor jenem Zeitpunkt ab, zu dem Schüler in die Jahrgangsklassen zwölf eintraten, die das Abitur frühestens 1986 würden erwerben können. Eine Schlamperei?

Diese Schüler haben Namen. Sie heißen, zum Beispiel, Bernd Stallmann und Engelbert Kramer. Beide gehen in die dreizehnte Klasse der Städtischen Kollegschule und Fachschule für Technik Duisburg-Nord. Die Schule, ein 52 Jahre alter Backsteinbau, ergänzt um einen Neubauteil, steht zwischen den Duisburger Stadtteilen Marxloh und Hamborn, in einer Gegend, in der es nach Stahl und Arbeit förmlich riecht. August-Thyssen-Straße 45 lautet ihre Adresse. Und das ist kein Zufall. Die rund 3500 Schüler, die diese Schule besuchen, haben oder hatten allesamt Ausbildungsverträge mit Stahlunternehmen. Die meisten kommen von Thyssen. Das Unternehmen unterstützt den Schulversuch. Wer bei ihnen „Azubi“ wird, muß zur Kollegschule. Das ist Bedingung.

Die Schüler der dreizehnten Klasse haben ihre betriebliche Ausbildung inzwischen längst hinter sich; sie sind Oberprimaner und Facharbeiter zugleich. Angst vor drohender Arbeitslosigkeit scheinen sie allesamt nicht zu haben. Der Ausbildungsbeauftragte von Thyssen bestätigt: Natürlich werde man später bevorzugt Diplomingenieure einstellen, die schon bei Thyssen gelernt haben.

Die meisten der vierzehn Schüler wollen ein technisches Fach studieren. Hütten- und Datentechnik sind ihre Favoriten.

Zusatzstunden für Schöngeister Der Lehrplan der Kollegschulen wie auch die Abiturprüfungen entsprechen den jeweils geltenden Länderübereinkünften für Lehrpläne und Prüfungen der Gymnasien. Und doch, dies bestätigen auch erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen, kommen die musischen Fächer oft zu kurz. Absolventenbefragungen zeigten, zwar würden die meisten wieder zur Kollegschule gehen und auch anderen diese Schulform unbedingt empfehlen, aber viele hätten, im Rückblick, doch etwas mehr „über den Bauch“ lernen wollen.

Die meisten Kollegschulen sind fortentwickelte Berufsschulen. Da haben es Kunst- und Musiklehrer, Freunde des Schöngeistigen überhaupt, oft schwer, sich im Kollegium zu behaupten. Das Düsseldorfer Kultusministerium versucht dem jetzt entgegenzusteuern. Etwa mit einem Projekt, genannt „Lernort Studio“, einem freiwilligen Zusatzunterricht.

Jede Kollegschule hat andere Schwerpunkte der beruflichen Bildung. Gemeinsam ist allen das didaktische Konzept. Es sieht einen durchgehenden, fächerübergreifenden Projektunterricht vor. So beschäftigt sich die Klasse 11.2 der Kollegschule Duisburg-Nord in diesem Jahr mit „Arbeit und Freizeit Im Religionsunterricht durchforstet sie die Bibel auf der Suche nach passenden Aussagen. In Deutsch geht es, zum Beispiel, um die Analyse und kritische Beurteilung facnsprachlicher Texte. In Gesellschaftslehre um die „Technisierung als Motor des beruflichen Wandels“ oder um die Berufsausbildung in der DDR. Die ständige Verbindung von Praxis und Theorie, das zeigt auch die schon zitierte Befragung, kommt an bei den Schülern. Wird Kritik laut, dann stets in dem Sinne: „Es könnte noch mehr Praxis sein.“

Als ausgesprochen angenehm empfanden die Befragten auch den Klassenverband. Er bleibt bis zum Abitur bestehen. Klage dagegen führten sie über die Arbeitsbelastung, vor allem wenn sie Geschwister haben, die zum Gymnasium oder zur Gesamtschule gehen. Die Wahl –, aber eben auch die Abwahlmöglichkeiten von Fächern sind auf Kollegschulen viel begrenzter als bei der allgemein-bildenden Konkurrenz.

Die wissenschaftliche Begleituntersuchung kommt in ihrem Zwischenresümee zu einer überwiegend positiven Beurteilung der Kollegschulen, insbesondere der projektbezogenen Verbindung von Theorie und Praxis und des Grundsatzes der „Doppelqualifikation“.

Woran denkt der Philologenverband, wäre zu fragen, wenn er die Befürchtung äußert, an den Kollegschulen könnten Jugendliche sozusagen durch die Hintertür die Universität betreten, die dort eigentlich nicht hingehören? Schüler etwa, die auf dem Gymnasium nicht mitkamen, abgingen, und aus denen auf den Kollegschulen nun doch noch etwas wird. Spricht das für oder gegen die Kollegschulen, für oder gegen das Gymnasium?

Die Schüler der Duisburger Klasse dreizehn scheinen die Drohungen aus Stuttgart und München nicht zu treffen. Bernd Stallmann – er will Diplomingenieur werden – meint trotzig: „Es gibt genug Unis in Nordrhein-Westfalen.“

Die Wahl der richtigen Hochschule ist für ihn und die meisten seiner Mitschüler im übrigen nicht nur eine Frage des Fächerangebotes und der Landschaft, auch die Kosten spielen eine Rolle.

Dennoch muß Hans Schwier bestrebt sein, die Anerkennung des Kollegschulabiturs in den anderen Bundesländern auch für die Zukunft zu sichern. Doch wie? Auf den 1983 vorgelegten Zwischenbericht nebst Bitte um fortgesetzte Anerkennung zu verweisen, nutzt ihm nichts.

Die Kultusministerkonferenz ist ein politisches Gremium, einklagbar ist nichts von dem, was die Herren (und wenigen Damen) dort unter sich verabreden. Daß die anderen Länder dem Kollegschulabitur ihre Zustimmung tatsächlich versagen, hält man in Düsseldorf aber auch für unwahrscheinlich. Denn das, glaubt man dort, liefe ja zwangsläufig auf eine Art von „Krieg“ hinaus. Ungewöhnliche Schulversuche gäbe es auch in anderen Ländern zuhauf, da ließe sich, als Retourkutsche, manches überprüfen und in Frage stellen. Einen solchen „Krieg“ werde doch am Ende kein Kultusminister wirklich wollen.

SPD-Missetat Schulreform Vielleicht ja doch. Die erste Regung zum Thema Kollegscnule kam aus Bayern, zu einem Zeitpunkt, der stutzen läßt. Das war im März dieses Jahres zur Wahlkampfzeit an Rhein und Ruhr und fast zwei Jahre nach der Vorlage des Düsseldorfer Zwischenberichts.

Hans Maier schrieb einen Brief, Hans Schwier antwortete. Man gab sich entschieden und kämpferisch. Maier stellte kritische Fragen, Schwier lobte seine Kollegschulen über den grünen Klee. Dann kam der Wahltag und alles schien wieder vergessen. Der 31. Juli verstrich, und niemand regte sich auf.

Bis der Philologenverband Wind machte. Nun, auf einmal, klingt es so, als sei die Kollegschule Teil einer umfassenden Strategie der Sozialdemokraten mit dem Ziel, das gegliederte Schulsystem endlich doch zu zerschlagen. Inhaltliche Einwände gegen die Kollegschule äußert, auch wenn man bohrend nachfragt, keiner ihrer Kritiker. Statt dessen hört man viel von anderen SPD-„Missetaten“: von der angeblich geplanten Zerstörung des Gymnasiums in Bremen, von den pädagogischen Fanfarenstößen, die im Saarland erschallen und von der höheren Berufsfachschule in Nordrhein-Westfalen.

Hans Schwier, der nette Ministerkollege von einst, wird jetzt als Wolf im Schafspelz dargestellt, dem man nichts mehr durchgehen lassen darf. Die bisherige, fast traute, Eintracht der Kultusminister, denen schließlich allen das Leid gemein ist, über sich einen knauserigen Finanzminister zu haben, scheint gestört. Wer weiß, vielleicht ist letztlich Johannes Rau an allem Schuld, der aus seiner Düsseldorfer Idylle partout in Richtung des Bonner Minenfelds abmarschieren will?

Und so sehen Engelbert Kramer, Bernd Stallmann und all die anderen auf einmal keineswegs mehr aus wie Komparsen in einem Possenspiel, sondern eher wie Bauern in einem Schachspiel um die Macht in Bonn. Wie hatte der Sprecher des Stuttgarter Ministers gesagt? „... So Bedauerlich das für die Schüler sein mag.“

  • Quelle DIE ZEIT, 3.1.1986 Nr. 02
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