In London und Birmingham werden Häuser in Brand gesteckt und Geschäfte geplündert. Die jugendlichen Krawallmacher rotten sich via Twitter zusammen. Kaum weniger erschreckend als die Krawalle selbst ist es, dass offenbar niemand rechtzeitig wissen wollte, was sich da zusammenbraute. Das zeigt: die Zivilgesellschaft hat Risse. Die britische Demokratie steht auf einem morschen Fundament. Nur die britische?
Ganz gleich, warum Jugendliche massenhaft kriminell werden, ob sie arbeits- und perspektivlos oder schlicht gelangweilt sind und Fun – Spaß – haben wollen: ganz offensichtlich fühlen sich diese jungen Menschen nicht als Teil der sie umgebenden Gesellschaft. Und die Gesellschaft schert sich nicht drum. Weder in Gestalt von Eltern oder Geschwistern oder Freunden, noch institutionell als Schule, Jugendamt, Medien und Politik. Mitten in London und Birmingham, so scheint es, sind schwarze Löcher in der Gesellschaft entstanden. Das lässt sich deshalb auch von Berlin aus so diagnostizieren, weil Ähnliches in Ansätzen auch in deutschen Großstädten zu beobachten ist. Im Schutze der metropolitanen Anonymität entstehen Schattenzonen, in denen Menschen leben, die von der Gesellschaft nichts, vom Staat allenfalls „Hartz IV“ erwarten – und von denen auch die sie umgebende Gesellschaft nichts mehr erwartet – außer dass sie sich ruhig verhalten und nicht randalieren. Dafür wirft sie ihnen Geld hin und schickt den einen oder anderen Sozialarbeiter los. Es sind Menschen, die keine Autorität akzeptieren. Warum nicht? Weil sie zu selten oder nie Autoritäten erlebt haben, an denen sie sich aufrichten und anlehnen konnten. Für Heranwachsende sollten Eltern, Erzieher, Lehrer, auch Nachbarn, Vereinsvorsitzende, Pfarrer, Ausbilder und Arbeitgeber solche Autoritäten sein - lange vor der ersten Begegnung mit der Polizei. Wie reagiert ein Staat auf solche Krawalle wie die in englischen Städten? Natürlich muss er zunächst für Sicherheit sorgen, die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Aber dann? Auf diese Frage gibt es nur drei mögliche Antworten: die repressive, die feige und die demokratische. Die repressive, man könnte sie aktuell auch die chinesisch-russische nennen, das heißt: die Polizeipräsenz erhöhen, das Internet stärker kontrollieren, innerstädtische Grenzen ziehen und auf Abschreckung durch hartes Durchgreifen und drastische Strafen setzen. Die feige: sich ein bisschen erregen, die Polizeipräsenz zumindest zeitweise erhöhen, mit härteren Strafen drohen, wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag geben - gleichsam als Expeditionen ins schwarze Loch der Gesellschaft - und hoffen, dass sich „alles“ bald wieder beruhigen werde. Die demokratische: Dem Erschrecken und der Wiederherstellung von ziviler Ruhe würde die gründliche Reparatur der Zivilgesellschaft folgen, sprich der Grundlagen jeder funktionierenden Demokratie: des sozialen Gefüges, der politischen Institutionen und der organisierten Öffentlichkeit. Eine demokratische Gesellschaft gleicht einem dichten Gewebe. In ihrem Mittelpunkt steht der Staatsbürger; jeder einzelne, ohne Ansehen von Herkunft, Einkommen, Geschlecht etcetera. Jeder einzelne muss eine Chance haben sich zu entfalten, muss sich ernst- und angenommen und – ja – auch geliebt fühlen können. Eine demokratische Gesellschaft lebt von funktionierenden Institutionen auf jeder Ebene. Das fängt in den Familien an und setzt sich in Gemeinden, Stadtteilen, Vereinen, Kirchen und Verbänden fort. Sie bedarf der aufklärenden und debattierenden Öffentlichkeit. Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen der boulevardeske Verwahrlosung der britischen Presse und der mentalen Verwahrlosung britischer Jugendlicher. Es ist mehr als interessant zu beobachten, welche Antwort britische Politiker auf die Krawalle geben werden: die repressive, die feige oder eine demokratisch-mutige. England ist zwar eine Insel, aber Teil Europas. Was dort geschieht, geht auch uns in Deutschland sehr direkt etwas an. Wir hier haben die Chance, nach Rissen und Löchern im Gewebe unserer Zivilgesellschaft zu suchen. Sie zu flicken, wo es geht. Oder neu zu weben, wo es notwendig ist – bevor auch in Berlin oder Frankfurt oder Hamburg eines Tages zu unser aller Überraschung Häuser brennen werden. (vorwärts.de 10. August 2011) George Bush ist Präsident der Vereinigten Staaten und will es bleiben, Bill Clinton will es werden. Doch wenn beide von der wirtschaftlichen Lage der USA reden, klingt das, als hätten sie grundverschiedene Länder im Blick.
Für Bush ist die Lage "besser, als die meisten Leute in Amerika denken." Für Clinton sind die USA von Platz eins unter den Wirtschaftnationen zurückgefallen auf einen Rang "irgendwo zwischen Deutschland und Sri Lanka". Bush verweist hoffnungsvoll auf einen sanften Rückgang der Arbeitlosenquote, für Clintons Sicht spricht: Der amtlichen Statistik zufolge sind die Amerikaner heute so arm wie seit 1964 nicht mehr.
Die Arbeitslosenquote, im Juni auf einem Höchststand seit eineinhalb Jahren (7.8 %), ist im August auf 7,6 % gesunken. Die Bush-Regierung verkündet jede Nachricht, die auf einen allmählichen Konjunkturaufschwung schließen läßt, mit lauten Fanfarenstößen.
Keine Musik erklang, als die Volkszählungsbehörde der USA in dieser Woche, wie jährlich, die Bewegungen an der offiziellen Armutsgrenze verkündete. Für 1991 lag diese Grenze bei knapp 14000 Dollar Jahreseinkommen für einen Haushalt von vier Personen. Das sind umgerechnet rund 20000 DM. 36 Mio Amerikaner hatten Einkünfte, die darunter lagen.
Nur 1964 waren noch mehr Amerikaner offiziell arm. Es war das Jahr, in dem Präsident Lyndon B. Johnson die Nation zum "Krieg gegen die Armut" aufrief.
Und wieder, wie 1964, sind es vor allem die Schwarzen, die auf Lebensmittelmarken und Wohlfahrtschecks angewiesen sind. Weniger als elf Prozent der Amerikaner europäischer Abstammung fallen unter die Armutsgrenze, aber 32,7 % aller Schwarzen.
Beunruhigender als die Zahlen der Armen - die ohnehin meist nicht zur Wahlurne gehen - ist für die persönlichen Berufsaussichten des Präsidenten, daß die Einkommen der Mittelschicht schrumpfen. Von 1989 bis 1991 ist das inflationsbereinigte mittlere Familieneinkommen um 5,1 % gesunken - während gleichzeitig vor allem die Kosten des Gesundheits- und Erziehungswesens förmlich explodieren.
Die Gebühren für ein Studium an einer amerikanischen Universität haben sich während der Reagan/Bush-Regierungsjahre verdoppelt. 90000 Dollar muß eine Familie heute zurückgelegt haben, um ein Kind zum College zu schicken. Und 35 Mio Amerikaner, eine Million mehr als im Jahr davor, waren 1991 ohne Krankenversicherungsschutz.
Doch es gibt auch Amerikaner, deren Einkünfte während der achtziger Jahre kräftig gewachsen sind. Es sind die Superreichen. Nahezu jeder zweite Dollar, der 1991 in den USA verdient wurde, floß in die Brieftaschen der obersten fünf Prozent auf der Einkommensskala.
Stehen da und stellen Ansprüche von Uwe Knüpfer
Aktualisiert 22. Juni 1984 08:00 Uhr Unter der Überschrift „Zur Strafe auf die Uni“ sang die junge Studentin Claudia Duchene das Klagelied der unfreiwilligen Studenten, die die Hörsäle bevölkern und doch viel lieber etwas ganz anderes lernen würden (ZEIT Nr. 25). Der Vorspann zu diesem Beitrag ließ Distanz, ja Ironie erkennen („ja, sie sind übel dran, die jungen Menschen ...“). Er hat diese Antwort provoziert. Die Jungen verstehen die Alten nicht, und den Alten fehlt das Verständnis für die Jungen. Das ist nichts Neues. Seitdem das verkrampfte „Gespräch mit der Jugend“ abgelöst wurde durch Helmut Kohls lockeres Lächeln mit der Jugend (von den CDU-Plakaten herab zu uns Wählern), darf man sich endlich wieder so richtig herrlich nichtverstehen. Die gezwungene Suche nach Gründen, das Vorgeben und Erheischen von „Verständnis“, das alles braucht nicht mehr zu sein. Seitdem keine Steine mehr fliegen, können und dürfen auch die Alten Vorurteile und tiefsitzendes Unverständnis wieder pflegen und – äußern. Die Jungen haben von dieser lieben Gewohnheit ohnehin niemals gelassen. Das „Gespräch mit der Jugend“, ja das war in aller Munde. Aber wer von den Jungen wollte das „Gespräch mit dem Alter“? Wo also eine junge Studentin heute über Perspektivlosigkeit klagt, von der vermeintlich schönen, ihr aber verschlossenen Welt des Handwerks träumt, da darf ein gestandener Mann mit Lebenserfahrung (und sei es ein Redakteur) sich auch wieder öffentlich belustigen über diesen ihren Mangel an Optimismus, an Initiative, an Kampfgeist. Zur Freude seines Publikums, des älteren also: Wie jämmerlich wirkt doch eine Jugend, die jammert! Sicher, junge Menschen haben es heute schwer: Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Verlust des Fortschrittsglaubens. Aber junge Menschen hatten es doch immer schwer. Und wer will, wer wirklich will, der beißt sich durch. Der biß sich immer durch. Wenn ich keine Lehrstelle finde, wie ich sie mir wünsche, mit Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz und so weiter, dann suche ich mir halt einen Job, und sei es als Büglerin, und mache das Beste draus. Wo Gedränge herrscht, da gilt es, Nischen zu entdecken. Etwa im Dienstleistungsbereich, wo Möglichkeiten schlummern, an die lange niemand laut zu denken wagte. Es geht bei uns ja – Gott sei Dank! – nicht allen schlecht. Vielen geht es sehr gut. Und endlich dürfen sie das auch wieder zeigen. In einem Magazin für Feinschmecker beklagte sich ein Journalist kürzlich darüber, daß Mann auf Reisen niemanden finde, der ihm seine Hemden bügelt. Ganz anders in Amerika. Dort stürzen sich die Menschen willig auf jede Art von Arbeit, für die man bezahlt. Auch wenn sie vorher studiert haben oder sonstwas waren. Keine Spur von Dünkel. Alles Gute kommt von drüben wieder. Mag sein, die erzieherische Kraft der Rezession beschert auch uns erneut Stubenmädchen und Brötchenjungen, willige Büglerinnen wie dankbare Schuhputzer. Die Jugend muß nur wollen! Aber noch will sie nicht, noch bestätigen Ausnahmen nur die traurige Regel. Statt dessen beklagt sie sich, weil sie die strahlende und sorgenfreie Welt der Werbung, in der sie großgeworden, nach der Schule in der Wirklichkeit nicht wiederfindet. Großgeworden sind die heute 20jährigen bekanntlich mit einer Pädagogik, die zu glauben lehrte, Konkurrenz sei böse, Solidarität gut. Und wo immer sie hinkamen, war die Welt schon fertig. Es wurde ihnen beigebracht, daß Ansprüche stellen muß, wer etwas bekommen will. Daß man sich, so man sucht, nach Wegweisern zu richten hat. Ein Schüler der Sekundarstufe II lernte doch nicht, einfach nur so gut zu sein, auf irgendeinem als interessant empfundenen Gebiet. Daß es ebenso nützlich wie schön sein kann, aus einem vorgeebenen System auszubrechen, auf eigene Faust, Eigenes zu suchen, dieser ihm vielleicht schon von der Natur mitgegebene Gedanke wurde einem solchen Schüler doch mit zäher pädagogischer Geduld und gründlich ausgetrieben. Punkte zu sammeln sei wichtig, lernte er, egal in welchem Fach. Ein durchtriebenes System der Leistungsbewertung zu durchschauen und auszutricksen, das lernte er. Sich später nahtlos einzufügen in das Volk der Antragsteller und der Steuerbetrüger. Und jetzt steht er da, studiert irgend etwas, das ihn nie interessierte: Doch eben dieser Fachbereich stand ihm offen – und dumm wäre er gewesen, diese Chance etwa nicht zu nutzen. Und plötzlich sind all die schönen Kanäle verstopft. Einen Job will er haben, einen gutbezahlten noch dazu, in einem Beruf, der ihm Spaß macht? Lächerlich. Träumt womöglich gar schon jetzt von einer sicheren Pension! Der „nahtlose Übergang vom Bafög zur Rente“, Sie wissen? Der gestandene Ältere aber, der längst schon auf einem gutdotierten Arbeitsplatz sitzt, wie es seiner akademischen Ausbildung entspricht, klopft sich lachend auf die Schenkel. Etwas Schadenfreude ist dabei, durchaus. Endlich sind die Jungen mal düpiert und nicht die Alten. Stehen da und stellen Ansprüche an die Wohlstandsgesellschaft, die sie doch so verachtet haben. Das Kapitel aus dem Roman vom Generationskonflikt hat ein Happy-End, vorerst. Kriegt doch im Grunde jeder das, was er so gerne wollte: die Alten eine Jugend, die aufschaut und strampelt, sich anstrengt und buckelt, die Jugend eine Aufgabe: zu vergessen, was sie lernte, und mit eigenen Händen ganz was Neues aufzubauen. Uwe Knüpfer
Korrespondenten der New York Times in vielen Ländern der Welt haben ausgeschrieben, wie es Fremden mit Kindern dort ergeht. Sie geben ihren Lesern Tips, wohin sie als Touristen mit ihren Sprößlingen zu deren Unterhaltung gehen können.
In London empfiehlt sich ein Besuch im Zoo, in Moskau der Gang ins Puppentheater. In China, so erfahren wir, kann man immerhin prächtiges Kriegsspielzeug erwerben, wenn auch keine Wegwerfwindeln. Toll für Kinder sind Griechenland und Spanien. Probleme entstehen in Moskau, schon allein, weil es dort keinen McDonald’s gibt. Dabei sind die Russen im Grunde kinderlieb. Ganz anders als wir Deutschen. Für New York Times-Korrespondent James M. Markberg zählt die Bundesrepublik zu jenen Ländern, die eine amerikanische Familie auf Reisen besser meidet: ‚Wenn Sie mit Ihren Kindern eine schöne Zeit in diesem Teil der Welt erleben wollen, nehmen Sie sie mit nach Holland. Dort lieben sie Kinder.“ Nicht daß es in Deutschland keine Attraktionen gäbe: Da wäre immerhin die Fußball-Bundesliga – die aber dummerweise ausgerechnet im Sommer pausiert. Doch in dieser Jahreszeit, schreibt Markham, entschädigt die Kleinen eine Bootsfahrt auf dem Rhein oder ein Museumsbesuch: „Das Deutsche Museum in München ist ein Smithsonian im Kleinformat.“ Auch seien die Parks schön und zahlreich hierzulande; das wär’ schon was: „Doch die Rasenflächen sind für Hunde gedacht und nicht für Kinder.“ Außer in den ihnen zugewiesenen Reservaten, so sieht es der Autor, sind Kinder in Deutschland im Grunde allerorten unerwünscht. Und nur ein langes deutsches Hauptwort scheint ihm „schrecklich“ genug, dieses Verhalten treffend zu benennen Kinderfeindlichkeit. „Wenn meine Kinder mit dem Bus zur Schule fahren, treffen sie regelmäßig auf ältere Deutsche, die sie herumstoßen, quetschen und ihnen den Sitzplatz streitig machen; lachen die Kinder oder werden sie beim Scherzen laut, werden sie mit barschen Drohungen zur Ordnung gerufen – jedenfalls wird der Versuch unternommen.“ Zwar klebten sich die Deutschen gerne Aufkleber an ihre Autos, die behaupten, der Fahrer besitze „Ein Herz für Kinder“, aber „ihre aggressive Fahrweise führt zu fürchterlichen Unfällen mit Kindern im Straßenverkehr“. An Kreuzungen und Übergängen mit Ampeln sollten sich Touristen daher besser deutschen Gewohnheiten anpassen, rät Markham: stehenbleiben, warten, sich nach den Signalen richten. Aber auch nur dort, denn: „Die einzige Möglichkeit für einen Touristen, mit der allgegenwärtigen Kinderfeindlichkeit klarzukommen, besteht darin, die Einheimischen einfach zu ignorieren. Wenn ältere Menschen mittels böser Blicke versuchen, Ihre Kinder zu bändigen, blicken Sie genauso böse zurück!“ Uwe Knüpfer
Der beschwerliche Weg durch die Bürokratie von Uwe Knüpfer
Aktualisiert 31. August 1984 08:00 Uhr Der Gesetzgeber hat es bewußt in Ihr eigenes Interesse gelegt, mit der Mutter Ihres Kindes verheiratet zu sein.“ Der Standesbeamte lehnt sich würdevoll zurück und schaut den stolzen, doch ledigen Vater auf der anderen Seite seines Schreibtisches beschwörend an. „Stellen Sie sich vor, Ihr Kind darf ja von Rechts wegen noch nicht einmal ‚Papa‘ zu Ihnen sagen! Vor dem Gesetz sind Sie nur sein Erzeuger.“ Der Ehrentitel Vater ist Ehemännern vorbehalten. Die Diskriminierung unehelich geborener Kinder wurde wirksam bekämpft, auch ledige Mütter stehen heute in vielerlei Hinsicht besser da als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ledige Väter hingegen sind nicht nur rechtlos gegenüber ihren Kindern, sie müssen sich, haben sie mit Ämtern zu tun, Diskriminierungen und Schikanen gefallen lassen. Benjamin wurde zu Hause geboren. Die Hebamme bescheinigte die Geburt. Der Vater, der rechtlich keiner ist, ging zum Standesamt, um das freudige Ereignis der Behörde zu vermelden. Da sitzt er nun, diktiert den Namen der Mutter und gibt auch seinen eigenen an. „Benjamin“, fügt er hinzu, solle sein Sohn heißen. Der Beamte bedauet: „Das sagen Sie. Wir brauchen aber eine schriftliche Bestätigung der Mutter, daß sie diesen Namen will.“ Das leuchtet dem Vater ein. Doch dann bekommt er die Geburtsurkunde, liest sie und wundert sich. Unter „Eltern“ steht dort nur der Name der Mutter, sodann: Punkt–Strich-Punkt. Noch immer frohgestimmt, erinnert er daran, daß er seinen Namen doch schon nannte „Ja, das ist auch wichtig. Wir müssen schließlich wissen, wer die Geburt gemeldet hat“, lautet die Antwort. Ob das denn ernstlich nötig sei, will der naive Vater wissen und bietet an, zur Bestätigung seiner Vaterschaft gern eine schriftliche Bestätigung der Mutter beizubringen. Geduldig holt der Beamte aus, erläutert die Rechtslage: „Bei nicht ehelich geborenen Kindern tritt automatisch eine Amtspflegschaft ein. Das Jugendamt erhält von uns eine Nachricht und wird dann Ihre ... äh... Frau vorladen und nach Namen und Anschrift des Erzeugers fragen. Kann sie beides angeben, werden als nächstes Sie angeschrieben und ebenfalls vorgeladen. Man wird Sie dann fragen, ob Sie die Vaterschaft anerkennen. Wenn Sie ja sagen, erhalten wiederum wir vom Jugendamt darüber eine Mitteilung.“ Der Standesbeamte holt ein dickes Buch hervor, in dem die Gemeinde alle angezeigten Geburten chronologisch festhält. Er schlägt es auf: „Dort, an Rana neben dem Geburtsvermerk wird dann nachgetragen: Die Vaterschaft erkannte an der Soundso in Daunddort!“ Ob das nicht ein reichlich kompliziertes Verfahren sei, das sich in Fällen wie dem seinen gut abkürzen ließe, will der staunende Vater wissen. „Das Gesetz geht davon aus, daß bei nicht ehelich geborenen Kindern der Vater unbekannt ist.“ Soll das Kind getauft werden, zeigen sich die Kirchen flexibler als der Staat. „Das Kind kann ja nichts dafür, wenn seine Eltern in Unordnung leben“, sagt Domkapitular Max Huber aus dem schwarzen Passau. Auch der protestantische Pastor, fragt: „Warum laßt ihr euch denn nicht konsequenterweise auch trauen?“ Die Frage sei „werbend“ gemeint, beteuert Albrecht von Mutius aus dem Evangelischen Büro in Düsseldorf. Er könne durchaus begreifen – nicht billigen –, daß viele junge Leute heute die Institution Ehe „als Fessel verstehen und nicht als eine Chance“. Kompliziert wird es für Benjamins Eltern erst wieder bei der Lohnsteuerstelle im Einwohnermeldeamt. Sie möchten, daß Benjamin auf der Lohnsteuerkarte des Vaters eingetragen wird. „Sie sind ja nicht verheiratet!“ Der Schalterbeamte hat verdächtig lange den Bildschirm seiner elektronischen Einwohnerkartei studieren müssen. Was nun klingt wie ein Vorwurf, entspringt seiner Ratlosigkeit. Der Beamte entschuldigt sich, sucht seinen Vorgesetzten auf. Derweil wächst die Menschenschlange am Schalter. Zurückgekehrt auf seinen Stuhl hinter der milchglasbewehrten Theke, verkündet er: „So geht das nicht. Sie müssen sich erst vom Jugendamt bestätigen lassen, daß Sie gemeinsam in einem Haushalt wohnen.“ Benjamins Mutter will das nicht einleuchten. „Wer“, fragt sie, „soll das denn wissen, wenn nicht das Einwohnermeldeamt?“ Kurzes Nachdenken seitens des Beamten, dann: „Wir kennen ja nur Straße und Hausnummer. Wie sollen wir denn wissen, ob Sie in derselben Wohnung leben?“ Einwand der Mutter: „Und woher soll das Jugendamt das wissen? Die Amtspflegschaft ist aufgehoben.“ Der Beamte ist ein freundlicher Mann, ein sehr junger übrigens dazu. „Ich telephoniere“, bietet er an, „und frag’ mal nach.“ Unmut in der Warteschlange. Als der Beamte zurückkehrt, klärt sich der Fall nach Art der Bürger von Schilda: „Beim Jugendamt ist der Vorgang tatsächlich nicht vorhanden.“ Kunstpause. „Aber ich habe mit dem Kollegen gesprochen, er weiß jetzt Bescheid. Sie brauchen nur hinzugehen, erklären, daß Sie zusammen wohnen, und dann kommen Sie mit der Bescheinigung zurück.“ Benjamins Mutter würde gern noch fragen, warum sie eine solche Erklärung nicht an Ort und Stelle schon abgeben kann. Doch die Menge drängelt, und Benjamins Vater wiegelt ab. Er möchte das Erreichte nicht gefährden. Uwe Knüpfer
Sinnvolle Ideen scheitern am Beamtenrecht von Uwe Knüpfer
Aktualisiert 14. September 1984 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer Die Feststellung ist kühl und verblüffend: „Es gibt keine Lehrerarbeitslosigkeit“, sagt Dieter Otten, Professor für Soziologie und Sozialgeschichte in Osnabrück. Dennoch ist ständig von dreißig- oder gar sechzigtausend arbeitslosen jungen Lehrern zu lesen, deren Zahl bis zum Ende des Jahrzehnts auf fast zweihunderttausend wachsen soll. „Das sind“, korrigiert Otten, „arbeitslose Akademiker wie andere auch.“ Lehrer könnten nicht arbeitslos sein, denn Lehrer seien Beamte. Kaum eine Gruppe unter den Arbeitslosen wird so voller Mitgefühl und Sorge beobachtet, wie die der nicht in den Schuldienst übernommenen Lehramtsanwärter. Davon gibt es derzeit in der Tat genug. Kaum eine Gruppe bekommt so viele gute Ratschläge zu hören, für kaum eine werden mehr – meist staatliche – Hilfen ersonnen. Die Schülerzahlen nehmen ab, die Kassen sind leer, und die Finanzminister der Länder freuen sich über jede Lehrerstelle, die sie streichen können. Selbst die Kultusminister gestanden nach und nach ein, daß sich nicht länger alle examinierten Lehramtsanwärter im Schuldienst unterbringen lassen. Einen totalen Einstellungsstopp, argumentieren sie quer durch die Parteien, dürfe es aber auch nicht geben. Schlagzeilen provozieren regelmäßig die Pressekonferenzen des nordrhein-westfäliscnen Kultusministers Hans Schwier. Hartnäckig erneuert er immer wieder einen Vorschlag seines Amtsvorgängers Jürgen Girgensohn, die Arbeitszeit aller Lehrer um eine Unterrichsstunde pro Woche und ihre Gehälter um rund vier Prozent zu kürzen, um so in den Schulen Platz für „junge Lehrer mit neuen Ideen“ zu schaffen. In einigen anderen Bundesländern können etablierte Lehrer solchen Verzicht schon üben – freiwillig allerdings und manchmal ausschließlich zur Freude der Finanzminister, denn Ersatz wird nicht beschafft. Die Kultusminister wehren sich seit langem, unterschiedlich hartnäckig und mit unterschiedlichem Erfolg, gegen Planstellenstreichungen. Sie möchten gern, daß es keine „kw-Vermerke“ – „künftig wegfallend“ – hinter rechnerisch überzähligen Stellen mehr gibt. Die Finanzminister dagegen verrechnen gern kw-Stellen gegen solche, die frei werden, weil andere Lehrer Teilzeitarbeit praktizieren. Was nutzt der Verzicht auf Unterrichtsstunden und Einkommen, fragen die Lehrer in den Schulen, wenn dadurch nur kw-Vermerke wegfallen, aber niemand neu eingestellt wird? Einige Bundesländer schrieben immerhin in ihre Beamtengesetze, daß Stellen, die nicht aus familiären, sondern erklärtermaßen „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ freigemacht werden, auf jeden Fall wieder zu besetzen sind – allerdings nicht zwangsläufig an derselben Schule. Stundensammein für einen ganz bestimmten Wunsch-Lehrer führt also nicht immer zum gewünschten Erfolg. Bundestag und Bundesrat haben in diesen Wochen die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ im Beamtenrechtsrahmengesetz beträchtlich erweitert. Nebenher bemühen sich die Kultusminister, Abiturienten vom Lehrerstudium abzuhalten und Ausbildungskapazitäten zu verringern. Die SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen möchte einige Studiengänge „einfrieren“. Die CDU-Regierung in Stuttgart hat drei pädagogische Hochschulen gegen den erbitterten Widerstand der heimischen SPD-Opposition kurzerhand geschlossen. An guten Ratschlägen für diejenigen, die dennoch studieren, am Ende aber keine Stelle finden, mangelt es nicht. Manche sind sinnvoll, andere skurril. Der niedersächsische Kultusminister Georg-Bernd Oschatz hat von sich reden gemacht, als er junge Lehrer nach Georgia, USA, exportierte. Das Beispiel soll Schule machen. Deutsche Lehrer gelten als blendend ausgebildet, werden im Ausland aber auch schlechter bezahlt als hierzulande. Der Philologenverband, die Standesorganisation der Gymnasiallehrer, will Kollegen in die Dritte Welt schicken; nach Zimbabwe, Ghana, Togo und auf die Philippinen. Dort herrsche überall noch großer Mangel an Lehrkräften. Die Johanniter Unfallhilfe in Köln stellt gegenwärtig – innerhalb eines zweijährigen Pilotprojektes – fünfzig arbeitslose Pädagogen ein, die sich für Führungspositionen in karitativen Organisationen qualifizieren sollen. Weiterbildungsinstitute setzen ihre Mitarbeiter auf die Frage an, wie Lehrer in der freien Wirtschaft zu verwenden wären. Die Wirtschaftsakademie in Bad Harzburg etwa bildet Lehrer in Fernstudiengängen zu Direktionsassistenten aus und hofft, so einen „völlig neuen Managertypus“ kreieren zu können: gebildet, lernorientiert und pädagogisch beschlagen. Jeder Lehramtsstudent, das liegt auf der Hand, ist zu einer solchen Zukunft nicht berufen. Auch in den Schulen gebe es durchaus noch Arbeit genug für alle Lehramtsanwärter, behaupten Pädagogen. Sie argumentieren so: Der Bedarf an neuen Lehrern ergibt sich aus der sogenannten Schüler-Lehrer-Relation. Im Bundesdurchschnitt liegt sie heute bei eins zu 17 bis eins zu 18. Dennoch sitzen in vielen Klassen noch mehr als dreißig Schüler, und beinahe überall fällt Unterricht aus – nicht allein weil es zu wenig Lehnr gibt, sondern weil Lehrer mit der richtigen Fächerkombination fehlen. Eine objektiv richtige, optimale Schüler-Lehrer-Relation gibt es nicht. Die Wunschzahl wird willkürlich festgesetzt. Bekommen die Schulen mehr Lehrer, selbst bei summarisch gleicher Pflichtstundenzahl, werden sie in ihrer Stundenplanung beweglicher. Die meisten Hoffnungen ruhen deshalb auf der Arbeitszeitverkürzung. Mancherorts bekommen neu eingestellte Lehrer schon von vornherein keine volle Stelle mehr. Die meisten Bundesländer haben den freiwilligen Verzicht etablierter Lehrer auf ein Viertel, ein Drittel oder gar die Hälfte ihrer Stelle erleichtert. In Bayern allein konnten dadurch im vergangenen Schuljahr 530 volle Stellen zusätzlich geschaffen werden. „Einige hindert“ sollen es auch 1984/85 wieder sein. Ähnliche Zahlen sind aus Nordrhein-Westfalen zu hören. Anderswo, etwa in Niedersachsen, hat der Finanzminister der Neubesetzung solcherart freiwerdender Stellen noch bis in dieses Jahr hinein Widerstand entgegengesetzt. Lothar Späth und sein Minister Gerhard Mayer-Vorfelder in Baden-Württemberg haben zusätzlich das „Reduktionsmodell“ erfunden: Vollzeitlehrer verzichten freiwillig auf eine oder zwei Unterrichtsstunden bei entsprechendem Gehaltsabzug. Dadurch konnten 110 zusätzliche Stellen zum neuen Schuljahr geschaffen werden: „Ein schöner Erfolg“, läßt der Minister verkünden. In Schleswig-Holstein haben alle fünf Lehrerorganisationen zu Spenden aufgerufen. Die Landesregierung stellte 500 000 Mark bereit, und jeder bestallte Lehrer hätte zwanzig Mark hinzufügen sollen, um so zwanzig Einjahresverträge mit arbeitslosen Anwärtern abschließen zu können. Leider flossen die Lehrerspenden nicht so üppig wie erhofft. Zum Schuljahresbeginn reichte das Geld nur für vierzehn Verträge „im Wert von zwölf vollen Stellen“. Hessische Gesamtschuldirektoren schlugen jüngst die Gründung einer Art öffentlich-rechtlicher Lehrstellen-Sammel- und Verteilanstalt vor, finanziert durch Gehaltsabtretungen und Zuschüsse des Landes sowie der Bundesanstalt für Arbeit. Kultusminister Schwier in Nordrhein-Westfalen mag auf Appelle, Spenden und Freiwilligkeit allein nicht bauen. Er will das, was in Baden-Württemberg Reduktionsmodell heißt und freiwillig ist, zwangsweise allen Lehrern aufbrummen. Erforderlich wäre dazu eine Änderung des Beamtenrechtes oder – hilfsweise – eine Verlagerung der Besoldungskompetenzen für Lehrer vom Bund auf die Länder. Der Verzicht aller Lehrer auf eine Pflichtstunde und vier Prozent vom Einkommen, rechnet Schwier vor, brächte allein in Nordrhein-Westfalen sechstausend neue Stellen. Seinen Kabinettskollegen empfiehlt er, mit anderen Beamtengruppen ebenso zu verfahren. Ein Sonderopfer sollen die Lehrer nicht bringen. Sie sollen vielmehr Vorreiter sein für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich im öffentlichen Dienst. Fest steht, daß keine Beamtengruppe heute so gut besoldet wird wie die der Lehrer. Außerdem werden, gerade in Nordrhein-Westfalen, viele Lehrer für Funktionen bezahlt, die sie gar nicht ausüben. An manchen Gymnasien treten sich zahlreiche Studiendirektoren bei ihrem vergeblichen Bemühen, den Schulleiter in Leitungsfunktionen zu unterstützen oder ihn zu vertreten, gegenseitig auf die Füße. Die Unwucht im Stellenkegel ist Kaum zu beseitigen. Rückstufungen sind selten im Öffentlichen Dienst. Die Front der Gegner von Arbeitszeitverkürzungen bei Lohnverzicht ist bunt, breit und gut gestaffelt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist dagegen, weil sie Rücksicht nehmen muß auf die Kollegen von der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), die im Herbst um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kämpfen will. Arbeitslose Gewerkschafter hingegen sind sehr oft im Grunde dafür, doch wiederum nur, wenn es alle träfe, nicht nur die Lehrer und auch nicht nur die Beamten. Zu binnengewerkschaftlichen Rücksichten und Skrupeln aus Prinzipientreue gesellen sich Gruppenegoismus und Besitzstandsdenken. Lehrer, die auf Unterrichtsstunden verzichten sollen, fürchten um Kinderzuschläge und Pensionen. Mahnend und nicht ohne Selbstmitleid erinnern sie den Staat an seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Dienern. Dieses kindlich-vertrauende Verhältnis zum Arbeitgeber, der sich zu kümmern habe wie eine Henne um ihre Küken, haben selbst viele Lehramtsanwärter schon vorab verinnerlicht. Schließlich scheitern alle Vorschläge zur Neuordnung von Arbeitszeitstruktur und Besoldung an der quasi heiligen Unberührbarkeit des deutschen Beamtenrechts. Ein Beamter habe seine volle Arbeitskraft dem Staate zu widmen, heißt es. Dafür werde er nicht schnöde entlohnt, sondern alimentiert, und zwar – anders als ein Kind – auf Lebenszeit. Die innovationshemmende Kraft des Beamtenrechts und gleichzeitig die stille Macht seiner Verwalter und Wahrer belegt anschaulich das Schicksal, das dem Vorschlag des vormaligen Hamburger Wissenschaftssenators Hansjörg Sinn widerfuhr. Der parteilose Chemieprofessor dachte sich Anfang 1983 das Modell eines Lehrers auf Zeit aus. Sinn-Lehrer sollten einen Vertrag bekommen, der auf zehn Jahre befristet ist, von denen der Pädagoge acht an der Schule verbringt und die letzten zwei für ein „Umorientierungsstudium“ nutzt. Während der gesamten Dauer des Vertragsverhältnisses hätte er vier Fünftel der tariflichen Bezüge erhalten. Obwohl der Hamburger Senator sich, wie es heißt, „in Karlsruhe rückversichert“ hatte, obwohl er auch Pläne zur Finanzierung unterbreitete, und Experten noch heute von einer der intelligentesten Lösungen sprechen, ist es um den Sinn-Vorschlag sehr rasch ruhig geworden. Der Hamburger Senat und die Kultusministerkonferenz verhielten sich abwartend. Niemand wollte sich den Mund verbrennen, indem er diesen Angriff auf das Beamtenrecht voreilig begrüßte. Statt dessen wurde beschlossen, die rechtliche Seite prüfen zu lassen – durch Beamte. Die Hamburger Behörden prüften denn auch prompt etwas ganz anderes: warum sich der Vorschlag rechtlich nicht durchsetzen läßt. Und dabei nahmen sie sich soviel Zeit, daß Hansjörg Sinn bei Vorlage des Rechtsgutachtens schon auf dem Weg aus dem Amt war. Sein Nachfolger, Klaus Meyer-Abich, hat noch nicht entschieden, ob er den Sinn-Plan wieder aus der Schublade ziehen will. Das Lehramt auf Zeit hätte es seinem Inhaber ermöglicht, eine berufliche Fehlentscheidung zu revidieren. Nicht nur, daß mancher begabte Pädagoge heute nicht in den Schuldienst hineinkommt: Viele Unbegabte kommen auch nicht wieder heraus. Die Klagen über Disziplinlosigkeiten von Schülern und Schulstreß der Lehrer häufen sich – insbesondere aus jenen Jahrgängen von Pädagogen, die zu Zeiten dies Lehrermangels nach ihrer Ausbildung ohne allzu genaue Prüfung ihrer Eignung geschlossen übernommen wurden. Die Sicherheit des Beamtendaseins erschwert ihnen nun den Ausstieg aus einem ungeliebten Beruf. Und der Staat kann von sich aus kaum je einen Lehrer wieder loswerden, mag seine Eignung auch noch so zweifelhaft sein. Der obligate Beamten-Status des Lehrers oder, wie der anfangs zitierte Soziologe Dieter Otten meint, „die Monostruktur des Berufsfeldes der Lehrer“ ist schuld an jener „sinnlosen Vergeudung von Bildungsinvestitionen“, die unzutreffend als Lehrerarbeitslosigkeit in die Diskussion geraten ist. Otten fordert einen „offenen Arbeitsmarkt“ und ein offenes Berufsausbildungssystem für Pädagogen. Das staatliche Monopol auf die Bildung der Bürger sei längst nicht mehr zeitgemäß. Otten skizziert das Bild „niedergelassener Lehrer“ und einer Vermehrung freier Scnulen. Gäbe es ein entsprechendes Angebot, glaubt er, würde sich eine starke Nachfrage nach Lehrerarbeit entwickeln.
Eine forcierte Heimkehr macht nicht nur Arbeitsplätze frei, sondern schafft auch neue Probleme
Aktualisiert 19. Oktober 1984 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer Türkenheim stirbt. Der Duisburger Ortsteil Alt-Hüttenheim, eine geschlossene Siedlung im Eigentum der Mannesmann AG, besteht aus insgesamt 530 Wohnungen. In nur dreizehn davon leben deutsche Familien. Den Rest bewohnen Türken – bewohnten Türken: Knapp dreihundert Wohnungen sind seit dem Sommer unbewohnt. Ihre Fenster sind verrammelt mit hölzernen Läden, die großen Innenhöfe meist menschenleer. Auf den Straßen parken nur wenige Autos. Es ist still. Vereinzelt laufen spielende Kinder ins Bild, buntgekleidet, und wirken, als seien sie auf Expedition in eine Geisterstadt. Viertausend Türken haben Duisburg verlassen, sind in ihre alte Heimat zurückgekehrt: meist ehemalige Mannesmänner mit ihren Familien. Siedlung und Fabrik trennt nichts als eine breite Autopiste. Natürlich heißt sie Mannesmannstraße. Das Management von Mannesmann hat die anfängliche Türken-raus-Politik der christlich-liberalen Bundesregierung mit innerbetrieblichen Mitteln unterstützt. So konnten sich Mannesmann-Türken, die in die Heimat zurück wollten, nicht nur ihre gesetzlichen Rentenansprüche kapitalisieren lassen, sondern zusätzlich auch ihre Betriebsrente. Weil Geld allein nicht willig macht, lud das Unternehmen seine ausländischen Mitarbeiter außerdem zu Deutschkursen und machte ihnen klar: Wer nicht besteht, der fliegt – ohne kapitalisierte Rente. Wenn die ungeliebten Fremden nur endlich dahin gehen, wo sie herkamen, so hoffen noch immer viele Politiker und Bürger an Kabinetts- und Stammtischen, wird es den Deutschen gleich viel besser gehen. Vor allem verschwindet endlich die leidige Arbeitslosigkeit – in Richtung Anatolien, wo sie ohnehin seit langem zu Hause ist. Endlich dürfen dann Deutsche wieder Straßen fegen, sich in Bergwerksstollen krümmen und am Hochofen schwitzen. Doch solche Rechnungen werden ohne die Türken gemacht. Denn die Ausländer arbeiten und verdienen nicht nur hier. Sie sind zugleich auch Steuer- und Beitragszahler; sie sind Konsumenten, haben große Familien zu kleiden und zu ernähren; sie hinterlegen ihr Erspartes zumeist bei deutschen Banken; sie zahlen Mieten für Wohnungen, die deutsche Behörden ansonsten für unvermietbar halten. Als soziales „Problem“ betrachtet, sichern sie die Arbeitsplätze von Lehrern, Sozialarbeitern und Wissenschaftlern. Alt-Hüttenheim war noch vor einem Jahr voller Leben. Deutsche und Türken feierten gemeinsam den 70. Geburtstag ihres Ortsteils. Jetzt will Mannesmann in seiner Siedlung vier von sieben Wohnblocks abreißen. Jahrzehntelang wurde hier nicht renoviert, jetzt schätzt der Eigentümer die Modernisierungskosten auf achtzigtausend Mark pro Wohnung. Die dann erforderlichen Mieten würde niemand zahlen wollen – nicht in dieser Wohnlage. Georg Behrend, beredter Sprecher der Bürgerinitiative „Rettet Hüttenheim – er war selbst 34 Jahre lang Betriebselektriker im Werk jenseits der breiten Straße –, hält dieses Argument seines früheren Arbeitgebers allerdings für „reine Demagogie“: „Wir gucken seit siebzig Jahren auf den Hochofen. Wenn die Wohnungen hier nicht vermietbar sind, müßte man das ganze Ruhrgebiet abreißen.“ Charlie, wie ihn hier alle nennen, verweist in bestem Soziologendeutsch auf die „herrlichen Kommunikationsmöglichkeiten in den Innenhöfen“, auf das reiche Grün in den Straßen, auf das menschliche Maß der Bauten. Charlie ist offenbar alles andere als froh darüber, daß die Türken weg sind. Deren Vertreibung, so scheint ihm zu schwanen, könnte auch ihn seiner Heimat berauben. Ihr Exodus hat jedenfalls schon manchen anderen um bisher sicher geglaubte Einkünfte beraubt. Ihre Lebensmittel-Großeinkäufe tätigten die Türken bei Aldi in Huckingen. Der verschwiegene Handelsriese gibt Umsatzzahlen nicht preis. Auch die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels hat noch nie ermittelt, was und wieviel die Gastarbeiter-Familien kaufen. Sicher glaubt man dort nur zu wissen, daß sie „gerade im Schlußverkauf eine große Rolle“ spielen. Für Ismet Tepe dagegen ist die Sache klar. Er besitzt einen Lebensmittelladen in Alt-Hüttenheim – noch. Um sechzig Prozent, so schätzt er, sei sein Umsatz seit dem Sommer gesunken. Auch Hakki Bankaoglu gleich nebenan, der Videos verleiht und Getränke sowie Süßes verkauft, klagt über schlechte Geschäfte. Dem deutschen Bäcker um die Ecke geht es nicht anders, und mittelbar spüren die Umsatzeinbußen der türkischen Kleinhändler auch die deutschen Großhändler. Der Leiter der Sparkassen-Zweigstelle Hüttenheim weist zwar Gerüchte energisch zurück, seine Filiale solle geschlossen werden. Doch daß der Weggang der Türken auf Spar- und Darlehenskonten durchaus deutliche Spuren hinterlassen hat, räumt er ein. 360 von insgesamt zweitausend Sparkonten, die in seiner Filiale geführt wurden, sind aufgelöst worden. Rund zwei Millionen Mark an Einlagen gingen verloren, knapp zehn Prozent der Gesamteinlage. In etwa gleicher Höhe zahlten die türkischen Ex-Kunden Darlehen vorzeitig zurück. Filialleiter Althans: „Nicht ein einziger Fall mußte der Rechtsabteilung übergeben werden. Das war schon sehr positiv, wie die Leute ihre Sachen erledigt haben.“ Die Universität Duisburg befragte türkische Arbeitnehmer danach, wie groß ihre „Rückkehrneigung“ sei. Nebenbei kam heraus, daß die Befragten nur ein Fünftel ihrer Einkommen in die Heimat überweisen. Der große Rest fließt wieder zurück in die deutsche Volkswirtschaft. Auch die Schulträger lernen in Duisburg gegenwärtig ein „Ausländerproblem“ ganz neuer Art kennen und fürchten. 1672 türkische Schüler mußten sich im Sommer, manchmal Hals über Kopf, von ihrem Klassenverband trennen. Die beiden Hauptschulen in der Umgebung Alt-Hüttenheims bekamen zum neuen Schuljahr nur jeweils eine fünfte Klasse voll. Insgesamt meldeten sich hier weniger als fünfzig Schüler. Da die nachrückenden deutschen Schüler-Jahrgänge wegen des „Pillenknicks“ ohnehin schwach sind, gerät manche Schule in arge Existenznot, wenn jetzt auch noch die Ausländerkinder wegbleiben. Die Stadt Duisburg denke einstweilen nicht daran, eine Schule zu schließen, beteuert der zuständige Schulrat. Doch seien „für die Zukunft organisatorische Maßnahmen nicht auszuschließen“. Vorerst mußten zwanzig Lehrer versetzt werden, und die Klassen wurden kleiner. Viele Pädagogen haben sich in den letzten Jahren mit großem Engagement weitergebildet, um den besonderen Schwierigkeiten ihrer türkischen Schüler gerecht zu werden. Viele Universitäten bieten inzwischen spezielle Ausbildungsgänge an. Nicht auszudenken, wie das Heer der arbeitslosen Akademiker weiter wachsen würde, wenn wirklich alle Türken gingen. Von der Essener Ruhrkohle sind schon zu viele Türken weggegangen. Zeitlich parallel zur Geltungsdauer der Bonner Rückkehrhilfen spendierte das Unternehmen jedem ausländischen Mitarbeiter 2,5 Monatsgehälter plus Weihnachtsgeld, wenn er sich entschloß, vorzeitig auszuscheiden. Im Durchschnitt waren das zehntausend Mark. Das verlockte mehr Türken als geplant. Eigentlich hatten in diesem Jahr dreitausend „in die Anpassung gehen“ sollen. Jetzt werden es voraussichtlich doppelt so viele sein. Die meisten der Ausscheidenden sind erfahrene Bergleute und nicht ohne weiteres zu ersetzen. In einzelnen Abbaustreben kann der Betrieb nicht länger aufrechterhalten werden. An eine Erneuerung des spendablen Angebots, das bis zum 30. Juni befristet war, denkt bei der Ruhrkohle deshalb heute niemand mehr. Ähnlich die Bundesregierung. Zwar gibt sie ihre Rückkehrhilfe-Aktion offiziell als „vollen Erfolg“ aus. Dennoch heißt es in Norbert Blüms Arbeitsministerium, an eine zweite Auflage werde nicht gedacht. Nicht zuletzt deshalb, weil die freundlichen Hilfeangebote oft als „Abschiebeprämien“ mißverstanden worden seien. Die Türken haben die deutschen Politiker schon richtig verstanden. In Frankfurt erscheinen vier türkische Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 200 000 Exemplaren. Fast achtzig Prozent der von den Duisburger Wissenschaftlern befragten Türken gaben an, regelmäßig WDR 4 zu hören: Sendungen. in ihrer Muttersprache. Ausländerfeindliche Äußerungen aus Bonn machen in Kreuzberg und Hüttenheim blitzschnell die Runde. Der Sozialwissenschaftler Faruk Sen ist sich nach vielen Gesprächen mit Landsleuten in Duisburg sicher: „Die meisten von denen, die zur Rückkehr entschlossen sind, hat nicht das Geld dazu bewogen. Der stärkste Beweggrund ist, daß sie sich von ihrer deutschen Umgebung abgelehnt fühlen.“ Obwohl der psychologische Feldzug der Bundesregierung also gelungen scheint: Der Exodus von „Türkenheim“ ist in dieser räumlich konzentrierten Form ein Einzelfall und wird es vorerst bleiben. An anderen Orten ist mit einer so massierten Rückkehr nicht zu rechnen. Denn der verbalen Peitsche ebenso zum Trotz wie dem finanziellen Zuckerbrot deuten alle vorliegenden Umfragen darauf hin, daß die Mehrheit der Türken bleiben will. Wer weiß: Vielleicht wird ihnen eines Tages nicht nur Charlie dafür dankbar sein. Aber das Beispiel Alt-Hüttenheim macht deutlich, daß eine massive Rückkehr von Gastarbeitern nicht nur Probleme löst, sondern neue schafft.
Auf der Suche nach Wanne-Eickels diskretem Charme von Uwe Knüpfer
Aktualisiert 28. Juni 1985 08:00 Uhr Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel.“ Und weiter? „Die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai. Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.“ Für Hohn kann das nur halten, wer von Wanne-Eickel keine Ahnung hat. Die Einheimischen sehen in dem Schlager, mit dem Friedel Hensch und die Cypris den Ort 1961 berühmt machten, ihre Nationalhymne, die witzigste der Welt. Auch wenn sie verlegen schmunzeln – das Mondlied spricht den Menschen in Bickern und Wanne aus der Seele, und wenn sie was getrunken haben, im Bayernzelt der Cranger Kirmes vielleicht, singen sie alle, alle mit. Drei junge Frauen, Wannes reger Musikszene verhaftet, brachten es zu lokaler Berühmtheit im letzten Jahr auf der Kirmes. Sie nannten sich „Luna Sisters“, und besorgten dem Liedchen vom Mond ein grandioses Comeback. Die Wanner waren aus dem Häuschen. Ganz laut mitgesungen, dafür gibt es Zeugen, hat Helmut Hellwig, Wanner von Geburt, gelernter Postler und seit Jahren direkt gewähltes Mitglied des Landtags. Die politischen Finessen hat er, nicht untypisch für Wanne, bei den „Falken“ erlernt, der sozialdemokratischen Kinder- und Jugendorganisation. Das Mondlied gefällt ihm: „Wer schon mal am Kanal poussiert hat, so wie ich, kann das nur positiv empfinden.“ Ihr rotverklinkertes Einfamilienhaus haben Helmut Hellwig, Enkel eines Bergmanns, und seine Frau, Tochter eines Bergmanns, ganz nahe der Gegend gebaut, in der beide aufgewachsen sind. Warum ist einer wie Hellwig, der gewiß auch anderswo Karriere hätte machen können, Wanne-Eickel immer treu geblieben? „Woanders hätten wir Heimweh.“ Und dann, das ist für ihn das Größte, hat er doch neulich bei einem Spaziergang zum erstenmal seit vielen Jahren wieder eine Nachtigall singen gehört! Daß sie die Nestwärme einer Kleinstadt spüren dürfen, inmitten der toleranten Riesenstadt Ruhrgebiet, das vor allem anderen mag es sein, was Wanne-Eickeler in Wanne-Eickel hält. Andere kleben aus dem gleichen Grund an Castrop-Rauxel oder Gelsenkirchen-Schalke. Nein, Wanne-Eickel ist gewiß nicht auf die Weise schön, wie es Würzburg oder Bamberg ist. Nicht einmal das kommunale Werbeamt behauptet das. Schüchtern-trotzig setzt man dort auf die stille Einsicht des Fremden, daß kein Ort in Wahrheit so schaurig sein kann, wie der Name „Wanne-Eickel“ klingt. Dem Fremden fällt hier vor allem auf, wie leicht er einen Parkplatz findet. Eine schmale Seitenstraße des Haupteinkaufsboulevards, nach Mozart benannt, trug einst ein sehenswertes Glasdach. Schon seit einem halben Jahrhundert ist es nur noch auf Ansichtskarten zu bewundern. Heute, da Einkaufspassagen eine Renaissance erleben, trauern die Wanner ihrer demontierten nach. Wie zum Trost haben sie die Mozartstraße wenigstens vom Autoverkehr befreit. So hat auch der kleine kreisrunde Platz in ihrer Mitte seine Ruhe zurück. Er erinnert an ein intimes Theater, in dem gerade nichts gegeben wird. Der Passant steht auf der Bühne, die Balkone in den eingewölbten Jugendstilfassaden links und rechts könnten Logen sein. In einem Haus eine Kneipe – sie heißt „Zauberflöte“. Gegenüber, hinter vergilbten Plakaten, residiert die DKP. Lieblos wirkt der Rest der City, ausgestorben nach Geschäftsschluß. Das Leben der Wanne-Eickeler spielt sich hier nicht ab. Da lohnt schon eher ein Bummel durch die Zechen-Kolonie in Röhlinghausen. Winzige Armeleutehäuschen inmitten großer Gärten, gegenüber Villen, einst gebaut für das höhere Bergbaupersonal. Die Holzläden der Häuschen sind dunkelgrün, ihre Türen international: Hier scheint ein Dali-Fan zu wohnen, nebenan ein Western-Freund, dort ein Kakteenzüchter. Welch tiefe Wahrheit ruht im deutschen Schlager: „Ich kenn’ die ganze Welt, von Rio bis Port Said, ich kenn die Côte d’Azur, die Rosen von Athen ...“ Der Rentner auf dem Küchenstuhl vor seiner weinumrankten Laube sitzt dort schon die ganze Zeit, ohne irgendwas zu tun. Es sieht nicht so aus, als würde sich daran bis zum Mittagessen etwas ändern. Warum mäht er nicht wenigstens den Rasen oder liest die Zeitung? Sein Nachbar bosselt am Taubenschlag herum, einem umfunktionierten Bauwagen. Er tut das mit jener bedächtigen Ausdauer, die dem Bergmann unter Tage anerzogen wird. Jahrhundertelang gab es hier nichts als Ackerland und Sumpfgelände. Darauf dämmerten Dörfchen wie Eickel, Bickern, Wanne und Crange. Daß zwei von ihnen, per Bindestrich verbunden, einmal Großstadt spielen sollten, erscheint rückblickend wie ein Irrtum der Geschichte. Crange, immerhin, war schon im späten Mittelalter zu regionalem Ruhm gelangt. Es hatte ihn den „Emscherbrücher Dickköppen“ zu verdanken, Wildpferden, die in den von Menschen gemiedenen Auwäldern des einst idyllischen Emschertales lebten. Sie waren, gefangen und gezähmt, als willige und ausdauernde Arbeitstiere weithin geschätzt. In Crange wurden sie verkauft. Aus dem Pferdemarkt, alljährlich abgehalten am Laurentiustag, dem 10. August, wurde die „Cranger Kirmes“, das Oktoberfest des Ruhrgebiets. Niemand zweifelt daran, daß die inzwischen 550. Kirmes auch in diesem Jahr wieder über 400 Schausteller und mehr als drei Millionen Besucher nach Herne locken wird. Nach Herne, ja, denn die Stadt Wanne-Eickel gibt es nicht mehr. 1974, während der großen nordrhein-westfälischen Gebietsreform, ging sie, um eine Eingemeindung nach Bochum zu vermeiden, mit der nur wenig größeren Nachbarin eine „Städteehe“ ein. Herne stellte den Namen und das Rathaus, Wanne-Eickel den Oberbürgermeister und das Wappentier. Inzwischen ist ein neuer OB im Amt, einer, der aus Herne stammt. Wanne-Eickel, die selbständige Stadt, war das Kunstprodukt einer anderen Gebietsreform gewesen, der von 1926. Damals lebten in Röhlinghausen, Bickern, Eickel, Crange, Holsterhausen und Wanne rund hunderttausend Menschen, mehr als zehnmal soviel wie nur fünfzig Jahre zuvor. Die Zechengesellschaften waren von der Ruhr aus nordwärts gewandert und hatten die Emscherdörfer anschwellen lassen. Rund um die Gruben entstanden Bergmannssiedlungen. Rasch überwucherten sie die Überbleibsel feudaler Vergangenheit. Die Bauern machten Kohle. Ihre Namen verschwanden aus den Grundbüchern und tauchten auf Straßenschildern wieder auf. Den Abbau der echten Kohle besorgten Gastarbeiter. Angeworbene Malocher strömten an die Emscher. Zuerst aus Thüringen und Hessen, seit den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus den „deutschen Ostgebieten“. 1918 gab hier bald jeder dritte „Polnisch“ als Muttersprache an. Die Werber der Zechengesellschaft lockten mit Arbeit und guten Wohnbedingungen. Mietskasernen wie in englischen Industrierevieren wurden nicht benötigt. An Baugrund war kein Mangel. Das ist heute noch zu spüren. Die „dichtbesiedeltste Stadt Europas“ stellt man sich anders vor. „Verdichtete Bebauung“, eine der architektonischen Totschlag-Parolen der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts, ist selten zu finden in Wanne-Eickel. Zumindest im Sommer wirken weite Teile der Stadt durch und durch grün. Im Ortsteil Röhlinghausen, einst beherrscht von Mannesmann und der Zeche Königsgrube, ist es ruhig geworden. Eigentlich hatte die Stadt, wie vom Bergbau gewünscht, das Zechengelände in eine Abraumdeponie verwandeln wollen. Eine Bürgerinitiative aber verlangte nach Ruhe und Grün, „und zwar sofort“, und sammelte dafür fast so viele Unterschriften, wie der Stadtteil Bürger hat. Das gab dem SPD-Ortsverein, traditionell allem Neuen gegenüber skeptisch und der IG Bergbau hörig, denn doch zu denken. Er schwenkte um. Auch die Genossen im Rathaus, erst pikiert, folgten bald dem neuen Kurs. Aus dem Zechengelände wird jetzt eine Grünanlage, und zusätzlich gab die Landesregierung viel Geld für „Maßnahmen der Wohnumfeldverbesserung“ her. Aus Hinterhöfen wurden Plätze, Fassaden bekamen neue Anstriche. Noch nie seit den Zeiten der Zechenwerber hatten die Röhlinghauser soviel öffentliche Zuwendung erfahren. Als die Zechen starben – 1976 machte der letzte Pütt von Wanne-Eickel dicht blieben die Zechengesellschaften und ihre Rechtsnachfolger doch die größten Grundstücksherren der Gemeinde. Jahrzehntelang war hier ohne sie nichts gelaufen. Hier wurde gebaut, was der Bergbau brauchte und wie er es wünschte. Und was er nicht brauchte, das wurde nicht gebaut. Erst in den sechziger Jahren begann die Stadt ein Eigenleben zu führen. Sie kaufte Grundstück auf Grundstück und begann zu bauen; der Kumpel würde sagen, „auf Deibel komm raus“. Vor allem Schulen, vierzehn an der Zahl. Aber auch Kindergärten, Jugendheime und eine der ersten Fußgängerzonen der Republik. Heute ist der Baurausch längst verflogen. Geblieben sind die Schulden, ist aber, bei den Stadtvätern, auch das Gefühl, die Eile sei vonnöten gewesen. Es galt, Zuschüsse von Bund und Land zu ergattern, solange deren Säckel prall gefüllt und die Finanzminister freigebig waren. Wenn etwas auffällt bei einer Fahrt durch Wanne-Eickel, dann ist es die ungewöhnlich hohe Zahl von Schienen und Schranken. Sie erinnern an Wannes glanzvolle Zeiten als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Doch auch das ist passé. Intercity-Züge halten hier nicht, auch wenn Wanne-Eickel als wohl einziger Stadtteil der Bundesrepublik noch immer einen eigenen Hauptbahnhof besitzt. Der Bundesbahn scheint es zu mühsam, aus ihren Streckenplänen den „Hbf Wanne-Eickel“ zu streichen und ihre Züge nur noch nach Herne 1 rollen zu lassen. Und die „Alt-Herner“ denken natürlich nicht im Traum daran, auf ihren eigenen Hauptbahnhof zugunsten des größeren im Vorort zu verzichten. Uwe Knüpfer
Die Geisteswissenschaften entdecken die Weiterbildung von Uwe Knüpfer
Aktualisiert 2. Mai 1986 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer Zunächst mutet es paradox an: Noch stöhnen Professoren allerorten, ihre Seminare seien überlaufen, ihre Sprechstunden ausgebucht und sie fanden vor lauter Lehrverpflichtungen kaum Zeit und Muße zur Forschung. Da mehren sich die Lockrufe aus bundesdeutschen Hochschulen, die einer neuen Studentengeneration gelten – den Senioren, den Älteren, den Alten, den Frührentnern, den Jungen Alten oder wie immer jene wachsende Gruppe von Menschen genannt wird, die von bezahlter Arbeit zwar „freigestellt“, geistig aber noch lange nicht eingerostet ist. Rund zwanzig Universitäten bieten in diesem Sommersemester schon Seniorenstudiengänge an oder doch wenigstens spezielle Vorlesungsverzeichnisse für ältere Gasthörer. Acht bis zehn weitere Hochschulen planen konkret, ähnliches demnächst zu beginnen, und noch ein halbes Dutzend zieht es zumindest in Erwägung. Die Universität Dortmund kann sich rühmen, nebst Oldenburg und Kassel, die Alten für die Unis „entdeckt“ zu haben. Von 1980 bis 1985 wurde hier – finanziert von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung – in einem Modellversuch erprobt, wovon sich jetzt so viele inspirieren lassen: Münster und Hamburg etwa, Schwäbisch Gmünd und Trier, Freiburg und Berlin. Im Sommer 1985 ist daraus eine feste Einrichtung der Dortmunder Uni geworden. Schon während der Versuchsphase erwarben 116 Dortmunder Senior-Studenten das eigens für sie entworfene Abschlußzertifikat. Eine Art Ehrenurkunde, die erfolgreiches Teilnehmen bestätigt und dem Inhaber bescheinigt, er sei nun in besonderer Weise dazu qualifiziert, ehrenamtliche Aufgaben in Vereinen, Verbänden und Institutionen zu übernehmen. Viele Beobachter des Dortmunder Modells haben sich darüber lange belustigt, inzwischen sind die Kritiker leiser geworden. Mag sein, das anhaltende öffentliche Interesse an der Arbeit der Dortmunder Pioniere hat ihnen die Sprache verschlagen, oder auch nur deren selbsterstellte Erfolgsstatistik. Nur einer von zehn Teilnehmern des Dortmunder Modellversuchs hatte schon als junger Mensch akademische Erfahrungen gesammelt. 70 Prozent hatten kein Abitur, 15 Prozent waren, bevor sie in Rente oder in die „Anpassung“ des Ruhrbergbaus gingen, Arbeiter. Die Abbrecher-Quote war dennoch außerordentlich gering, und dies, obwohl die Dortmunder Wert darauf legen, auch mit ihren angegrauten Studenten wissenschaftlich zu arbeiten. Eine Art elfenbeinerne Volkshochschule wollen sie nicht sein. Allerdings haben sich die meisten Teilnehmer, gibt Ludger Veelken, Professor für soziale Gerontologie und Geragogik, zu, „ihr ganzes Leben mit Weiterbildung beschäftigt“. Oder anders: Wer sich nicht schon immer geistig frisch gehalten hat, wird es im Alter auch durch angestrengtestes Studieren nicht wieder werden. Es sind Aktivisten, quirlige, neugierige Menschen, die sich für das Seniorenstudium interessieren. Es sind Männer, die früh, zu früh, wie sie finden, aus dem Beruf ausscheiden mußten und die sich wieder gefordert sehen möchten. Und es sind (zu zwei Dritteln) Frauen, die ihren erlernten Beruf vor langem zugunsten der Familie aufgegeben haben, aber nun – die Kinder haben das Nest Verlassen – auch als Hausfrau und Mutter nur noch am Rande gefragt sind. Frauen wie Erika Lutowski. Während der letzten beiden Kriegsjahre hat sie Medizin studiert, dann war sie ein Jahrzehnt lang Hebamme, heute, mit 63, hilft sie in der Seniorenberatung der Uni Als Absolventin (mit Zertifikat) weiß sie, was neue Bewerber ängstigt und unsicher macht. Das Studium, sagt Erika Lutowski, habe sie „munterer gemacht und aufgerüttelt“. Willi Christofzik (62) hatte vierzig Berufsjahre im Bergbau hinter sich, als er zu studieren begann. Schon das Erlebnis, als Älterer in der Uni von jungen Menschen akzeptiert, ernst genommen zu werden, ist ihm noch heute lieb und teuer: „Das war ’ne schöne Zeit.“ Zu Hause, deutet er an, war das nicht immer so. Er traue sich jetzt auch viel mehr zu; geistig, aber auch körperlich, In ihrem Bochumer Ortsteil haben seine Frau und er jetzt eine bildungshungrige „Gruppe von Frühpensionären“ gegründet. Zu 35 sind sie schon. Am Ende des Seniorenstudiums gaben 84 Prozent der Dortmunder Absolventen zu Protokoll, ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl habe sich verändert. 46 Prozent fühlen sich subjektiv gesünder als zuvor. Teilgenommen haben sie an ganz normalen Univeranstaltungen, ergänzt durch Begleitseminare und intensive Gruppenarbeit. Numerus-clausus-Fächer sind ausgespart. Meist sind es die Geisteswissenschaften, sind es Soziologie und Psychologie, für die sich die Senioren interessieren. Eine fürwahr glückliche Fügung. Denn gerade die Lehramtsstudiengänge leiden unter den Folgen des legendären „Pillenknicks“. Es gibt immer weniger Schüler, also, behaupten die herrschenden Finanzpolitiker, brauchen wir auch immer weniger Lehrer (und Erzieher und Sozialpädagoginnen). Die Abiturienten richten sich längst darauf ein. Sie studieren, wenn überhaupt, lieber anderes. Wir sehen: Es kann, muß aber nicht der reine Altruismus sein, der Pädagogen zu Geragogen, Jugenderzieher zu Seniorenbildnern werden läßt. Die Jugend der Menschen ist weitgehend ausgeforscht, die Zahl der Studien zu diesem Thema ist Legion. Über den „dritten Lebensabschnitt“ aber, jene zwanzig, dreißig Jahre, die der Berufstätigkeit heute meist noch folgen, behaupten die Wissenschaftler, noch viel zu wenig zu wissen. Konsequent rufen sie nach neuen (oder umgewidmeten) Lehrstühlen und nach Forschungsmitteln. Nicht mehr lange, meint Ludger Veelken, und jeder dritte Deutsche zählt zu den Jungen Alten. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, die Leistung und Erfolg immer noch höher bewertet als Zufriedenheit, Hilfsbereitschaft oder Bildung? Was bedeutet es für die Stadtplaner, die Architekten, für die Krankenkassen, für die Freizeitindustrie? Für die Wissenschaft bedeutet das: Es gibt reichlich zu tun. Ludger Veelken: „Die Hochschulen müssen sich fragen: Können wir es uns leisten, an dieser wachsenden Schicht vorbeizugehen?“ Von ihnen hänge es weitgehend ab, wie viele Menschen ihren dritten Lebensabschnitt künftig „in selbstbestimmter Freiheit organisieren“ und wieviele „einfach dahinleben“. An der Universität Marburg läuft soeben ein neuer Modellversuch an. Diesmal soll erprobt werden, welche Studiengänge sich für Senioren noch anbieten könnten – neben der in Dortmund praktizierten Ausbildung zum, sozusagen, professionellen Ehrenamtlichen. (Für Sprachwächter: Unsinnig ist nicht der Begriff, sondern der gesellschaftliche Zustand, der ihn entstehen läßt.) Begonnen haben die Marburger mit vier Studiengängen: Gesellschafts-, Literaturwissenschaften, Pädagogik und Geschichte. Im nächsten Wintersemester bieten sie erstmals auch ein interdisziplinäres naturwissenschaftliches Studium an. Unter Einbeziehung von Theologie und Philosophie sollen die Senior-Studenten dann alle Aspekte der Ökologie und des Umweltschutzes ausforschen können. Jeder Hochschullehrer kennt die KMK-Prognose, wonach im Jahr 2000 fast nur noch halb so viele junge Menschen studieren werden wie heute. Statt darüber zu frohlocken, da also endlich eine Normalisierung der Hörerzahlen in Sicht wäre, schwant ihnen – wohl nicht zu Unrecht –, daß die Steuermittelverteiler jeden Rückgang der Studentenzahlen zum Anlaß nehmen werden, den Hochschulen Gelder zu streichen. Also gilt es für jeden Ordinarius, für jeden Rektor, der auf sich hält, neue Argumente zu finden, warum sein Etat gehalten (wenn nicht erhöht) werden muß. Da kommt der lange überlesene Weiterbildungsauftrag des Hochschulrahmengesetzes gerade recht. Nicht nur die Jungen Alten werden jetzt zu „Kunden“ der Unis, auch Berufstätige, die der rasche Wandel der Technik zu immerwährender Fortbildung verpflichtet. Oder Hausfrauen und Mütter, denen die Uni bei ihren Emanzipationsbestrebungen behilflich ist. Noch allerdings preisen die meisten Hochschulen lieber die Qualität ihrer High-Tech-Studiengänge, mit Computerwissenschaften und Technologiezentren, mit engen Banden zur regionalen Wirtschaft, summa summarum: mit ihrer Nützlichkeit beim großen wirtschaftlichen Sprung nach vorn; dorthin, wo Japan und das amerikanische „Silicon Valley“ vermutet werden. Doch wer weiß, vielleicht reiben sich die Rektoren und Regionalpolitiker, die zur Zeit nur Informatik, die Ingenieurkunst und die anwendungsbezogene Physik für Wissenschaften halten, demnächst ja vor Freude die Hände, weil „ihre“ Soziologen und Pädagogen in den für sie so harten Zeiten einfallsreich gewesen sind.
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