Uwe Knüpfer
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50 Jahre Willkommenskultur: Die Otto-Benecke-Stiftung

14/3/2015

 
 Zwischen Zu- und Einwanderung, Asyl- und Flüchtlingspolitik

„Man muss das Rad nicht neu erfinden. Bei uns dreht es sich schon seit 50 Jahren“

  Eine Jugendherberge auf dem Bonner Venusberg, im Herbst 2014. Der Wind reißt von den Bäumen das erste Laub, und die Gewerkschaft der Lokführer legt das öffentliche Leben lahm. Rund dreißig junge Menschen haben trotzdem hierher gefunden, aus allen Winkeln der Bundesrepublik. Der Republik, die kein Einwanderungsland sein will - bestenfalls, wenn es denn unbedingt sein muss, ein „Zuwanderungsland“.

Die jungen Menschen tragen Namen wie Ahmad Shoaib Rahiq, Sergej Prokopkin, Rossana Kvint oder Said Essellak. Sie studieren in Orten wie Tübingen, Greifswald, Konstanz oder Hannover – oder werden es bald tun. Sie erzählen gern von ihrer Odyssee durch Staaten und Behörden, halten dabei aber gelegentlich inne. Sie wirken dann, als könnten sie es selbst kaum glauben: wie weit sie schon gekommen sind. Dass sie „angekommen“ sind. Sie erzählen Geschichten von langen Reisen, von Ängsten, Schrecken, Gefahren - und Wundern. Die Wunder haben eines gemeinsam: sie haben immer mit der Otto Benecke Stiftung zu tun.

 Ahmad Shoaib Rahiq hat in Afghanistan studiert und nebenher für ein Bauunternehmen gearbeitet, das in Diensten des US-Militärs stand. Als amerikanische Truppen sich anschickten, das Land zu verlassen, fühlten Ahmad und seine Frau sich dort nicht mehr sicher. Sie machten sich 2010 auf den Weg über die Berge in den benachbarten Iran, dann weiter in die Türkei; „durch Wasser, über Berge. Es war sehr, sehr gefährlich.“

 In der Türkei, ohne Pass und ohne Sprachkenntnisse, wurde Ahmad von der Polizei aufgegriffen und landete in einem türkischen Gefängnis. Nach sechs Wochen wurden die beiden zurück nach Afghanistan verfrachtet. Ahmad fasst das Folgende trocken zusammen: „Wir haben es dann noch einmal versucht. Und diesmal hat es geklappt.“ Es: die Flucht ins Gelobte Land. Nach Europa. Nach Deutschland.

 Während der langen Wartezeit auf eine Asylbewilligung bekamen die Rahiqs ein Kind - eine Tochter -, lernten die Otto Benecke Stiftung kennen und büffelten Deutsch. Die Kürzel der Sprach- und Integrationskurse rasselt Ahmad fließend herunter: „A1, A2, B2, C1“. Sein Ziel? Womöglich wieder studieren, auf jeden Fall arbeiten.

 „Ich war blind unterwegs in einem fremden Land. Die Otto Benecke Stiftung hat mir die Augen geöffnet.“ Sergej Prokopkin verschlug es 2002, als er 17 war, im Gefolge seiner Eltern aus Südrussland nach Plön in Schleswig-Holstein: als „Spätaussiedler“, im Jargon der „Zuwanderungs-Bürokratie“. Für die es große Unterschiede macht, ob ein Mensch, der Deutscher werden will, nur Flüchtling ist oder Kontingentflüchtling oder gar Spätaussiedler. Ob er Asyl sucht, es nur beantragt hat oder schon zugesprochen bekam. Ob er geduldet ist oder „subsidiären Schutz“ genießt.

 Für die derart kategorisierten Menschen ist der Unterschied gewaltig: er entscheidet über willkommengeheißen oder weggeschickt werden, über Kasernierung oder Freiheit, über Lebenschancen, nicht selten über Leben und Tod.

 Sergej Prokopkin gehörte zu den Glücklichen. Eigentlich. Spätaussiedler dürfen in die Nähe von Verwandten ziehen und sofort Geld verdienen. Doch Sergej tat sich schwer in Deutschlands Norden. Er verstand die Sprache nicht, er hatte keine Freunde, wusste mit sich nichts anzufangen. Die Agentur für Arbeit vermittelte ihm Ein-Euro-Jobs auf Bauhöfen und in Altenheimen. Leicht hätte er auf die schiefe Bahn geraten können. Jedenfalls entsprach er wohl ziemlich gut dem Klischeebild vom jungen, potentiell gewalttätigen Russen.

 Ende 2014 studiert Sergej Jura und Politikwissenschaften in Greifswald und steht kurz vor dem ersten Examen. Ein Jahr lang hat er sich im britischen Sheffield mit Kriminologie und Menschenrechten befasst. Er mischt bei den Grünen Hochschulgruppen mit und im Arbeitskreis Kritischer Juristinnen und Juristen.

 Eine Bekannte hat ihm seinerzeit die Telefonnummer der Otto Benecke Stiftung gegeben. Er lernte ein paar Sätze auswendig, überwand seine Hemmungen und rief an. Noch ein Jahrzehnt später kann sich Sergej ganz genau an dieses entscheidende Telefonat erinnern: „Ab dem Punkt ging es aufwärts. Seit diesem Zeitpunkt stehe ich auf eigenen Beinen.“ Die OBS verhalf ihm zum Absprung aus Plön - und von der Familie - nach Hamburg. Hier lernte er rasch „richtig“ Deutsch, und ihm erschloss sich eine neue Welt. Bei der OBS war er unter Menschen, die lernen wollten, die Zeitungen lasen und über Politik diskutierten. Er wusste bald: genau das war seine Welt.

 Auch Rossana Kvint ist ihren Eltern gefolgt, aus Kasachstan ins Aufnahmelager Friedland, auch sie eher widerwillig und voller Sorgen und Zweifel. Auch sie erinnert sich sehr genau an den Tag, an dem ihr Leben eine zweite Wendung nahm, nach dem Umzug in ein fremdes Land. Es war der 26. Mai 2006. Rossana saß einer Mitarbeiterin der OBS gegenüber. „Sie hat mir auf Englisch alle Wege Schritt für Schritt aufgezeichnet, zum Abitur, zum Studium. Wie soll das gehen, fragte ich: Ich spreche doch kein Wort Deutsch! Da hat sie mich so angeschaut und gesagt: Frau Kvint, Sie schaffen das! Andere vor Ihnen haben das auch geschafft. Sie nehmen Schritt für Schritt. Und plötzlich habe ich es geglaubt. Ich war euphorisch.“

 Jetzt studiert Rossana Kvint in München Medizin; im neunten Semester. Sie möchte sich auf Endokrinologie oder Pathologie spezialisieren und am liebsten in der Forschung bleiben. „Die OBS hat mich wie ein Navigationssystem reibungslos ans Ziel geführt. Ich empfinde so viel Dankbarkeit in meinem Herzen.“

 Dankbarkeit. Ein rares Gut. Unter „Kundinnen“ und „Kunden“ der Otto Benecke Stiftung findet man es schier im Überfluss, dieses Gut. Dankbarkeit kann auch schon mal bunte Blüten treiben. Ein Absolvent hat eine von ihm klassifizierte iranische Wassermilbe „Sperchon beneckei“ getauft.

 Für Reporter, die aufgrund professioneller Skepsis gern zu Zynismus neigen, kommt das Erleben ungekünstelter, massiert auftretender Dankbarkeit einer mentalen Fangopackung gleich. Die Teilnehmer der Tagung auf dem Bonner Venusberg reißen sich geradezu darum, dem Reporter warme Worte zum Tun der OBS in den Block zu diktieren.

 Said Essellak brachte der „Arabische Frühling“ aus Marokko zu „Otto Benecke“. So nennen ihre Klienten die Stiftung gern, die eigentlich ein Verein ist; in einer Mischung aus Respekt und Zuneigung. Als wäre sie ein gestrenger, aber gütiger Onkel. Said Essellak  fand dank „Otto“ Kontakt zu anderen jungen Einwanderern, wie er selbst einer ist. Er studiert heute in Konstanz Elektrotechnik und „will als Mensch etwas für diese Welt tun. In meiner Heimat war ich sozial gefangen. Hier sind meine Ideen gefragt.“

 Ist das kein Einwanderungsgrund? Nach geltendem Recht nicht. Da muss, wer Deutscher werden will, andere Gründe vorbringen können. Notfalls erfinden? Wer weiß? Jedenfalls sind es nicht die Dümmsten, denen es gelingt, hier sesshaft zu werden. Die Otto Benecke Stiftung hilft Menschen wie Said, Rossana, Sergej und Ahmad dabei seit fünfzig Jahren. Genau genommen sogar schon etwas länger. Mehr als 400.000 Menschen sind inzwischen dank „Otto Benecke“ in Deutschland angekommen, im umfassenden Sinn dieses Wortes. 1,2 Milliarden Euro hat die OBS dafür insgesamt ausgegeben, in all den Jahren; Geld der deutschen Steuerzahler. Das macht, grob gerechnet, 3000 Euro pro Klient. Da die allermeisten von ihnen inzwischen Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Wissenschaftler oder Unternehmer sind, dürfte sich diese soziale Investition bestens verzinst haben. Denn die OBS, das ist ihr Auftrag, spezialisiert sich auf bildungswillige Ein- (oder Zu-)wanderer. Auf Menschen, die schon in ihrer alten Heimat im „tertiären Bildungssektor“ unterwegs gewesen sind, studiert oder jedenfalls die Hochschulreife erworben haben oder auf dem Weg dorthin waren. Die OBS hilft diesen Menschen, die Bildungsleiter erneut zu erklimmen. Das tut sie, weil „Otto Benecke“ ein Kind der Studentenbewegung ist.

 OBS-Mitarbeiter leisten Menschen Hilfestellung, die turnen wollen, aber vor dem ehrfurchtgebietenden Stufenbarren zurückschrecken, als der ihnen das verästelte, durchdeklinierte deutsche Bildungssystem erscheinen mag. Der erste Griff gilt immer einem effektiven Sprachkurs, einem, der auf die Vorbildung und den Lerneifer ehrgeiziger Einwanderer wie Ahmad, Rossana, Sergej oder Said zugeschnitten ist.

 Unter Deutschen ohne aktuellen Migrationshintergrund ist „Otto Benecke“ wenig bekannt. Dahinter kann man System vermuten. „Bis 1990 hing ein Schild über der Bundesrepublik: `Deutschland ist kein Einwanderungsland’,“ erklärt Ursula Boos-Nünning, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, die zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung: „Es galt, die einheimischen Deutschen nicht zu erschrecken.“ Die Sozialwissenschaftlerin gilt als Erfinderin des Begriffs „Deutsche mit Migrationshintergrund“ – ohne stolz darauf zu sein; schließlich sei das kein schönes Wort und überhaupt nur eine Übersetzung aus dem Amerikanischen („migration background“).

 Schon vor ihrer Gründung haftete der Arbeit der OBS etwas Klandestines an. Während des Algerienkriegs suchten tausende junger Algerier, die in Frankreich studierten, in der Bundesrepublik Schutz vor Anfeindungen. „Die Studenten standen ja praktisch alle auf Seiten der Revolution. Sie waren in Frankreich nicht mehr sicher,“ erinnert sich Uwe Janssen, der von sich sagen kann: „Die Gründungsurkunde der Otto Benecke Stiftung trägt meine Unterschrift.“ Auch wenn das mehr oder weniger ein Zufall gewesen sei. „Ich habe das ganz locker gemacht.“

 Uwe Janssen war seit 1964 als Student der Archäologie in Marburg stellvertretender Vorsitzender des VDS, des Dachverbands der deutschen Studentenschaften, zuständig für „Internationales“. In jenen Zeiten hieß das: für die Solidarität mit Befreiungsbewegungen in aller Welt. 1965 wurde Janssen dann Vorsitzender des VDS. Gleichzeitig gründete der Verband die OBS.

 „Eigentlich war das eine Umgründung,“ so Janssen: „Eine Namensänderung, mehr nicht.“ Ein Versuch, die Arbeit dessen, was ab jetzt „Otto Benecke“ hieß und zuvor „Sozialamt des Bundesstudentenrings“, sichtbarer werden zu lassen. „Wir wollten ein besseres öffentliches Gesicht. Die OBS sollte der Think Tank des VDS werden.“ Daraus allerdings sei „so recht nichts geworden“.

 Der „Tumult“ kam dazwischen, wie Hans-Magnus Enzensberger die Geschehnisse rund um das Jahr 1968 etikettiert hat. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wollte den VDS – und damit auch „Otto Benecke“ – übernehmen und beide zu Instrumenten der Revolution transformieren. Janssen und andere wehrten sich. Aus dem Selbstverwaltungsorgan der Studentenschaften wurde ein eingetragener Verein. Ein Vehikel jener, die nicht die gewaltsame Revolution predigten, sondern den Marsch durch die Institutionen.

 Der ist einigen der Beteiligten zweifellos gelungen. Eberhard Diepgen wurde CDU-Politiker und Regierender Bürgermeister von Berlin. Wolfgang Roth wurde Juso-Vorsitzender und, von 1993 bis 2006, er Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank. Walter Hirche brachte es als FDP-Politiker bis zum Wirtschaftsminister in Niedersachsen. Alle drei gehören sie dem Kuratorium der OBS bis heute an. Dort habe allerdings „Parteipolitik nie eine Rolle gespielt,“ versichert Roth.

Hans-Jürgen Wischnewski, später, in den 1970ern als „Ben Wisch“ und im „Deutschen Herbst“ nach der Entführung der „Landshut“ durch RAF-Terroristen als der Dirigent der „Helden von Mogadischu“ legendär geworden, nahm sich als junger SPD-Bundestagsabgeordneter jener algerischen Studenten an, die in Deutschland Unterschlupf suchten angesichts der rassistischen Anfeindungen, denen sie in Frankreich ausgesetzt waren. Sie wollten und sollten hier weiter studieren - mussten aber zunächst einmal Deutsch lernen.

Wischnewski erreichte, dass der Bundestag Geld für Stipendien bereit stellte. Die Bundesregierung legte allerdings Wert darauf, mit diesem Programm nicht öffentlich in Zusammenhang gebracht zu werden. Die deutsch-französische Freundschaft glich in den späten 1950er Jahren noch einer zarten jungen Pflanze. Es hätte ihr angesichts der aufgewühlten Emotionen, die Algeriens Loslösung von der Kolonialmacht Frankreich begleiteten, wohl nicht gutgetan, hätte Deutschland sich offiziell auf die Seite der Aufständischen geschlagen: so hätte man in Paris ein deutsches Stipendienprogramm für algerische Jungrevolutionäre wohl gedeutet.

 „Es galt zu verstecken, dass Staatsgeld floss,“ sagt Janssen. Geboren ward die Idee: Machen wir das zur Sache der studentischen Selbstverwaltung! Eberhard Diepgen: „Die OBS wurde tätig, wo die Bundesrepublik tätig werden wollte, es aber aus außenpolitischer Rücksichtnahme nicht konnte.“

Die Idee der studentischen Selbstverwaltung wiederum verdankt Deutschland einer anderen Revolution, der deutschen von 1918/19.

 Als das im Ersten Weltkrieg geschlagene, erschütterte, ausgeblutete und nahezu verhungerte deutsche Volk die Herrschaft des Kaisers und der Fürsten abschüttelte, das Allgemeine Wahlrecht durchsetzte, einschließlich des Frauenwahlrechts, die Schulgeldfreiheit und den Achtstundentag, auf das Selbstbestimmungsrecht des Volkes pochend, als sich Arbeiter und Soldaten zu Räten formierten, da hatten engagierte Studenten die Idee, auch sie sollten als Gruppe und souverän ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und den überkommenen Autoritäten der Hochschulhierarchien selbstbewusst entgegentreten. Sie gründeten die Deutsche Studentenschaft, als Zusammenschluss der Studentenvertretungen aller Universitäten. Die treibende Kraft dabei war Otto Benecke. Er wurde der erste Vorsitzende der neuen Organisation. Auch nach 1945, beim erneuten Versuch, Studenten als Bürger im Hörsaal zu begreifen, bei der Wiedergründung der Verfassten Studentenschaften, diesmal in Form des VDS, war Otto Benecke wieder dabei, diesmal als Ideengeber und Inspirator, kraft seiner Erfahrungen und Kontakte als sozialdemokratischer Kulturpolitiker und als Geschäftsführer der Max-Planck-Gesellschaft.

 Ansprechpartner auf Seiten der verfassten Studentenschaft wurde Theo Tupetz (1923-1980), ein bürgerlich-liberaler Studentenfunktionär mit familiären Wurzeln in der Tschechoslowakei. Als Sozialreferent des VDS organisierte er Hilfen für Studenten, die aus der DDR in den Westen flohen, solange das noch möglich war. Wolfgang Roth: „In der ersten Zeit sind ja noch viele abgehauen. Im Westen hatten sie mit rigiden Zulassungsbestimmungen zu kämpfen.“ Tupetz hatte zu Beginn der 1950er Jahre als Hilfsreferent in Ministerien gearbeitet und verfügte über nützliche Kontakte zu Politikern und Beamten.

 Er und seine Mitstreiter bauten das Sozialamt des vom VDS dominierten Bundesjugendrings zur zentralen Hilfsstelle für Flüchtlinge aus, die in der Bundesrepublik studieren wollten. Hilfesuchende strömten bald aus allen Himmelsrichtungen herbei. 1956, nach dem gescheiterten Aufstand dort, aus Ungarn, aber bald auch aus anderen Staaten des Ostblocks – und aus den Apartheid-Ländern des südlichen Afrika.

 Studierenden aus Rhodesien (später Zimbabwe), Südwest- (Namibia) und Südafrika unter die Arme zu greifen war damals die wohl wirkungsvollste subversive Unterstützung des Kampfes gegen Kolonialismus und Rassentrennung. Die offizielle Politik der Bundesrepublik setzte noch lange auf Kooperation mit den Regimes der dortigen weißen Oberschichten. Sie tat das bis tief in die 1980er Jahre hinein. Die Umleitung von Steuergeld über die studentische Selbstverwaltung bot all jenen Deckung, die trotzdem etwas für den Wandel im südlichen Afrika tun wollten.

 Zur Jahrtausendwende flog Eberhard Diepgen mit einer Berliner Delegation nach Namibia. Das Land war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren unabhängig. Es wurde von Sam Nujoma regiert, dem schwarzen „Gründervater der namibischen Nation“. Die Berliner wollten eine Städtepartnerschaft zwischen der deutschen und der namibischen Hauptstadt Windhoek besiegeln. „Wir saßen beim Staatspräsidenten und stellten uns reihum vor,“ schildert Diepgen die Szene, „und ich erwähnte, dass ich Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung bin.“ Da sei ein Raunen durch die Reihen der namibischen Delegation gegangen. „Und ungefähr jeder zweite erzählte, er sei Stipendiat der OBS gewesen.“

 Die OBS (und ihre Vorläuferin) konnte, anders als staatliche Stellen, schnell auf neue Herausforderungen reagieren. Als ein ghanaischer Student 1961 in Moskau unter ungeklärten Umständen den Tod fand, kam es dort zu einem „Walkout der community“, erinnert sich Janssen. Der tote Student hatte eine russische Freundin gehabt. „Sein Leichnam wurde an einem Bahndamm gefunden. Der Mord wurde nie aufgeklärt.“

 Offiziell hatte es in der Sowjetunion, dem selbsternannten „Vaterland aller Werktätigen“, keinen Rassismus zu geben. Die ghanaischen Studenten siedelten fast geschlossen in die Bundesrepublik um. Hier half ihnen der OBS-Vorläufer auf die Beine. Der Bundestag stockte seine Zuschüsse unauffällig auf.

 1964 verteilt das studentische Sozialamt schon 1,4 Millionen DM. Der Bundesrechungshof legt nahe, eine eigenständige Organisation zu gründen – deren Rechnungslegung transparent wäre. Man wählt die Form des eingetragenen Vereins. Im März 1965 erblickt er als „Otto Benecke Stiftung. Sozialamt des Deutschen Bundesstudentenrings e.V.“ das Licht des Vereinsregisters. Der Ideengeber der autonomen Studentenschaft ist im Vorjahr verstorben; auch deshalb bietet sich die Namenswahl wohl an.

 Tupetz und seine Mitstreiter glauben, jetzt ein Instrument in der Hand zu halten, mit dem sich Politik beeinflussen lässt. Doch diese Ambition geht im Lärm der Studentenrevolte unter. Im Vorstand des OBS e.V. wird zwar nach übereinstimmender Berichterstattung Beteiligter nicht gelärmt, aber es prallen doch auch hier zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von studentischer Politik aufeinander. Die eher Linken machen sich für das „allgemeinpolitische Mandat“ der Studentenschaften stark: Sozialdemokraten wie Janssen und Roth liegt das Schicksal Südafrikas und Vietnams kaum weniger am Herzen als die Hilfe für Ostblock-Flüchtlinge. Eberhard Diepgen wiederum steht auf der Seite derer, die das politische Mandat auf studentische Angelegenheiten konzentriert sehen wollen. „Wir wollten selber Wohnheime bauen, nach schwedischem Vorbild. Wir wollten keine Almosenempfänger sein, die von Tutoren im Wohnheim betreut werden. Wir wollten frei und selbstverantwortlich sein.“

 Diepgen ist zur Zeit der Gründung der OBS noch nicht Mitglied der CDU. Das wird er erst nach seiner vom SDS betriebenen Abwahl als ASTA-Vorsitzender. „Er war natürlich beleidigt;“ zeigt SPD-Mann Wolfgang Roth Verständnis für den politischen Gegner. Das revolutionäre Gebaren des SDS war ihm kaum weniger suspekt als Diepgen.

 Als der Versuch gescheitert ist, den Verband der Studentenschaften in eine Speerspitze der Revolution zu verwandeln, betreibt der SDS stattdessen die Zerschlagung des Verbandes. Der Vorstand der OBS und seine staatlichen Geldgeber ziehen daraus die Konsequenz der Loslösung vom VDS. 1969 wird der Verein umbenannt. Er heißt seither nur noch Otto Benecke Stiftung e.V. Roth: „Damit war die Ursprungsidee von Tupetz eigentlich obsolet.“

 Tupetz, der laut Wolfgang Roth den SDS „unappetitlich“ findet, hat Angst, sensible Unterlagen über Flüchtlingsbiografien könnten über den SDS in die Hände östlicher Geheimdienste gelangen. 1968 erlebt die Stadt, in der er zur Schule gegangen ist, den „Prager Frühling“ – der von sowjetischen Panzern niedergewalzt wird. Studenten, die in den Westen fliehen, steht die Otto Benecke Stiftung bei. In Unterlagen der Stiftung dürfte Brisantes zu Fluchtwegen und Fluchthelfern gestanden haben.

Nach einem Versuch revolutionär gestimmter Studenten, die VDS-Büros zu stürmen, nimmt Tupetz Akten der OBS mit zu sich nach Hause. Wohlmeinende sagen: um Geflüchtete und ihre Helfer zu schützen. Böswillige unterstellen anderes. Unklar ist, was für Akten es waren und wo sie schließlich abgeblieben sind. Jedenfalls führen diese Ereignisse zu Tupetz’ Entlassung als Geschäftsführer der OBS. Er zieht zwar vor Gericht, bekommt dort auch Recht, aber er wird nicht wieder eingestellt. Sein „Kind“, als das er die OBS sieht, wächst fortan ohne ihn.

 Und wie es wächst! Bald zählt der Verein, der als Stiftung daherkommt, im Grunde aber „Staatsauftragsverwaltung“ (Diepgen) betreibt, „zu den feineren Adressen in der Republik“ („Die Zeit“ 1992). Tupetz, heißt es, habe seine Abschiebung nie überwunden.

 Nach Tupetz’ Abgang hält Wolfgang Beitz als Geschäftsführer die Fäden in der Hand. Berichten von Weggefährten zufolge ein äußerst gewinnender, kontaktfreudiger Mann. Der Etat des Vereins wächst unaufhörlich, vor allem dank des anschwellenden Ansturms von Spätaussiedlern aus Ländern des Warschauer Pakts. Beitz lagert einen Großteil der Programme aus der OBS aus und wickelt sie über eine „Gesellschaft zur Förderung Berufsspezifischer Ausbildung“ (GFBA) ab. Es entsteht ein Schattenhaushalt, der sich der Kontrolle des Bundesrechnungshofes entzieht. 1990 macht ein Whistleblower, wie man heute sagen würde, den Rechnungshof auf Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr zwischen OBS und GFBA aufmerksam. Eine Prüfung führt zu Beitz’ Entlassung. Die GFBA geht in Konkurs, ihr Geschäftsführer Volker Grellert, dem die Staatsanwaltschaft Frankfurt Veruntreuung vorwirft, setzt sich ins Ausland ab. Auch Beitz lebt heute in Südafrika - wo er als ein Wegbereiter der deutschen Anti-Apartheid-Politik geschätzt wird.

 Seit 1992 unterliegen alle Aktivitäten der OBS wieder der Aufsicht des Bundesrechnungshofes. „Die Zeit“ kann noch im selben Jahr festhalten: „Mittlerweile gehören die Missstände bei der OBS der Vergangenheit an.“

 Ihr Kümmern um Polen, Sowjets, Rumänen oder Bürger der Tschechoslowakei, die deutsche Ahnen vorzuweisen haben und denen deshalb die sonst gut verriegelten Tore zur Bundesrepublik weit offen stehen, prägt das Image der OBS für lange Zeit. Daneben verblasst, dass sie sich nach wie vor auch um Menschen aus vielen anderen Weltgegenden kümmert.

 1974 sind es Chilenen, die nach dem Militärputsch aus ihrer Heimat fliehen müssen. In anderen Jahren kommen vermehrt Palästinenser, Afghanen oder Ugander. Nicht alle wollen Deutsche werden. Vielen dient das Studium in Deutschland als Basis einer Karriere in der Heimat – so ihnen die politische Lage dort eine Rückkehr gestattet, wie jenen Namibiern, denen Eberhard Diepgen 2000 in Windhoek begegnet. Zweck und Ziel der OBS ist es, laut ihrer Satzung, „die internationale Zusammenarbeit zur Überwindung sozialer Barrieren und weltanschaulicher Konflikte zu unterstützen und dazu beizutragen, dass der von ihr geförderte Personenkreis später Verantwortung in den gesellschaftlichen Institutionen übernimmt“.

 Auch als Think Tank betätigt sich die OBS durchaus. Allerdings ist ihr Adressat jetzt weniger die verfasste Studentenschaft, sondern „die Politik“. Früh weisen die Praktiker der OBS auf Defizite der deutschen Gesetze hin. Im jährlichen „Forum Integration“ zeigen Wissenschaftler, Absolventen und Programmverantwortliche sehr früh und immer wieder minutiös auf, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland sei - und gut daran täte, dies anzuerkennen. Schon vor der Jahrhundertwende entwickelt die OBS ein „Kommunales Integrationskonzept“ als Blaupause für den Umgang von Städten und Gemeinden mit Neuankömmlingen. 2003 trainiert sie „Superteams“, die an ostdeutschen Schulen Front machen gegen Rassismus und Rechtsradikalismus. Eine Broschüre zur „Berufswahl mit System“, von der OBS zu Beginn der 1990er entwickelt, sei „immer noch aktuell“, entnimmt Peter Rummel im Herbst 2014 der anhaltenden Nachfrage nach der Broschüre. Sie werde jetzt gerade „smartphonegängig“ gemacht.

 Der Diplompädagoge Peter Rummel arbeitet seit 1983 für „Otto Benecke“. Aus seinem Büro im alten Bonner Regierungsviertel hat er den Petersberg fest im Blick, das einstige Gästehaus der Bundesregierung, wo heute hin und wieder Diplomaten nach Wegen zum Frieden am Hindukusch oder sonst wo suchen. Rummels Erfolge sind in seinem Büro zu sorgfältig abgehefteten Ordnern geronnen – und dem einen oder anderen Souvenir. Nicht ohne Stolz hält er ein großformatiges Foto hoch. Es zeigt deutsche Kinder auf einer vietnamesischen Dschunke.

 „Magdeburg goes Vietnam“: Unter diesem Titel versuchte die Otto Benecke Stiftung 1999 und 2000, Hand in Hand mit der Caritas und örtlichen Medien, die Haltung der Magdeburger gegenüber ihren vietnamesischen Mitbürgern zu ändern. Mit nachhaltigem Erfolg. Die dortigen Vietnamesen, einst von der DDR in die Republik der Bauern und Werktätigen geholt, „wurden in den Neunzigern auf der Straße manchmal bespuckt,“ erzählt Rummel. Es brach sich eine Fremdenfeindlichkeit Bahn, die es zu DDR-Zeiten nicht hatte geben dürfen.

 OBS, Caritas und Medien sorgten dafür, dass die Vietnamesen keine Fremden blieben. Rummel reiste, als Höhepunkt des Projekts, mit 22 Magdeburger Jugendlichen „zweitausend Kilometer durch Vietnam“, mit der Bahn und eben auch auf jener Dschunke. Die Jugendlichen fragten sich jeden Tag und auf jeder Station ihrer Reise: „Wie kommen wir zurecht in einem Land, dessen Sprache und Kultur wir nicht verstehen?“ Und sie sollten beobachten: „Wie reagieren die Vietnamesen auf uns?“ Die Antwort auf diese Frage war oft genug beschämend. Rummel: „Die Leute haben sich auf der Straße vor uns verbeugt, aus Respekt vor fremden Gästen.“

 Der Mitteldeutsche Rundfunk beamte die Erfahrungen der Magdeburger Kids jeden Morgen per Radio an die heimatlichen Frühstückstische. Die Magdeburger „Volksstimme“ betitelte eine große Reportage mit dem Zitat „Jetzt weiß ich, was es heißt, Ausländer zu sein“.

 2002 wurde Magdeburgs vietnam-stämmige Community erstmals aus Anlass ihres traditionellen Tet-Festes ins Rathaus gebeten, seither immer wieder. Rummel findet, so sähen Erfolgsgeschichten aus: „Die Vietnamesen sind Teil des gesellschaftlichen Lebens geworden.“ Aber wer wisse das schon, außerhalb Magdeburgs? Warum, bedrängt er den Reporter bohrend, „focussieren sich die Medien immer auf die schlimmsten Dinge? Warum kann man nicht mal aus der Summe der guten Dinge eine Sensation machen?“

 Als 1992 ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen brannte, eilten die Medien dorthin, wie es sich gehört. Aber über die anschließende Aktion „Mitmischen statt Aufmischen“ der OBS sei überregional kaum berichtet worden, klagt Rummel. „Otto Benecke“ fuhr mit einem Aktionsmobil über das mecklenburgische Land, suchte das Gespräch mit Jugendlichen und ließ Kinder ihre Vorstellungen von Ausländern in den Computer malen. Um anschließend mit ihnen darüber zu sprechen, welche Ausländer sie tatsächlich kennen und was sie von ihnen wissen.

 Die vielen Mit- und Zuarbeiter der Otto Benecke Stiftung wirken seit einem halben Jahrhundert „dem Thekenblick entgegen, der ausdrückt: Die nehmen uns alles weg!“ So formuliert es Jochen Welt, seit Sommer 2014 ehrenamtlicher Geschäftsführer der OBS. Als Beauftragter für Aussiedlerfragen der rot-grünen Bundesregierung, von 1998-2004, hat er die Arbeit des Vereins, den er jetzt führt, bereits gründlich kennen und zu schätzen gelernt. Die OBS habe Einwanderer, woher und aus welchen Gründen auch immer sie nach Deutschland kommen, eben nie als Belastung gesehen, sagt er, „sondern stets als Potenzial“. Als eine brachliegende Ressource, die es zu fördern galt. Welt: „Wir schaffen gesellschaftlichen Mehrwert.“

 Allerdings mit einer stetig schrumpfenden Zahl von Mitarbeitern. Bei einer gleichzeitig anschwellenden Zahl von Programmen mit Titeln wie AQUA, YOUPA oder MIGoVITA. Programme, die nicht selten genau dann wieder auslaufen, wenn sie so richtig auf Touren gekommen sind. Schuld daran sei, so Wolfgang Roth, die Umstellung der deutschen Förderpraxis nach US-amerikanischem Vorbild. Projekte werden ausgeschrieben und jeder kann sich bewerben. Den Zuschlag erhielten nicht unbedingt die Organisationen „mit dem besten Know-how und der größten Erfahrung“ auf dem betreffenden Gebiet, sondern die mit dem größten Geschick im punktgenauen und schnellen Treffen der Förderkriterien.

 Es ist eine Klage, wie sie aus vielen Verbänden und Vereinen zu vernehmen ist, die auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind: ein (zu) großer Teil der Energie und Arbeitszeit gehe heute fürs rechtzeitige Orten finanziell gut bestückter Programme drauf. Man mache dann nicht unbedingt das, was man gut kann, sondern das, was dort gerade Mode sei, wo die Programme formuliert werden.

Als „Projekteritis“ geißelt Eberhard Diepgen diese neuartige Förderpraxis. Er hält sie schlicht für „blödsinnig“. „Bestimmte Programme, gerade in der Integrationsarbeit, können Sie nicht projektorientiert machen.“ Wer Menschen durch Schulen, Ausbildungsgänge und Studien begleite, brauche einen langen Atem: „Es braucht Kontinuität, Know-how und Erfahrung.“

 Wolfgang Roth kommt zu dem gleichen Ergebnis: „Know-how kann man nur schrittweise aufbauen. Man muss erfahrene Leute auch schon mal zwanzig, dreißig Jahre arbeiten lassen, statt immer neue Projektteams zu bilden.“ Hans Georg Hiesserich, bei der OBS für alle Migrations- und Integrationsprojekte zuständig, ist sich sicher, Deutschland stünde heute in der Integrationspolitik „besser da, wenn das Geld statt in immer neue Projekte in den Aufbau von Strukturen geflossen wäre.“

 Theodor Lemper, CDU-Mitglied und Vorstandsvorsitzender der OBS, kann sich angesichts der verbreiteten Rat- und Tatenlosigkeit der deutschen Politik im Umgang mit immer neuen Flüchtlingsströmen, derzeit aus Syrien, geradezu in Rage reden: „Wir sind ein Einwanderungsland. Punkt. Und wir haben hochprofessionelle Organisationen, die wissen damit umzugehen. Es ist auch schon alles gesagt worden. Es muss nichts mehr entdeckt werden. Aber manchmal wird der Eindruck erweckt, es sei noch nicht alles gesagt worden.“ Lemper holt Luft. „Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Bei der Otto Benecke Stiftung dreht es sich seit fünfzig Jahren.“

 Aber es dreht sich immer langsamer. Nach der Einschränkung des Asylrechts 1992 verebbte der Strom der Flüchtlinge rasch. Dafür schwoll der Zustrom der Spätaussiedler an. Seit 2005 gingen auch deren Zahlen zurück. Die Angebote zur Bildungsberatung, Deutschkurse, Seminare und Stipendien schienen nicht mehr gebraucht zu werden. Der Bund kürzte die entsprechenden Etats. Die OBS baute Stellen ab, löste Büros auf. 2013 gab sie zwölf Millionen Euro aus. Das klingt eindrucksvoll. Doch 2007 konnte sie noch über das Doppelte verfügen. Nicht zu reden von 1990; da waren es 105 Millionen Euro.

 Dem Kürzungstrend trotzend kommen seit 2007 wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland, immer mehr. 2007 wurden gut 3.000 in Deutschland aufgenommen, 2014 zehn mal so viele – auch weil „die Aufnahmebehörden heute nicht mehr alle böse sind“, wie es ein erfahrener Bildungsberater mit mildem Sarkasmus formuliert. Er meint damit: Die Behörden dulden heute schon mal, wo sie gestern noch abgeschoben haben. Auch Ursula Boos-Nünning registriert eine Veränderung der Stimmung im Lande: „Sie merken das daran: Alles arbeitet jetzt an der Willkommenskultur.“

 Auch die Zahl der Aussiedler aus Russland und der Ukraine steigt wieder leicht an. Allein: es fehlen der OBS, gerade jetzt, die Gelder für Kurse und Stipendien. Viele Antragsteller müssen auf das nächste Jahr vertröstet werden. Dabei fällt ehrgeizigen „Zuwanderern“ nichts schwerer als Warten. Als Untätigkeit.

 Es fehlt an Geld. Doch woran es nicht fehlt, das sind helfende Hände und Köpfe. Said Essellak, Sergej Prokopkin und Rossana Kvint greifen als OBS-„Betreuerstudierende“ Neuankömmlingen unter die Arme. Sie erklären ihnen den deutschen Paragraphendschungel, die Strukturblüten des deutschen Bildungssystems – und manchmal wohl auch das Deutsche an sich. Rossana Kvint gibt dann stets den Satz weiter, den sie selbst 2006 gehört hat: „Man kann es schaffen!“

 Wer „Betreuerstudierende“ fehlerfrei auszusprechen vermag, hat vielleicht den ersten Schritt schon getan.

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Geld rein, Klappe zu

13/1/1990

 
ZuWoran es den Universitäten wirklich fehlt: an Geist und guten Professoren

Aktualisiert 13. Januar 1989  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Rund 250 000 Studienempfänger strömten zu Beginn des Wintersemesters in die heruntergewirtschafteten bundesdeutschen Hochschulen – viel mehr als je zuvor. Das weiß inzwischen jeder, der in Deutschland Zeitung lesen kann, denn alle haben es berichtet – von Bild über Spiegel bis zur ZEIT – bebildert, bestaunt. Und so hat auch jeder Verständnis für die armen Studenten und ihre Professoren, die zusammengepfercht in ihren Hörsälen streiken. Der deutsche Katastrophen-Voyeur hat ihnen ein Kämmerlein in seinem weiten Herzen freigemacht, nahe dem für die Hühner aus den Legebatterien. Er hat ein neues Notstandsgebiet entdeckt, den Campus.

Die Zahl 250 000 ist frei erfunden. Es war im 26. September des alten Jahres, das neue Semester hatte noch nicht begonnen, in Bonn tagte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Den Vorsitz in dieser normalerweise gepflegt gelangweilten Runde aus Bildungsbürokraten und -politikern führte Jürgen W. Möllemann, der Bundesbildungsminister. Da die reguläre Tagesordnung an jenem Tag – wie meist – beim besten Willen keine Schlagzeile versprach, erteilte der Vorsitzende sich selbst das Wort zu einer Philippika gegen alle Abwarter, Abwiegler und Abwäger. Er machte das „Affentheater“ – so stand es am nächsten Tag auch brav in den Zeitungen – nicht länger mit, hier mit den Ländern über irgendwelche Kautelen oder Kompetenzchen zu feilschen, derweilen draußen 250 000 junge Menschen zusätzlich in die Hörsäle drängten, viel mehr als je zuvor. Wer auf diese spektakuläre Zahl nicht spektakulär reagiere, werde bald sein blaues Wunder erleben.

Die versammelten Minister und Staatssekretäre der Wissenschafts- und Kulturressorts in den Ländern wunderten sich zum einen über den Kenntnisstand des Kollegen aus dem Bund, denn verläßliche Studentenzahlen gibt es immer erst etwa zwei Monate nach Studienbeginn. Zum anderen staunten sie über die Art, wie sie angeblafft wurden – an einem Ort, wo Sottisen sonst das Äußerste sind, was man einander zuwirft. Der eine oder andere Dienstherr der Hochschulen machte sich noch die Mühe, auf die Anstrengungen hinzuweisen, die seine Regierung durchaus schon eingeleitet habe, um den vielen Studierenden gerecht zu werden ... Das sei alles Kleinkram, belehrte ihn der Vorsitzende, ein Zwei-Milliarden-Programm müsse her, und er, Möllemann, werde die Hälfte davon schon beschaffen, wenn die Kollegen aus den Ländern vorher die andere Milliarde auf den Tisch legten. Nein, mit dem Kanzler oder Herrn Stoltenberg habe er noch nicht gesprochen, aber, wie gesagt, über Kinkerlitzchen solle man doch bitte schweigen, wo von einer nationalen Aufgabe die Rede sei.

Der „Neue Studentenboom“ war geboren, noch ehe es ihn gab. Pünktlich zum Vorlesungsbeginn schickte jeder Chefredakteur, der sich auf seinen scharfen Themen-Riecher viel zugute hält, Photographen und Reporter in die nächste Alma mater. Fündig zu werden, fiel denen nicht schwer, denn die Anfängervorlesungen quollen tatsächlich über, wie jedes Jahr um diese Zeit und besonders im Modefach der Saison, der Betriebswirtschaftslehre. Und so lachte dem Zeitungsleser am nächsten Morgen allüberall der Student mit dem Klappstuhl gequält entgegen.

Für die Studenten begannen herrliche Wochen. Nach entbehrungsreichen Jahren ohne öffentliche Aufmerksamkeit und Zuneigung war endlich ihre Meinung zur Ausbildungssituation gefragt, und wie. Natürlich wußten sie die richtige Antwort: Katastrophal!

Sie wären nicht die Blüte ihres Jahrgangs, wenn die Studienanfänger nicht sofort begriffen hätten: Jetzt ist action gefragt. Als hellwache Medien-Demokraten formierten sie sich prompt zur „Neuen Studentenbewegung“. Es begann mit vereinzelten Streiks, die kaum anders verliefen als jedes Jahr zu dieser Zeit. Nur mit zwei kleinen Unterschieden: Diesmal wurde die Rektoratsbesetzung in Duisburg, die im vorigen Jahr selbst vom örtlichen Anzeigenblatt verschlafen worden wäre, noch in Hamburg und Frankfurt mit einem wollüstigschaudernden „Na-bitte!“ medienmäßig registriert; und die Akteure wirkten diesmal viel zuversichtlicher und fröhlicher als sonst – und wurden bald auch zahlreicher.

Im Gegensatz zur „Alten Studentenbewegung“ betrat die neue eine bereits gut ausgeleuchtete Bühne vor einem ergriffen wartenden Publikum. Der Auftritt gelang, der Applaus brandete von taz bis FAZ und zurück. Besonders beglückt zeigte sich das Frankfurter Blatt: Endlich eine Studentenbewegung, wie man sich den Schwiegersohn wünscht: zielstrebig und brav, das Machbare stets im Blick, großen Theorien abhold, selbstbewußt und dabei heiter. Und dann noch Hand in Hand mit den Herren Professoren! Herzerquickend. Erst als zu den artigen Forderungen nach mehr Professoren und größeren Hörsälen auch solche nach einer Veränderung der Paritäten in den Gremien kamen, hob die FAZ leitartikelnd ihren Zeigefinger: Kinder, folgt nicht den linken Verführern!

Da fügte es sich gut, daß just in dieser Zeit die Regierungschefs aus Bund und Ländern dem Bundesbildungsminister und den Studenten ein schönes Weihnachtsgeschenk einzupacken versprachen: ein – tatsächlich – Zwei-Milliarden-Programm. Gestreckt auf sieben Jahre. Ordentliches Protestieren sei eben erfolgreich, schrieben einige Kommentatoren flink – und stellten ihr eigenes Licht gehörig unter den Scheffel.

Die Aktivisten unter den Studenten rochen zwar den Braten und forderten flugs zwei Milliarden jährlich. Doch ist noch sehr die Frage, was im neuen Jahr übrig sein wird von der neuen Bewegung der Studenten. Hochschulleitungen, die nun die gerufenen Geister auch gern wieder in der Flasche hätten, haben noch kurz vor Ausrufung der akademischen Weihnachtspause sedierend gedroht, womöglich ein ganzes, im Streik vertanes Semester nicht anerkennen zu können. Das wird auf die angehenden Schwiegersöhne (und -töchter) seine Wirkung doch wohl nicht verfehlen. Denn, mein Gott, wenn es jetzt kein Ende hätte mit dem Protest, wenn es weiterginge: Was dann alles aufbrechen könnte! Zwar tragen deutsche Professoren ihren Talar heute zumeist nur bei Festlichkeiten im Ausland – Muff ist aber immer noch genug darunter.

Daß Geld es ist, was bundesdeutschen Hochschulen noch am wenigsten fehlt, wird jeder Gastdozent aus dem Ausland, jeder Humboldt-Stipendiat bestätigen. Aber vielleicht würde ja, wenn wieder mehr an und über Hochschulen diskutiert würde, darüber gesprochen, warum die meisten akademischen Studienordnungen noch immer so aussehen, als sei es die einzige Aufgabe der Universität, ihre Professoren zu reproduzieren. Wo doch weit mehr als 90 Prozent aller Hochschulabsolventen dermaleinst alles mögliche tun und sein werden, nur das eine nicht: deutscher Professor.

Oder es würde darüber gesprochen, warum Generationen angehender Juristen nach der ersten Orientierungsphase in tatsächlich vollen Hörsälen zu den Repetitoren pilgern. Oder darüber, warum es unter den rund 25 000 Professoren so wenige von Weltruf gibt – und auch nur wenige, die ihre Studenten begeistern können und wollen.

Denn es stimmt schon, daß es die angehimmelte Hochschulautonomie nicht gibt, deren Verlust immer dann besonders elegisch beklagt wird, wenn es über den Staat zu zetern gilt, dessen bürokratische Organe gelegentlich ihrer Pflicht nachkommen, den Fluß der Milliarden Mark an Steuergeldern hinein in die Hochschulen mehr oder weniger penibel zu kontrollieren oder (Pfui Teufel!) in Einzelfällen sogar in Frage zu stellen. Ansonsten gibt es nur die alltägliche Autonomie des Hochschullehrers, insbesondere desjenigen mit dem C4-Gütesiegel. Acht Wochenstunden während des laufenden Semesters (das gottlob nie lange dauert) muß er in der Regel der Lehre widmen. Worüber und auf welche Art, ist fast vollständig ihm überlassen. In der restlichen Zeit forscht er wahrscheinlich.

Hochschulleitungen gelingt es im besten Fall, die zahlreichen Partikularinteressen der Hochschulangehörigen zu bündeln durch Addition und Vorlage der Rechnung beim großen Nährer Staat. Oder sie verkörpern sich in starken Rektoren oder Präsidenten, welche als leicht barocke Figuren die hinter ihnen stehende „öffentliche Körperschaft“ repräsentieren wie konstitutionelle Monarchen. Der akademische Mittelbau darf sich um die Einheit von Forschung und Lehre kümmern und seinen Frust in der Personalvertretung artikulieren. Die Studenten sollen studieren.

Im „Dossier“ der ZEIT war jüngst die originelle Behauptung zu lesen, die Ausrufung des Bildungsnotstandes durch Georg Picht in den sechziger Jahren habe den massiven Ausbau der Natur- und Ingenieurwissenschaften und den damit einhergehenden Verfall der rühmlichen deutschen Geisteswissenschaften zur Folge gehabt. Kann schon sein, daß Verfall das richtige Wort ist. Sollte es ihn geben, hinge er aber sicher nicht damit zusammen, daß es in der Bundesrepublik heute zu wenig Philosophen, Philologen oder Pädagogen – im akademischen Sinne – gäbe. Das Gegenteil ist der Fall: Nie gab es in diesem Lande so viele davon. Die Zeit des gigantischen Ausbaus der Hochschulen war auch die Zeit des großen Lehrerausbildungsschubs – und die der Aufblähung der Philosophischen Fakultäten.

Dennoch kommt kaum einer der Gedanken, die sporadisch die Welt bewegen, wenigstens die bundesdeutsche, aus den Studierstuben der Universitäten. Woran mag es liegen, daß ein einziger Aufsatz von – sagen wir: Hans Magnus Enzensberger – mehr anregende Ideen enthält als zehn geisteswissenschaftliche Dissertationen heute üblicher Art? Auch darüber könnte gesprochen werden, wie über vieles mehr.

Wahrscheinlich wird aber überhaupt nicht gesprochen. Am Ende müßte man sonst womöglich Konsequenzen ziehen. Wahrscheinlich werden „Neuer Bildungsnotstand“ und „Neue Studentenbewegung“ genauso enden wie andere Saison-Phänomene auch: Geld rein, Klappe zu.

Schade wär’s.

  • Quelle DIE ZEIT, 13.1.1989 Nr. 03
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Junge Leute: Stehen da und stellen Ansprüche

1/1/1990

 
Stehen da und stellen Ansprüche von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 22. Juni 1984  08:00 Uhr  Unter der Überschrift „Zur Strafe auf die Uni“ sang die junge Studentin Claudia Duchene das Klagelied der unfreiwilligen Studenten, die die Hörsäle bevölkern und doch viel lieber etwas ganz anderes lernen würden (ZEIT Nr. 25). Der Vorspann zu diesem Beitrag ließ Distanz, ja Ironie erkennen („ja, sie sind übel dran, die jungen Menschen ...“). Er hat diese Antwort provoziert.

Die Jungen verstehen die Alten nicht, und den Alten fehlt das Verständnis für die Jungen. Das ist nichts Neues. Seitdem das verkrampfte „Gespräch mit der Jugend“ abgelöst wurde durch Helmut Kohls lockeres Lächeln mit der Jugend (von den CDU-Plakaten herab zu uns Wählern), darf man sich endlich wieder so richtig herrlich nichtverstehen. Die gezwungene Suche nach Gründen, das Vorgeben und Erheischen von „Verständnis“, das alles braucht nicht mehr zu sein. Seitdem keine Steine mehr fliegen, können und dürfen auch die Alten Vorurteile und tiefsitzendes Unverständnis wieder pflegen und – äußern. Die Jungen haben von dieser lieben Gewohnheit ohnehin niemals gelassen. Das „Gespräch mit der Jugend“, ja das war in aller Munde. Aber wer von den Jungen wollte das „Gespräch mit dem Alter“?

Wo also eine junge Studentin heute über Perspektivlosigkeit klagt, von der vermeintlich schönen, ihr aber verschlossenen Welt des Handwerks träumt, da darf ein gestandener Mann mit Lebenserfahrung (und sei es ein Redakteur) sich auch wieder öffentlich belustigen über diesen ihren Mangel an Optimismus, an Initiative, an Kampfgeist. Zur Freude seines Publikums, des älteren also: Wie jämmerlich wirkt doch eine Jugend, die jammert!

Sicher, junge Menschen haben es heute schwer: Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Verlust des Fortschrittsglaubens. Aber junge Menschen hatten es doch immer schwer. Und wer will, wer wirklich will, der beißt sich durch. Der biß sich immer durch. Wenn ich keine Lehrstelle finde, wie ich sie mir wünsche, mit Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz und so weiter, dann suche ich mir halt einen Job, und sei es als Büglerin, und mache das Beste draus. Wo Gedränge herrscht, da gilt es, Nischen zu entdecken. Etwa im Dienstleistungsbereich, wo Möglichkeiten schlummern, an die lange niemand laut zu denken wagte. Es geht bei uns ja – Gott sei Dank! – nicht allen schlecht.

Vielen geht es sehr gut. Und endlich dürfen sie das auch wieder zeigen. In einem Magazin für Feinschmecker beklagte sich ein Journalist kürzlich darüber, daß Mann auf Reisen niemanden finde, der ihm seine Hemden bügelt. Ganz anders in Amerika. Dort stürzen sich die Menschen willig auf jede Art von Arbeit, für die man bezahlt. Auch wenn sie vorher studiert haben oder sonstwas waren. Keine Spur von Dünkel.

Alles Gute kommt von drüben wieder. Mag sein, die erzieherische Kraft der Rezession beschert auch uns erneut Stubenmädchen und Brötchenjungen, willige Büglerinnen wie dankbare Schuhputzer. Die Jugend muß nur wollen!

Aber noch will sie nicht, noch bestätigen Ausnahmen nur die traurige Regel. Statt dessen beklagt sie sich, weil sie die strahlende und sorgenfreie Welt der Werbung, in der sie großgeworden, nach der Schule in der Wirklichkeit nicht wiederfindet.

Großgeworden sind die heute 20jährigen bekanntlich mit einer Pädagogik, die zu glauben lehrte, Konkurrenz sei böse, Solidarität gut. Und wo immer sie hinkamen, war die Welt schon fertig. Es wurde ihnen beigebracht, daß Ansprüche stellen muß, wer etwas bekommen will. Daß man sich, so man sucht, nach Wegweisern zu richten hat.

Ein Schüler der Sekundarstufe II lernte doch nicht, einfach nur so gut zu sein, auf irgendeinem als interessant empfundenen Gebiet. Daß es ebenso nützlich wie schön sein kann, aus einem vorgeebenen System auszubrechen, auf eigene Faust, Eigenes zu suchen, dieser ihm vielleicht schon von der Natur mitgegebene Gedanke wurde einem solchen Schüler doch mit zäher pädagogischer Geduld und gründlich ausgetrieben. Punkte zu sammeln sei wichtig, lernte er, egal in welchem Fach. Ein durchtriebenes System der Leistungsbewertung zu durchschauen und auszutricksen, das lernte er. Sich später nahtlos einzufügen in das Volk der Antragsteller und der Steuerbetrüger.

Und jetzt steht er da, studiert irgend etwas, das ihn nie interessierte: Doch eben dieser Fachbereich stand ihm offen – und dumm wäre er gewesen, diese Chance etwa nicht zu nutzen. Und plötzlich sind all die schönen Kanäle verstopft.

Einen Job will er haben, einen gutbezahlten noch dazu, in einem Beruf, der ihm Spaß macht? Lächerlich. Träumt womöglich gar schon jetzt von einer sicheren Pension! Der „nahtlose Übergang vom Bafög zur Rente“, Sie wissen?

Der gestandene Ältere aber, der längst schon auf einem gutdotierten Arbeitsplatz sitzt, wie es seiner akademischen Ausbildung entspricht, klopft sich lachend auf die Schenkel. Etwas Schadenfreude ist dabei, durchaus. Endlich sind die Jungen mal düpiert und nicht die Alten. Stehen da und stellen Ansprüche an die Wohlstandsgesellschaft, die sie doch so verachtet haben.

Das Kapitel aus dem Roman vom Generationskonflikt hat ein Happy-End, vorerst. Kriegt doch im Grunde jeder das, was er so gerne wollte: die Alten eine Jugend, die aufschaut und strampelt, sich anstrengt und buckelt, die Jugend eine Aufgabe: zu vergessen, was sie lernte, und mit eigenen Händen ganz was Neues aufzubauen.

Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 22.6.1984 Nr. 26

Arbeitslose Lehrer: Kollekte für die Kollegen

1/1/1990

 
Sinnvolle Ideen scheitern am Beamtenrecht von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 14. September 1984  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Die Feststellung ist kühl und verblüffend: „Es gibt keine Lehrerarbeitslosigkeit“, sagt Dieter Otten, Professor für Soziologie und Sozialgeschichte in Osnabrück. Dennoch ist ständig von dreißig- oder gar sechzigtausend arbeitslosen jungen Lehrern zu lesen, deren Zahl bis zum Ende des Jahrzehnts auf fast zweihunderttausend wachsen soll. „Das sind“, korrigiert Otten, „arbeitslose Akademiker wie andere auch.“ Lehrer könnten nicht arbeitslos sein, denn Lehrer seien Beamte.

Kaum eine Gruppe unter den Arbeitslosen wird so voller Mitgefühl und Sorge beobachtet, wie die der nicht in den Schuldienst übernommenen Lehramtsanwärter. Davon gibt es derzeit in der Tat genug. Kaum eine Gruppe bekommt so viele gute Ratschläge zu hören, für kaum eine werden mehr – meist staatliche – Hilfen ersonnen.

Die Schülerzahlen nehmen ab, die Kassen sind leer, und die Finanzminister der Länder freuen sich über jede Lehrerstelle, die sie streichen können. Selbst die Kultusminister gestanden nach und nach ein, daß sich nicht länger alle examinierten Lehramtsanwärter im Schuldienst unterbringen lassen. Einen totalen Einstellungsstopp, argumentieren sie quer durch die Parteien, dürfe es aber auch nicht geben.

Schlagzeilen provozieren regelmäßig die Pressekonferenzen des nordrhein-westfäliscnen Kultusministers Hans Schwier. Hartnäckig erneuert er immer wieder einen Vorschlag seines Amtsvorgängers Jürgen Girgensohn, die Arbeitszeit aller Lehrer um eine Unterrichsstunde pro Woche und ihre Gehälter um rund vier Prozent zu kürzen, um so in den Schulen Platz für „junge Lehrer mit neuen Ideen“ zu schaffen. In einigen anderen Bundesländern können etablierte Lehrer solchen Verzicht schon üben – freiwillig allerdings und manchmal ausschließlich zur Freude der Finanzminister, denn Ersatz wird nicht beschafft.

Die Kultusminister wehren sich seit langem, unterschiedlich hartnäckig und mit unterschiedlichem Erfolg, gegen Planstellenstreichungen. Sie möchten gern, daß es keine „kw-Vermerke“ – „künftig wegfallend“ – hinter rechnerisch überzähligen Stellen mehr gibt. Die Finanzminister dagegen verrechnen gern kw-Stellen gegen solche, die frei werden, weil andere Lehrer Teilzeitarbeit praktizieren. Was nutzt der Verzicht auf Unterrichtsstunden und Einkommen, fragen die Lehrer in den Schulen, wenn dadurch nur kw-Vermerke wegfallen, aber niemand neu eingestellt wird?

Einige Bundesländer schrieben immerhin in ihre Beamtengesetze, daß Stellen, die nicht aus familiären, sondern erklärtermaßen „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ freigemacht werden, auf jeden Fall wieder zu besetzen sind – allerdings nicht zwangsläufig an derselben Schule. Stundensammein für einen ganz bestimmten Wunsch-Lehrer führt also nicht immer zum gewünschten Erfolg. Bundestag und Bundesrat haben in diesen Wochen die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ im Beamtenrechtsrahmengesetz beträchtlich erweitert.

Nebenher bemühen sich die Kultusminister, Abiturienten vom Lehrerstudium abzuhalten und Ausbildungskapazitäten zu verringern. Die SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen möchte einige Studiengänge „einfrieren“. Die CDU-Regierung in Stuttgart hat drei pädagogische Hochschulen gegen den erbitterten Widerstand der heimischen SPD-Opposition kurzerhand geschlossen.

An guten Ratschlägen für diejenigen, die dennoch studieren, am Ende aber keine Stelle finden, mangelt es nicht. Manche sind sinnvoll, andere skurril. Der niedersächsische Kultusminister Georg-Bernd Oschatz hat von sich reden gemacht, als er junge Lehrer nach Georgia, USA, exportierte. Das Beispiel soll Schule machen. Deutsche Lehrer gelten als blendend ausgebildet, werden im Ausland aber auch schlechter bezahlt als hierzulande. Der Philologenverband, die Standesorganisation der Gymnasiallehrer, will Kollegen in die Dritte Welt schicken; nach Zimbabwe, Ghana, Togo und auf die Philippinen. Dort herrsche überall noch großer Mangel an Lehrkräften.

Die Johanniter Unfallhilfe in Köln stellt gegenwärtig – innerhalb eines zweijährigen Pilotprojektes – fünfzig arbeitslose Pädagogen ein, die sich für Führungspositionen in karitativen Organisationen qualifizieren sollen. Weiterbildungsinstitute setzen ihre Mitarbeiter auf die Frage an, wie Lehrer in der freien Wirtschaft zu verwenden wären. Die Wirtschaftsakademie in Bad Harzburg etwa bildet Lehrer in Fernstudiengängen zu Direktionsassistenten aus und hofft, so einen „völlig neuen Managertypus“ kreieren zu können: gebildet, lernorientiert und pädagogisch beschlagen. Jeder Lehramtsstudent, das liegt auf der Hand, ist zu einer solchen Zukunft nicht berufen.

Auch in den Schulen gebe es durchaus noch Arbeit genug für alle Lehramtsanwärter, behaupten Pädagogen. Sie argumentieren so: Der Bedarf an neuen Lehrern ergibt sich aus der sogenannten Schüler-Lehrer-Relation. Im Bundesdurchschnitt liegt sie heute bei eins zu 17 bis eins zu 18. Dennoch sitzen in vielen Klassen noch mehr als dreißig Schüler, und beinahe überall fällt Unterricht aus – nicht allein weil es zu wenig Lehnr gibt, sondern weil Lehrer mit der richtigen Fächerkombination fehlen. Eine objektiv richtige, optimale Schüler-Lehrer-Relation gibt es nicht. Die Wunschzahl wird willkürlich festgesetzt. Bekommen die Schulen mehr Lehrer, selbst bei summarisch gleicher Pflichtstundenzahl, werden sie in ihrer Stundenplanung beweglicher.

Die meisten Hoffnungen ruhen deshalb auf der Arbeitszeitverkürzung. Mancherorts bekommen neu eingestellte Lehrer schon von vornherein keine volle Stelle mehr. Die meisten Bundesländer haben den freiwilligen Verzicht etablierter Lehrer auf ein Viertel, ein Drittel oder gar die Hälfte ihrer Stelle erleichtert. In Bayern allein konnten dadurch im vergangenen Schuljahr 530 volle Stellen zusätzlich geschaffen werden. „Einige hindert“ sollen es auch 1984/85 wieder sein. Ähnliche Zahlen sind aus Nordrhein-Westfalen zu hören. Anderswo, etwa in Niedersachsen, hat der Finanzminister der Neubesetzung solcherart freiwerdender Stellen noch bis in dieses Jahr hinein Widerstand entgegengesetzt.

Lothar Späth und sein Minister Gerhard Mayer-Vorfelder in Baden-Württemberg haben zusätzlich das „Reduktionsmodell“ erfunden: Vollzeitlehrer verzichten freiwillig auf eine oder zwei Unterrichtsstunden bei entsprechendem Gehaltsabzug. Dadurch konnten 110 zusätzliche Stellen zum neuen Schuljahr geschaffen werden: „Ein schöner Erfolg“, läßt der Minister verkünden.

In Schleswig-Holstein haben alle fünf Lehrerorganisationen zu Spenden aufgerufen. Die Landesregierung stellte 500 000 Mark bereit, und jeder bestallte Lehrer hätte zwanzig Mark hinzufügen sollen, um so zwanzig Einjahresverträge mit arbeitslosen Anwärtern abschließen zu können. Leider flossen die Lehrerspenden nicht so üppig wie erhofft. Zum Schuljahresbeginn reichte das Geld nur für vierzehn Verträge „im Wert von zwölf vollen Stellen“.

Hessische Gesamtschuldirektoren schlugen jüngst die Gründung einer Art öffentlich-rechtlicher Lehrstellen-Sammel- und Verteilanstalt vor, finanziert durch Gehaltsabtretungen und Zuschüsse des Landes sowie der Bundesanstalt für Arbeit.

Kultusminister Schwier in Nordrhein-Westfalen mag auf Appelle, Spenden und Freiwilligkeit allein nicht bauen. Er will das, was in Baden-Württemberg Reduktionsmodell heißt und freiwillig ist, zwangsweise allen Lehrern aufbrummen. Erforderlich wäre dazu eine Änderung des Beamtenrechtes oder – hilfsweise – eine Verlagerung der Besoldungskompetenzen für Lehrer vom Bund auf die Länder. Der Verzicht aller Lehrer auf eine Pflichtstunde und vier Prozent vom Einkommen, rechnet Schwier vor, brächte allein in Nordrhein-Westfalen sechstausend neue Stellen. Seinen Kabinettskollegen empfiehlt er, mit anderen Beamtengruppen ebenso zu verfahren. Ein Sonderopfer sollen die Lehrer nicht bringen. Sie sollen vielmehr Vorreiter sein für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich im öffentlichen Dienst.

Fest steht, daß keine Beamtengruppe heute so gut besoldet wird wie die der Lehrer. Außerdem werden, gerade in Nordrhein-Westfalen, viele Lehrer für Funktionen bezahlt, die sie gar nicht ausüben. An manchen Gymnasien treten sich zahlreiche Studiendirektoren bei ihrem vergeblichen Bemühen, den Schulleiter in Leitungsfunktionen zu unterstützen oder ihn zu vertreten, gegenseitig auf die Füße. Die Unwucht im Stellenkegel ist Kaum zu beseitigen. Rückstufungen sind selten im Öffentlichen Dienst.

Die Front der Gegner von Arbeitszeitverkürzungen bei Lohnverzicht ist bunt, breit und gut gestaffelt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist dagegen, weil sie Rücksicht nehmen muß auf die Kollegen von der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), die im Herbst um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kämpfen will. Arbeitslose Gewerkschafter hingegen sind sehr oft im Grunde dafür, doch wiederum nur, wenn es alle träfe, nicht nur die Lehrer und auch nicht nur die Beamten.

Zu binnengewerkschaftlichen Rücksichten und Skrupeln aus Prinzipientreue gesellen sich Gruppenegoismus und Besitzstandsdenken. Lehrer, die auf Unterrichtsstunden verzichten sollen, fürchten um Kinderzuschläge und Pensionen. Mahnend und nicht ohne Selbstmitleid erinnern sie den Staat an seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Dienern. Dieses kindlich-vertrauende Verhältnis zum Arbeitgeber, der sich zu kümmern habe wie eine Henne um ihre Küken, haben selbst viele Lehramtsanwärter schon vorab verinnerlicht.

Schließlich scheitern alle Vorschläge zur Neuordnung von Arbeitszeitstruktur und Besoldung an der quasi heiligen Unberührbarkeit des deutschen Beamtenrechts. Ein Beamter habe seine volle Arbeitskraft dem Staate zu widmen, heißt es. Dafür werde er nicht schnöde entlohnt, sondern alimentiert, und zwar – anders als ein Kind – auf Lebenszeit.

Die innovationshemmende Kraft des Beamtenrechts und gleichzeitig die stille Macht seiner Verwalter und Wahrer belegt anschaulich das Schicksal, das dem Vorschlag des vormaligen Hamburger Wissenschaftssenators Hansjörg Sinn widerfuhr. Der parteilose Chemieprofessor dachte sich Anfang 1983 das Modell eines Lehrers auf Zeit aus. Sinn-Lehrer sollten einen Vertrag bekommen, der auf zehn Jahre befristet ist, von denen der Pädagoge acht an der Schule verbringt und die letzten zwei für ein „Umorientierungsstudium“ nutzt. Während der gesamten Dauer des Vertragsverhältnisses hätte er vier Fünftel der tariflichen Bezüge erhalten.

Obwohl der Hamburger Senator sich, wie es heißt, „in Karlsruhe rückversichert“ hatte, obwohl er auch Pläne zur Finanzierung unterbreitete, und Experten noch heute von einer der intelligentesten Lösungen sprechen, ist es um den Sinn-Vorschlag sehr rasch ruhig geworden. Der Hamburger Senat und die Kultusministerkonferenz verhielten sich abwartend. Niemand wollte sich den Mund verbrennen, indem er diesen Angriff auf das Beamtenrecht voreilig begrüßte. Statt dessen wurde beschlossen, die rechtliche Seite prüfen zu lassen – durch Beamte. Die Hamburger Behörden prüften denn auch prompt etwas ganz anderes: warum sich der Vorschlag rechtlich nicht durchsetzen läßt. Und dabei nahmen sie sich soviel Zeit, daß Hansjörg Sinn bei Vorlage des Rechtsgutachtens schon auf dem Weg aus dem Amt war. Sein Nachfolger, Klaus Meyer-Abich, hat noch nicht entschieden, ob er den Sinn-Plan wieder aus der Schublade ziehen will.

Das Lehramt auf Zeit hätte es seinem Inhaber ermöglicht, eine berufliche Fehlentscheidung zu revidieren. Nicht nur, daß mancher begabte Pädagoge heute nicht in den Schuldienst hineinkommt: Viele Unbegabte kommen auch nicht wieder heraus. Die Klagen über Disziplinlosigkeiten von Schülern und Schulstreß der Lehrer häufen sich – insbesondere aus jenen Jahrgängen von Pädagogen, die zu Zeiten dies Lehrermangels nach ihrer Ausbildung ohne allzu genaue Prüfung ihrer Eignung geschlossen übernommen wurden. Die Sicherheit des Beamtendaseins erschwert ihnen nun den Ausstieg aus einem ungeliebten Beruf. Und der Staat kann von sich aus kaum je einen Lehrer wieder loswerden, mag seine Eignung auch noch so zweifelhaft sein.

Der obligate Beamten-Status des Lehrers oder, wie der anfangs zitierte Soziologe Dieter Otten meint, „die Monostruktur des Berufsfeldes der Lehrer“ ist schuld an jener „sinnlosen Vergeudung von Bildungsinvestitionen“, die unzutreffend als Lehrerarbeitslosigkeit in die Diskussion geraten ist. Otten fordert einen „offenen Arbeitsmarkt“ und ein offenes Berufsausbildungssystem für Pädagogen. Das staatliche Monopol auf die Bildung der Bürger sei längst nicht mehr zeitgemäß. Otten skizziert das Bild „niedergelassener Lehrer“ und einer Vermehrung freier Scnulen. Gäbe es ein entsprechendes Angebot, glaubt er, würde sich eine starke Nachfrage nach Lehrerarbeit entwickeln.

  • Quelle DIE ZEIT, 14.9.1984 Nr. 38

Uni Witten-Herdecke: Ohne die Scheuklappen der Zunft

1/1/1990

 
Wie an der Privatuniversität Herdecke Wirtschaftswissenschaften studiert werden von Uwe Knüpfer

Aktualisiert  1. März 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Von diesen Studenten hat keiner länger als eine Woche nach einem Zimmer oder einer Wohnung suchen müssen. Nachdem im Lokalteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gemeldet worden war, die ersten Studenten der Wirtschaftswissenschaften an der privaten Universität Witten/Herdecke seien eingetroffen, öffneten sich für die jungen Leute viele Türen wie von selbst.

Nun sitzen die 22 Wirtschaftskadetten im zweiten Stock eines ehemaligen Schulgebäudes und sprechen über das „Denken des Denkens“ und was Borgward damit zu tun hat. Aus München ist ein Philosophie-Dozent angereist, Eberhard Simons heißt er, und philosophengemäß fallen ihm seine rotblonden Haare wuselig in die Stirn. Man duzt sich. Simons zitiert Aristoteles.

Ganz in dessen Sinn will er, sagt er, seinen Zuhörern das „vorstellende Denken austreiben“, sie davor bewahren, sich die üblichen Scheuklappen ihrer Zunft aufzusetzen. Dabei kommt ihm die Erinnerung an den unternehmerischen Exitus von Borgward gerade gelegen. Als die Bilanzrelation des traditionsreichen Fahrzeugherstellers eines Tages dem Lehrbuchideal nicht mehr entsprach, bekamen es die Banken mit der Angst zu tun. Die Firma mußte Konkurs anmelden. So weit, so ganz normal. Doch dann erwies sich die Konkursmasse als ergiebig genug, die Forderungen aller Gläubiger zu hundert Prozent zu befriedigen. Ein an sich gesundes, nur kurzfristig nicht liquides Unternehmen wurde aus dem Markt gedrängt, und zwar nur deshalb, so meint der Philosoph, weil die Verantwortlichen in den Banken nicht fähig waren, über den Schatten ihrer eigenen Denkkategorien zu springen.

Wenn die 22 Wittener Privatstudenten dereinst selbst Wirtschaftskapitäne sein werden, soll ihnen so etwas nicht passieren. Nicht zu Spezialisten, die dem Fachidiotentum ja stets so nahe sind wie das Genie dem Wahnsinn, sollen sie hier ausgebildet werden, sondern zu einer „intellektuellen, lebenspraktischen und künstlerischen Elite“. So steht es im Gründungsexpose der Uni. Und deshalb lernen sie einmal pro Woche vier Stunden lang, im sogenannten Studium fundamentale, über den Tellerrand ihrer Disziplin hinauszuschauen. Alle Studenten und Dozenten der Abteilung treffen sich dabei zu einer Art Vollversammlung und beschäftigen sich anhand von Texten oder eines Gastvortrags mit Wissenschaftstheorie, Philosophie, Geschichte, Anthropologie, sozialwissenschaftlichen Grundfragen oder ökologischen Zusammenhängen. So wollen sie die vermeintliche geistige Enge des staatlichen Wissenschaftsbetriebes bei sich gar nicht erst entstehen lassen.

Die Kritik an der modernen Massenuni ist die eine der beiden Wurzeln des Universitätsvereins. Welcher Hochschullehrer in staatlichen Diensten führt nicht bittere Klage über die Anonymität des Lehrbetriebes, die nervenzehrende Allmacht der Bürokratie, die finanzielle und institutionelle Behinderung der freien Forschung? Einige schritten zur Tat, schlossen sich zunächst zur „Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften“ mit Sitz im niederländischen Driebergen zusammen, gründeten schließlich den Witten/Herdecker Verein und wurden 1982 als Universität von der nordrhein-westfälischen Landesregierung anerkannt.

Die zweite Wurzel des Vereins war das Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke. Eine anthroposophische Klinik, orientiert am Gedankengut Rudolf Steiners, im Ruhrgebiet ein Mekka aller Freundinnen der „sanften Geburt“. Hier wird „Ganzheitsmedizin“ betrieben und seit 1983 eben auch gelehrt. Der Patient, sagen die Ärzte, ist hier keine Nummer, sondern ein Mensch, der Apparat ist ein Hilfsmittel im Heilungsprozeß, kein alles beherrschender Moloch.

Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät hatte gleich von ihrer Gründung im Oktober letzten Jahres an mit dem Vorurteil zu kämpfen, hier gehe es doch wohl vornehmlich um die Indoktrination begabter junger Menschen – mit Steinerschen Ideen. „Alles Quatsch“, lautet der bündige Kommentar Ekkehard Kapplers dazu. Kappler ist der bislang einzige Professor der Fakultät, also auch ihr Dekan. 1988, wenn der Studiengang voll ausgebaut sein wird und 150 Studenten, verteilt auf neun Semester, dem Titel eines Diplom-Ökonomen entgegenstreben, hofft er, fünf weitere Lehrstühle besetzt zu haben. Er spricht vorsichtig von einer Hoffnung, denn: Nicht jeder, der über die Massenuniversität klagt, ist bereit, sein sicheres Beamtendasein aufzugeben zugunsten eines Abenteuers mit stark vermindertem Pensionsanspruch.

Kappler lehrte, bevor er nach Witten kam, in Wuppertal. Seit 1973 hatte er dort den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre inne. Er war Gastprofessor in Lissabon und Wien und ist Mitautor eines „wissenschaftlichen Bestsellers“; der inzwischen in siebter Auflage erschienenen „Industriebetriebslehre“. Natürlich ist ihm der Name Steiner ein Begriff, aber „Anthroposoph bin ich nicht“. Er sei nach Witten gegangen, „um die Stagnation meines Faches systematisch“ beenden zu helfen: „Dazu muß man es ernst meinen mit der Freiheit der Wissenschaft. Eine anthroposophische Universität ist ein Unding. Erkenntnis ist das Gegenteil von Bekenntnis.“

Laut Kappler steckt die Wirtschaftswissenschaft in einer Sackgasse. „Sie nimmt ihre kritische Funktion nicht mehr wahr“, seit die Volkswirtschaften nicht mehr steuerbar erscheinen und „die Ordnungspolitik eine Renaissance erlebt“. Die akademische Betriebswirtschaftslehre, seine eigene Spezialität, zeichne sich inzwischen durch erlesene Praxisferne aus. Eine Wissenschaft, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Impulse mehr zu geben vermag, versinke in der Mittelmäßigkeit.

Folglich sollen die Wittener Studenten nicht nur mit Philosophen parlieren, sondern sich auch, vom ersten Semester an, im Dschungel der freien Marktwirtschaft zurechtzufinden lernen. Jeder von ihnen nimmt Kontakt auf zu einer Mentorenfirma. Dort verbringt er im allgemeinen einen Tag pro Woche, lernt die Arbeit möglichst vieler Abteilungen kennen und hilft mit bei der Lösung innerbetrieblicher Probleme. Darüber kann er auch seine Examensarbeit schreiben. Er soll dabei lernen, postuliert Kappler, „die Praxis ernst zu nehmen, nicht so zu tun, als sei sie der nicht gelungene Teil der Theorie“. Der ständige Vergleich zwischen Erlerntem und Erfahrenem mache den Kern des Studiums aus.

Den Praktikern von heute scheint die Idee zu gefallen. Schon wollen rund sechzig Unternehmen Mentorenfirmen werden. Die Mitgliedsliste liest sich wie ein Auszug aus einem Gotha der deutschen Industrie. Alfred Herrhausen ist dabei, seit kurzem zweiter Sprecher der Deutschen Bank, Ludwig Bölkow, Egon Overbeck, ehemals Vorstandsvorsitzender von Mannesmann, oder Klaus Knizia, in gleicher Funktion tätig bei den VEW. Laut Satzung hat das Kuratorium die Aufgabe, „die Unabhängigkeit der Universität zu sichern“.

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  • Fortsetzung von Seite 46
Es tut dies unter anderem durch Kontrolle der Finanzen und des Vorstandes und auch durch „Teilnahme an Prüfungen innerhalb der Universität“.

Während des Studiums freilich spielen Prüfungen, Klausuren, formelle Leistungsnachweise eine höchst untergeordnete Rolle. Der Kreis der Lehrenden und Lernenden bleibt überschaubar, man sieht sich ständig, nicht nur im Studium fundamentale: Alle Angelegenheiten der Fakultät werden gemeinsam beraten und geregelt. Die Frage nach Drittel- oder sonstigen Paritäten hat noch niemand gestellt. An der Privatuni geht es zu wie bei der Papstwahl: Einstimmigkeit ist gefragt oder zumindest doch Einmütigkeit. Stundenpläne sind kein Dogma, wenn ein Problem noch nicht zu Ende diskutiert worden ist.

Wo sich alle so gut kennen, weiß der Professor ohnehin, was er von jedem einzelnen zu halten hat, auch ohne multiple choice. Es klingt wie Behauptung und Forderung zugleich, wenn Kappler sagt: „Wer studiert, ist unbestritten erwachsen. Er kann und soll sein Studium selbstverantwortlich betreiben.“ Sollte jemand mittendrin entdecken, daß er sich im Fach vergriffen hat, will Kappler ihm zum Abbruch raten: „Wir machen keine Motivationsmätzchen. Mitleid stigmatisiert den armen Abbrecher, statt ihn ernst zu nehmen.“ Ganz im Gegensatz zu der „Bafög-Philosophie“ von der volkswirtschaftlichen Schädlichkeit eines nicht beendeten Studiums hält er eine konsequente Entscheidung sogar für „produktiv“.

Mindestens einmal während seines Studiums hält sich der Wittener Elitestudent für längere Zeit im Ausland auf: bei einem Lehrstuhl seiner Wahl. Damit er sich dort und später im Wirtschaftsleben auch unterhalten kann, sind Intensivkurse in zwei Fremdsprachen obligatorisch.

Mit dem Eliteetikett zu leben haben alle 22 inzwischen gelernt. „Ich begreife das mittlerweile als einen Anspruch an mich selbst“, sagt beispielsweise Michael Difliff mit breitem schwäbischen Akzent. Er stammt aus Bietigheim bei Stuttgart und hätte von seinem Äußeren her mindestens so gut in die Blockadereihen vor Mutlangen gepaßt wie in den Seminarraum der Privatuniversität. Niemand wird hier mit Statussymbolen versehen wie in den klassischen Reproduktionsstätten des Establishments üblich – und sei es nur mit einer collegeeigenen Krawatte.

Warum hat Difliff sich ausgerechnet hier beworben? Konkretes habe er kaum gewußt über die Wittener Uni. Ihr Ruf, irgendwie „anders“ zu sein, habe ihn gereizt. Manager wollte er im Grunde nie werden, aber „seit ich hier bin, bekomme ich immer mehr Lust dazu“.

Anders war es bei Johannes Eckmann. Er kommt aus einer münsterländischen Unternehmerfamilie, seine Kleidung ist von modischer Eleganz, er trägt Binder und Metallköfferchen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie andere Kommilitonen Turnschuhe und Schlabberpulli. Eckmanns Studienziel ist und war klar: „Führungskraft in Marketing oder Organisation“ zu werden. Ursprünglich hatte er sich in Koblenz bewerben wollen, an der anderen privaten Brutstätte für Bosse von morgen. Die Studiengebühr, die dort gefordert wird, hätte er im Gegensatz zu Difliff problemlos . zahlen können. was ihn abstieß, war: „Aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Herkunft haben da wahrscheinlich alle fast die gleiche Meinung. Hier in Witten habe ich Meinungen gehört, die ich vorher nie gedacht habe.“ Ihm gefällt, daß man sich auch nach den Vorlesungen noch unterhält, wenn das Thema spannend war. Da brechen Vorurteile manchmal zusammen wie Kartenhäuser. Selbst im Umgang mit Leuten, die ihm auf Anhieb fremd, ja unsympathisch waren, hat Johannes Eckmann inzwischen „gemeinsame Schwingungen“ entdeckt. Im übrigen gefällt ihm die Praxisnähe des Studiums. Demnächst will er mit zwei anderen ein eigenes Unternehmen gründen, seine eigene Mentorenfirma sozusagen.

Wieder ganz anders sieht die Lebensperspektive von Celal Toglukdemir aus. Der junge Türke wollte eigentlich Philosophie und Literatur studieren. Durch Zufall und weil man es ihm riet, ergatterte er einen Studienplatz für Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal. Von da aus folgte er seinem Lehrer Ekkehard Kappler dann nach Witten. Aber noch immer, so beteuert er, heißt sein Berufsziel: Schriftsteller.

Von 350 Bewerbern um die angebotenen vierzig Studienplätze wurden im letzten Sommer sechzig nach Witten eingeladen, aber nur 22 genommen. Dem Auswahlausschuß gehörten sechs Dozenten und drei „Externe“ an, Manager aus der Region zumeist. „Der gewünschten Heterogenität der Studenten entspricht die Heterogenität der Auswahlgruppe“, sagt Kappler, Das „vollkommen bunte Prisma“ der Studenten, das Johannes Eckmann so gefällt, entspringe nicht dem Zufall. Da es laut Kappler kein Kriterium gibt, um zu erkennen, ob jemand ein guter Ökonom wird, interessieren weder die Abiturnoten der Bewerber noch ihre wirtschaftswissenschaftlichen Vorkenntnisse. „Wir wollen wissen, wie engagiert einer das betreibt, was er als seine Neigung bezeichnet. Das kann Gitarrespielen sein, moderne Literatur oder meinetwegen auch Innenarchitektur.“ Den Ausschlag geben vielstündige Gespräche.

Wer genommen wird, braucht Studiengebühren nicht zu bezahlen. Die werden aus Spenden bestritten. Kappler bemüht sich um Stipendien für jeden einzelnen seiner Studenten. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes habe ebenso Bereitschaft zum Entgegenkommen signalisiert wie die parteinahen Stiftungen.

Vorsitzender des Universitätsvereins ist Konrad Schily. Der gelernte Nervenarzt und passionierte Kettenraucher sucht, offenbar pausenlos, nach geeigneten Dozenten und potenten Spendern. Unter den Namen der Kuratoriumsmitglieder der Privatuniversität findet sich auch der von Rudolf Judith, Mitglied des Bundesvorstands der IG Metall, obwohl man meinen könnte, Begriffe wie „privat“ und „elitär“ ließen jeden Gewerkschafter und Sozialdemokraten an die Decke gehen. Doch auch die Regierung Rau läßt sich vertreten, durch einen Abgesandten des Wissenschaftsministeriums. Und Konrad Schily hat ja auch gar nichts gegen Chancengleichheit. Im Gegenteil: Die soziale Herkunft der Kandidaten, so beteuert er, spiele beim Bewerbungsgespräch die gleiche Rolle wie ihre Weltanschauung, nämlich keine. „Aber es gibt nun mal keine Gleichheit der Begabung oder des Engagements. Wir brauchen eine Elite, um die Schwachen mit durchzuziehen.“

  • Quelle DIE ZEIT, 1.3.1985 Nr. 10

Auf Unternehmer studieren

1/1/1990

 
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Basic für den Boden

1/1/1990

 
Mit Hilfe des Computers sollen die Bauern Ökologie und Ökonomie versöhnen von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 26. Juli 1985  08:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer An der Wand über Hans Wortbergs schwerem Schreibtisch, neben der ererbten Standuhr, hängt gerahmt der Spruch: „Meine Eltern trugen das Bauernkleid seit Menschen Hafer säten,... Um ihre Stirn der ew’ge Wind, Der nahe Duft der Erde, Der Atem ihrer Pferde, Nun durch all mein Blut rinnt.“ Auf dem Schreibtisch steht ein flacher Plastikkasten, vielleicht zehn mal vierzig Zentimeter groß. Darauf: Tasten wie an einer Schreibmaschine, nur zahlreicher. Ein Kabel verbindet den Kasten mit einem Fernsehgerät. Hans Wortberg ist einer von hundert deutschen Landwirten, die „Btx Agrar“ erproben: Bildschirmtext für Bauern.

Hans Wortberg ist ein Pionier. Ein Landwirt der Zukunft, wie ihn sich diejenigen wünschen, die in der deutschen Landwirtschaft das Sagen haben. Das sind, und sie sprechen meist, als hätten sie nur eine Stimme: der Deutsche Bauernverband, der Verband der Landwirtschaftskammern, die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft, der Raiffeisenverband (alle vier zusammengeschlossen im Zentralausschuß der Deutschen Landwirtschaft) sowie der Verband der Chemischen Industrie. Dieses seit Jahrzehnten eingespielte Interessenkartell plant die neuerliche Modernisierung der Agranndustrie. Wiederum ganz nach dem Vorbild anderer Großindustrien; diesmal mit Hilfe des Computers.

Warf der Bauer früher einen Blick aus dem Fenster oder in den Hundertjährigen Kalender, wenn er wissen wollte, ob es Zeit war zu säen, zu düngen oder zu ernten, so blickt er künftig, falls die berauschende Vision des Kartells Wirklichkeit wird, auf den Bildschirm, holt sich seine Anweisungen, pardon: Anregungen, per on-line-Anschluß von der zentral-agrarischen Datenbank. Bits und Basic statt Blut und Boden.

Der Ausweg aus der Krise der Landwirtschaft scheint gefunden. Aus einer Dauerkrise, die den Bauern doppelt zwickt: Es geht ihm ökonomisch immer schlechter, und gleichzeitig muß er sich als Umweltfrevler schmähen lassen.

Ständig klagen die Interessenverbände der Bauernschaft über sinkende Einkommen ihrer Mitglieder. Deren Schuppen stehen voll von teuerstem Gerät; die Mechanisierung der Landbewirtschaftung ist auf die Spitze getrieben, niemand mehr glaubt, auf diesem Wege sei die Produktivität der deutschen Bauern weiter steigerbar.

Fast eine Million Bauern haben seit 1950 schlapp gemacht; die Zwänge der damals geforderten Modernisierung haben sie überfordert. Die – bis heute – ökonomisch überlebten, mußten Schulden machen. Weil der Betriebserlös oft langsamer wächst als Schuldsumme und Zinsniveau, schlingern viele Bauern dauernd nur so eben am Rand der Pleite entlang. Knechte und Mägde haben sie längst entlassen, und nicht wenige suchten sich selbst zusätzliche Arbeit außerhalb des angestammten Hofs. Euphemistisch nennt man sie die Nebenerwerbslandwirte. Solange es in der Industrie noch Arbeit gab, nahm auch ihre Zahl ständig zu.

Oppositionelle Landwirte, sie scharen sich um das in Pfahlbronn erscheinende „Bauernblatt“, halten den vom Agrarkartell seit dreißig Jahren propagierten Weg vom Bauerntum zur Agrarindustrie für eine Sackgasse. Der einzige Ausweg, sagen sie, sei die Umkehr. Das bedeutet: weniger Gerät, keine Chemie, keine Spezialisierung, mehr Arbeit. Die Chemie, deren Jünger für „natürliche“ Lebensmittel auch, gern höhere Preise zahlen, macht’s möglich, daß eine wachsende Minderheit von Bauern diese Umkehr für ökonomisch mögvon hält.

Das Kartell, dessen Appelle zur Mechanisierung und Rationalisierung nicht mehr so recht ziehen wollen, suchte nach neuen Argumenten und Parolen. Dank Digitalisierung, Personal-Computer (PC) und Verkabelung glaubt es, sie gefunden zu haben. Die neue Parole lautet: durch gezielten Einsatz Betriebsmittel sparen. Dünger und Gifte ließen sich computergesteuert wirksamer und sparsamer einsetzen, als wenn der Bauer nur mal eben seinen Daumen in den Wind hält.

Zumal die Daumenmethode den Landwirt bei Umweltschützern und besorgten Verbrauchern in ein ausgesprochen schlechtes Licht hat rücken lassen.

Zuviel Stickstoffdüngung führt zu Übermengen von Nitrat im Grundwasser. Herbizide, Fungizide, Pestizide zum falschen Zeitpunkt und in übertriebenen Mengen verabreicht, bleiben auf der Nahrung haften und richten ihre schädigende Wirkung außer gegen unerwünschte Kräuter, Pilze und Insekten dann womöglich auch gegen Menschen. Die mechanische Bodenbearbeitung und die massenhafte Anpflanzung bei uns an sich nicht heimischer Gewächse (wie Mais) auf dafür ungeeigneten Äckern führen zu Boaenerosionen. Der großflächigen Bewirtschaftung wichen Hecken und Feldränder, die Lebensräume vieler Kleintierarten bis hin zum Feldhasen.

Auch vom Umwelt-Pranger herunterzukommen helfe dem Bauern nur die Umkehr zu den Methoden von gestern, sagt die Opposition. Völlig falsch, sagt das Agrarkartell: Realistisch helfen könne auch hier nur der Computer. Denn, so sein Credo: Chemie sei nicht schädlich, sondern nützlich. Zu unerwünschten Nebenwirkungen könnte es nur kommen, wo sie unsachgemäß eingesetzt werde. Das jeweils richtige Mineral oder Gift auf der jeweils richtigen Fläche zum optimalen Zeitpunkt in der jeweils richtigen Dosierung einzusetzen, sei aber, freilich, eine höchst komplizierte Aufgabe. Wäre der gewöhnliche Bauer durch sie nicht überfordert, folgert das Kartell, gäbe es auch keine Umweltschäden durch Chemie im Ackerbau. Also brauche der Landwirt Hilfe. Und die soll ihm nun der große Datenbruder geben.

Das patente Programm hat auch schon einen griffigen Titel: Integrierter Pflanzenbau. Eine eigens geschaffene Agentur soll für seine rasche Verbreitung sorgen, die „Fördergemeinschaft Integrierter Pflanzenbau“. Grob skizziert, sieht die vom Kartell erwünschte Landwirtschaft von morgen gemäß den bisher verfügbaren Darstellungen seitens der „Fördergemeinschaft“ etwa so aus:

In allen Kammerbezirken werden leistungsfähige Computer und ein Netz feinfühliger Wetterbeobachtungsstationen installiert. Jeder Landwirt schafft sich einen „dialogfähigen“ Personal-Computer an. Nun registriert er sehr genau und ständig, was sich wann auf welchem Bodenschlag ereignet. Bevor er düngt oder spritzt, hackt oder eggt, fragt er den Großen Bruder, und der sagt ihm genau: Hier tust du dies, dort läßt du jenes. Der Computer, bestens informiert über die Beschaffenheit jeden einzelnen Ackerstreifens und in enger Fühlung mit dem Wettergott, sagt ihm auch, welche Sorten er pflanzt und welche besser nicht. Er wird dem Bauern auch raten, bestimmte Flächen, die zu bebauen eh mehr schadet als lohnt, unbehandelt zu lassen. Dort bilden sich dann „Öko-Zellen“, Reservate für bedrohte Tier- und Pflanzenarten.

Gemessen an dieser Idealvorstellung wirkt der gegenwärtige Btx-Feldversuch eher rührend. Hans Wortberg jedenfalls, den ebenso aufgeschlossenen wie nüchternen Bauern aus Kettwig an der Ruhr, hat „Btx Agrar“, er testet es seit Anfang 1984, bisher wenig überzeugen können. „Fachzeitschriften sind aktueller“, meint er lapidar: Zeitraubendes „Blättern“ am Bildschirm fördere allzuoft nur Markt- und Wetterdaten von vorgestern zutage.

Nur in Schleswig-Holstein und Bayern können PC-gerüstete Bauern mit ihrem zentralen Datenspeicher auch schon erste Dialoge führen. Die interessanten Informationen von BALIS, ärgert sich Hans Wortberg, seien ihm, als einem Rheinländer, leider nicht zugänglich. BALIS steht für: Bayerisches Landwirtschaftliches Informations-System.

Aller Anfang wirkt niedlich. Helmut Nieder, der Geschäftsführer der „Fördergemeinschaft“, findet eine aus seiner Sicht verfrühte Publicity denn auch eher peinlich denn hilfreich. Sein Arbeitgeber, betont er eindringlich, sei erst „in Gründung befindlich“, im Herbst etwa sei mit dem offiziellen Schöpfungsakt zu rechnen. Dann werde man auch über eigene Räumlichkeiten verfügen, in Bonn wahrscheinlich.

Noch sind Adresse und Telephonanschluß der „Fördergemeinschaft“ identisch mit denen des Verbandes der Chemischen Industrie in Frankfurt am Main.

Von dort aus entfaltet Nieders eigentlich noch gar nicht existente Agentur zur Verbreitung des digitalisierten Ackerbaus in Bauernkreisen bereits eine erstaunlich lebendige Propagandatätigkeit. Sie schickt Referenten in die Lande, druckt wissenschaftliche Vorträge über Methoden und Vorzüge des Integrierten Pflanzenbaus in hohen Auflagen, sie verbreitet journalistisch aufbereitete Erfahrungsberichte angeblich bereits überzeugter Muster-Bauern. Vom Tonfall her wirken solche Geschichten manchmal wie aus einer Öko-Fibel abgeschrieben: Ein „Umdenken auf der ganzen Linie“ wird da den Bauern abgefordert, ja von einer „Umkehr“ ist auch hier die Rede.

Vorbei sind die Zeiten, da der Landwirt wenigstens von Seiten des Agrarkartells als „Naturschützer Nummer Eins“ gegen alle Anwürfe in Schutz genommen wurde. Offen ist nun von „mehreren unerfreulichen Folgen heutiger Formen der Landnutzung“ die Rede. Der Bauer, sagt Helmut Nieder, müsse „eine Menge erkennen und dazulernen“. Bisher habe er nur „eindimensional“ an Kosten, Erträge und Prämien gedacht. Künftig hingegen habe er ganzheitlich zu denken und zu ackern, Ökologie und Ökonomie miteinander integrierend.

Außer Lerneifer ist dafür Zeit vonnöten. Wer seinen Computer ständig mit aktuellen Daten füttern will, kann nicht den halben Tag in der Fabrik verbringen. Wer manche Unkräuter auch wieder weghacken soll, statt die pauschal vernichtende Giftkeule zu schwingen, muß wieder öfter auf seinen Acker hinaus.

„Der Nebenerwerbslandwirt wird sich schwertun“ mit dem Integrierten Pflanzenbau, gibt denn auch Professor Heinz Vetter, der Präsident des Verbandes der Landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalten (VDLUFA) unumwunden zu. Profis seien gefragt und eher noch größere als wieder kleinere Höfe. Rechnergesteuerte, von dynamischen Agrarmanagern geleitete Großbetriebe hier, sich allmählich in „Öko-Zellen“ verwandelnde Kleinhöfe dort, dies könnte die Agrarstruktur der Zukunft sein.

Hans Wortberg jedenfalls ist bereit mitzumachen. Sein Hundert-Hektar-Hof, weitgehend spezialisiert auf die Bullenzucht, scheint für die bäuerliche Neuzucht bestens gerüstet. Schon hat er den Familienbetrieb überführt in eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts, schon hat er, mangels Personal-Computer, eine Handkartei über Maßnahmen und Veränderungen auf allen seinen Bodenschlägen angelegt. Auch daß „Btx Agrar“ aus seiner Sicht eher ein Flop ist, stört Hans Wortberg wenig. Er hat Terminal und Fernseher ja nicht gekauft. Für einmalig 1600 Mark Pacht bekam er beides als „Dauerleihgabe“ ins Wohnbüro gestellt. Wenig Geld, meint er, für einen Farbfernseher mit Stereoton.

Als wacher Geschäftsmann, der er ist, erhofft sich Hans Wortberg von der Computerisierung der Landwirtschaft vor allem eines: bessere Geschäfte durch bessere Marktübersicht, vielleicht gar Wegfall des Zwischenhandels bei Dünge-, Futtermitteln und Giften. Wenn er am Bildschirm die Preise der Anbieter am Ort mit denen in Schleswig oder Rosenheim vergleichen könnte: „Das wäre interessant.“ Doch, bei allem Optimismus, an Wunder glaubt Hans Wortberg nicht: „Das tun sie nicht“, sagt er und läßt offen, wen er mit „sie“ meint: „Das würde ja totale Markttransparenz bedeuten.“

  • Quelle DIE ZEIT, 26.7.1985 Nr. 31

Aktion Schulkultur: Es fehlen die Worte

1/1/1990

 
Was Schule ist, weiß jeder. Hier liegen sinnliche Erfahrungen vor. Auch unter Kultur vermag sich der eine oder die andere durchaus etwas vorzustellen. Aber was ist Schulkultur?

Natürlich, da steht Ciceros/Heisenbergs gipserne Büste in der Aula des Gymnasiums, oder es überfällt uns die Erinnerung an den weißhaarigen Musiklehrer, der alle Sextaner zum Tonleiterabsingen antreten ließ; zwecks Rekrutierung geeigneter Talente zur Komplettierung des Schulchors. Kultur, so lernten wir daraus, ist etwas Hehres, Ernstes, Getragenes, kurz: ist nicht von dieser Schülerwelt.

Nun begibt es sich aber seit geraumer Zeit immer häufiger, daß Menschen sich, teilnehmend an Ereignissen, die den amtlichen Stempel „Kultur“ tragen dürfen, ganz offensichtlich famos amüsieren. Im Schauspielhaus zu Bochum etwa erklingt frohes Lachen sogar, wenn brandaktuelle Inszenierungen zu sehen sind – ja gerade dann. In einigen Museen sieht man die Bilder oder die geblümten Kaffeetassen kaum vor lauter Kindern. Es ist schon lange wieder chic, die geplante Bebauung eines Stadtplatzes unter ästhetischen mehr als unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten zu diskutieren.

Die Kultur, so schließen wir daraus, ist von ihrem hohen Sockel gestiegen (oder gefallen), und siehe da, jetzt ist sie mitten unter uns.

Davon, meinten die weisen Väter der Stadt Münster in Westfalen, müßte eigentlich auch etwas in den Schulen zu bemerken sein. Und so baten sie schon 1980, und seither alljährlich mit ständig wachsendem Erfolg, die Schüler und die Lehrer ihrer Stadt, doch öffentlich mal vorzuführen, was sie derzeit unter Kultur verstehen. Den gleichen Appell richteten sie jetzt an die 23 anderen nordrhein-westfälischen Großstädte, die, gemeinsam mit Münster und Osnabrück, das „Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit“ mit Sitz in Wuppertal unterhalten.

Von der Resonanz auf ihren Aufruf waren die Initiatoren, so sagen sie, selbst überrascht. Fast 300 Projekte wurden vorgeschlagen. 67 davon werden am 10. November in der Halle Münsterland, wo sonst Bullen versteigert werden, zu sehen und zu hören sein. Fast 1400 Grund-, Haupt-, Sonder-, Realschüler und Gymnasiasten aus allen Teilen des Landes werden dann dort musizieren, Selbstgereimtes rezitieren, parodieren, tanzen oder Ausstellungen, ja gar „Environments“ zeigen.

„Schulkultur NW 85/86“ nennt sich das Ganze. Die Münsteraner Großveranstaltung soll erst der Auftakt sein einer Serie, dann dezentraler Aktionen gleicher Art. Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier hat dazu nicht nur seinen Segen gegeben, sondern auch gleich seine Teilnahme an der Auftaktveranstaltung in Aussicht gestellt. Dort kann er sich dann (wenn er sich beeilt beim Gang durch die Halle) erst türkische Folklore anhören, danach vielleicht eine „Kindersymphonie“, flugs darauf die „8×5×1-Rockband“, als Schmankerl zwischendurch „... es muß nicht immer Marzipan sein“ (eine Revue), bevor er, gegen Abend, erschöpft aber glücklich den satten Sound einer Schüler-Big-Band genießt.

Wer das Programmheft des Tages der schulischen Kultur durchblättert, gewinnt den Eindruck, es gibt nichts, womit sich Lehrer und Schüler (ganz normaler Schulen) heute nicht beschäftigen: Stadtgeschichte, Pantomime, Videos, „Wohnen“, Kabarett, Musical, Märchen – und das alles, da sind sie ganz unbefangen, gilt ihnen als Kultur.

Sollte dem Minister bei seinem Bummel von Bühne zu Bühne der Überblick abhanden kommen, kann er zwischendurch dem Münsteraner Literaturprofessor Gunter Reiß lauschen. Der will über das „Lernziel Kultur?“ – mit Fragezeichen – referieren.

Reiß wurde engagiert, das einjährige Projekt wissenschaftlich zu begleiten. Überbau muß sein; ganz ohne höhere Weihen geht es ja doch nicht. Das ist deutsch. Undeutsch hingegen scheint das Spektakel selber zu sein. Denn in dessen Mittelpunkt stehen Darbietungen mit Titeln wie „Lieder erfinden“ oder „Theater“, an denen jeder Besucher, so er will, teilnehmen kann. Workshops nennt man so etwas, und die Initiatoren schließen sich dem an. Germanist Reiß beteuert: Dem Deutschen fehlen die Worte. Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 1.11.1985 Nr. 45

Ungeliebte Erfinder

1/1/1990

 
Außenseiter mit Ideen haben es schwer von Uwe Knüpfer

Aktualisiert  1. November 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Karl-Heinz Krahn ist begabt, jung, fleißig, promovierter Ingenieur und diplomierter Physiker und – frustriert. Dabei schien sein Glück schon gemacht an jenem Tag im Frühling 1979, ab er sah, daß eine Idee, die er gehabt hatte, sich tatsächlich verwirklichen ließ.

Krahn ist Laser-Experte. 1979 hatte er eine Assistentenstelle an der Bochumer Ruhr-Universität inne. Er beschäftigte sich damals mit gepulsten Gaslasern und war einer Möglichkeit auf die Spur gekommen, handelsübliche Geräte dieses Laser-Typs in „altes Eisen“ zu verwandeln. Das Besondere an einem gepulsten Gaslaser ist: Er feuert gebündelte Lichtstrahlen in rascher Folge ab, die Löcher oder Schnitte in Oberflächengewebe brennen, ohne darunterliegende Materialschichten zu verletzen.

Mit dieser Art von Laser lassen sich zwar keine Raketen vom Himmel holen, wohl aber – zum Beispiel – Augenoperationen durchführen. Nur leider, und das ärgerte Krahn, haben seine Strahlen gegenüber denen anderer Laser-Typen einen schwerwiegenden Nachteil: Ihr Querschnitt ist nicht rund, sondern eher rechteckig, und die Intensitätsverteilung des Lichts innerhalb dieses Rechtecks ist ungleichmäßig. Um aber mit ihm haarfeine Schnitte machen, ja um ihn besser durch Linsen oder Glasfasern leiten zu können, sollte ein Laserstrahl immer genau in seiner Mitte am hellsten sein.

Karl-Heinz Krahn bewies, was vor ihm niemandem gelungen war; daß auch gepulste Gaslaser einen runden Strahlquerschnitt haben können. Er hatte nämlich eine schlichte, aber gerade eben deshalb genial anmutende Idee: Er verdoppelte – vereinfacht ausgedrückt – das Energiefeld, in dem der Laserstrahl sich aufbaut, und verdrehte beide Felder miteinander zu einem; dies glich nun zwei ineinander verflochtenen Spiralen. Krahns Forscherkollegen in Bochum applaudierten, als eine Versuchsanordnung, wie Krahn sagt, „vom ersten Schuß an“ funktionierte.

Damals ahnte der findige Wissenschaftler noch nicht, was der Volksmund schon seit alters weiß und was Krahn in den folgenden Jahren erst unter Schmerzen zu glauben lernte: Erfinden lohnt sich nicht.

Weitererzählt werden immer nur die Erfolgsgeschichten. Wie der Bikini kreiert, wie der erste Heimcomputer zusammengebastelt wurde. Oder die von dem Mann, der den Reißverschluß erfand, steinreich wurde und die Knopfindustrie in eine Strukturkrise stürzte.

Im Gegensatz zu den Erfindern hat die Industrie aber aus solchen Geschichten Lehren gezogen. Und längst Mittel und Wege gefunden, sich revolutionierende Neuerungen – nicht kostensparende Detailverbesserungen, die sind gern gesehen – solange wie möglich vom Leib zu halten.

Krahn ließ sich seine Idee patentieren; in der Bundesrepublik, in den USA, in Kanada, in Japan. Die Patentgebühren, dachte er, würde er schon vorfinanzieren können und die Einnahmen dürften ja wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Doch das war ein Irrtum. Zwar bestärkte ihn auch die Patentstelle für die Deutsche Forschung in München, eine Einrichtung der Fraunhofer-Gesellschaft, in der Gewißheit, sein Laser sei eine echte Innovation. Und auf Innovationen warte die Wirtschaft angeblich voller Ungeduld. Die Münchener erklärten sich sogar bereit, potentielle Interessenten auf die Erfindung aufmerksam zu machen.

Krahn wartete, forschte weiter, wechselte von der Uni in die Privatwirtschaft und zurück und – hörte nichts. „Die Reaktion war gleich Null“, sagt er.

Längst schon hatte er aufgegeben, da erkannte ihm eine unabhängige Jury für seine Erfindung den Philip-Morris-Forschungspreis 1985 zu. Krahn freute sich, kassierte 30 000 Mark, kaufte seiner Frau und sich Abendgarderobe, eigens für die Preisverleihung, schöpfte neue Hoffnung und ging erneut mit seinem nun preisgekrönten, Laser hausieren.

Diesmal schrieb er selbst alle deutschen Firmen an, die, soweit bekannt, mit Lasertechnik irgend etwas zu tun haben. Die Adressenliste liest sich wie ein Gotha der heimischen Hochtechnologie.

Das ist nun fünf Monate her. Und jetzt, allmählich, „kommen die Absagen“. Inzwischen glaubt Krahn schon den Inhalt solcher Antwortbriefe zu kennen, bevor er sie geöffnet hat. „Herzlichen Glückwunsch“, steht da, sinngemäß, stets drin, „das ist wunderbar, was Sie da erfunden haben, aber wir brauchen es nicht.“ Die gepulsten Gaslaser mit rechteckigem Strahlquerschnitt verkaufen sich indes, scheint es, noch immer prächtig.

Aber auch in anderen Bereichen sind Innovationen zur Sicherung oder Schaffung von Arbeitsplätzen offenbar doch nicht so gefragt, wie immer behauptet wird – zumindest dann nicht, wenn die Ideen von Außenseitern kommen. Denn an mangelnder Findigkeit deutscher Tüftler kann es nicht liegen, daß die Arbeitslosenquote partout nicht unter die Zweimillionenmarke sinken will, denn die Zahl der Einfälle hat sprunghaft zugenommen: 1981 verlieh das Deutsche Patentamt nur 9271 Patente, 1984 waren es 21773. „Die erfinderische Leistungsfähigkeit faßt wieder Tritt“, formulierte der Präsident des Amtes, Erich Häußer, im Frühjahr 1985 für die Süddeutsche Zeitung. Und das Handelsblatt schwärmte gar: „Anstieg der inländischen Patente kündet den Innovationsfrühling an.“

Ziemlich parallel zur Zahl der Patentanmeldungen steigt auch die Zahl der Existenzgründungen. Statistisch zwar kaum belegbar, aber dennoch zu vermuten ist, daß immer mehr – meist junge – Menschen all ihre Hoffnung darauf setzen, ihre Erfindung selber zu realisieren oder durch die Vermarktung einer originellen Idee dem Schicksal der Arbeitslosigkeit zu entrinnen.

Es muß nicht immer gleich ein Laser sein. Die größte Gruppe der 1984 angemeldeten Patente hatte mit Mechanik zu tun, gefolgt von Maschinenbau und Elektrotechnik.

Ein typischer selbständiger Erfinder ist der Duisburger Rolf Schaefer. Er hält Dutzende von Patenten in aller Welt. Meist betreffen sie Kleinigkeiten, Verbesserungen im Detail, von denen Schaefer jedoch jahrelang ganz gut leben konnte. Bis auch ihm (scheinbar) der große Wurf gelang. Er erfand ein simpel-raffiniertes Stecksystem für Möbel. Schränke, Regale und selbst ganze Baracken lassen sich damit, das führt Schaefer Besuchern in seinen Firmenräumen gern vor, verblüffend rasch, ganz ohne Schrauben und Beschläge, wasserdicht und beliebig oft zusammensetzen und ebenso leicht wieder auseinandernehmen.

Vor drei Jahren stellte Schaefer sein System auf der Kölner Möbelmesse vor, Alle, die es sahen, erzählt der Erfinder, waren begeistert. Besonders angetan zeigte sich der Chef eines Unternehmens, das Küchenmöbel herstellt. Schaefer: „Ich dachte schon, die greifen zu.“ Doch ganz im Gegenteil. Er könne doch kein Interesse daran haben, wandte sich der Manager zum Gehen, sein eigenes, sich gut verkaufendes Beschlägesystem auf den Müll zu werfen einschließlich aller Maschinen, mit denen nichts anderes herzustellen ist als die herkömmlichen Schraub-Möbel. „Aber was tun Sie denn, wenn einer Ihrer Wettbewerber mein System übernimmt?“ Die Antwort: „Dann ziehen wir nach.“

So jedenfalls erzählt es Rolf Schaefer – ganz ohne Groll. Er ist schließlich selbst Unternehmer. „Ich würde genauso handeln.“

In der Grundlagenforschung, sagte der diesjährige Physik-Nobelpreisträger Klaus von Klitzing der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, erbrächten die deutschen Wissenschaftler nach wie vor Leistungen, die sich weltweit sehen lassen können. Was den Deutschen aber fehle, so der Nobelpreisträger weiter, sei die Fähigkeit, ihr Wissen, ihre Ideen schneller als andere in verkaufbare Produkte zu verwandeln.

Der Laser-Spezialist Krahn, gewiß ein Patriot, sagt es auf seine Weise, und inzwischen klingt es etwas patzig: „Ich warte jetzt nur noch darauf, daß ein Japaner kommt und fragt: Was willst du dafür? Dann bin ich am nächsten Tag in Tokio.“

  • Quelle DIE ZEIT, 1.11.1985 Nr. 45

Los geht's - aber bitte mit Köpfchen

1/1/1990

 
Kultusminister Hans Schwier möchte mit der neuen Technik die Allgemeinbildung retten von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 29. November 1985  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

Wieviel Informatik braucht der Mensch? Ist der Computer im Klassenzimmer die neue große Lernhilfe, die gequälten Pädagogen zu der beglückenden Erfahrung verhilft, daß es doch noch fleißige, begeisterungsfähige, konzentriert lernende Schüler gibt? Oder macht er, im Gegenteil, jede pädagogische Anstrengung zunichte, förderte er die schleichende Digitalisierung des Bewußtseins, produziert er, als Medium der Welterfahrung, Menschen, die, wie der Computer nur zwischen eins und null, ihrerseits nur zwischen schwarz und weiß zu unterscheiden vermögen? Menschen mit Mattscheibe also, die „Dallas“ für die Wirklichkeit nehmen?

Seit gut zwei Jahren wogt dieser Streit in deutschen Klassenzimmern, Seminarsälen und Zeitungsspalten hin und her. Nun, allmählich, legt sich der Rauch, und erkennbar wird: Die Fronten haben sich verschoben, die staatliche Anstalt Schule nimmt ihn an, den Computer.

Als erstes Bundesland hat, jetzt im Herbst, ausgerechnet das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen ein Rahmenkonzept „Neue Informations- und Kommunikationstechnologien in der Schule“ vorgelegt. Danach sollen künftig zwischen Aachen und Paderborn, zwischen Siegen und Münster alle Schüler der Jahrgangsklassen sechs bis acht ein informationstechnisches Grundwissen erwerben, und zwar in den Unterrichtsstunden traditioneller Fächer. Ein eigenes (Wahl-)Fach Informatik wird es erst ab Klasse neun geben. Es kann dann auch Abiturfach sein.

Zunächst sollen 24 ausgewählte Schulen das Rahmenkonzept erproben und mit Erfahrungen füllen. In einigen Grundschulen wird zudem ausprobiert werden, ob der Rechner mit Glotze auch schon für die Kleinsten als Lernmittel taugt.

Daß Nordrhein-Westfalen es plötzlich so eilig hat, mag auf den ersten Blick verwundern. Hatte man sich doch daran gewöhnt, daß die lautesten Chip-chip-Hurra-Rufe aus den Kultusministerien der CDU-regierten Länder schallten, gleichsam als Echo auf Prophezeiungen aus dem Dunstkreis der Industrie, schon 1990 würden 70 Prozent aller Bundesbürger im Alltag mit neuen Informationstechniken zu tun haben. Das Computern werde bald so wichtig sein wie Schreiben, Lesen und Rechnen. Wie die anderen drei müsse die Schule auch diese neue, vierte, „Kulturtechnik“ vermitteln. Warnend wurde vorgerechnet, wie viele Rechner und Terminals bereits in amerikanischen oder britischen Schulen stehen. Offenbar zutiefst besorgt um das Weltniveau des deutschen Bildungswesens überschwemmten die Computer-Hersteller die Schulen mit Sonderangeboten. Ergebnis: Schon jetzt dürfte mindestens jede zweite deutsche Lehranstalt über elektronische Rechner irgendwelcher Art und Güte verfügen.

Am computerfreudigsten sind die Gymnasien. In Nordrhein-Westfalen sollen, nach Berechnungen des Landes-Kultusministeriums, bereits jetzt 85 Prozent aller Schulen dieses Typs mindestens Zugang zu einem Rechner haben. Ziel sei es, daß für je höchstens drei Schüler ein Terminal zur Verfügung steht.

Noch erheblich quicker bei der Anschaffung von Schulrechnern als sein Düsseldorfer Kollege gibt sich der Kultusminister von Niedersachsen. 20 Millionen Mark hat er im Sommer zu diesem Zweck bereitgestellt.

Mancherorts entschieden sich auch Städte als Schulträger oder gar um die Aktualität der Bildung ihrer Sprößlinge besorgte Eltern im Alleingang für den Kauf den Schulen günstig offerierter Hardware.

Nicht selten stellte sich erst anschließend heraus, daß der schönste Computer nichts taugt, wenn es an kindgerechten Programmen, an der Software, mangelt. Und wenn es an Lehrern fehlt, die sich damit auskennen. Der nackte Rechner allein verliert für die meisten rasch den Reiz des Neuen. In der schuleigenen Gerätekammer verstaubt er dann bald Seit an Seit mit dem Bandwurm in Spiritus und der Wandkarte über die geologische Beschaffenheit der Anden.

„Die Innovationen von heute sind die Fossilien von morgen“, teilte der Bremer Didaktik-Professor Hans Brügelmann den Lesern der Süddeutschen Zeitung mit. Noch immer, da besteht kein Zweifel, entwickelt sich die Informationstechnik in rasantem Tempo. Wer eine sichere Wette gewinnen will, sollte darauf setzen, daß heute teuer beschaffte Geräte schneller veralten, als der gebeutelte Schuletat sich von diesem finanziellen Kraftakt wieder erholt.

Nordrhein-Westfalens Kultuminister Hans Schwier legt in seinem Rahmenkonzept denn auch mehr Wert auf die Entwicklung von schüler- und lehrerfreundlichen Aneignungsmethoden der neuen Techniken als auf die eilige Anschaffung zusätzlicher Hardware. Er nimmt – bedauernd? – zur Kenntnis, daß der Umgang mit dem Computer für viele Jugendliche längst so selbstverständlich ist wie der mit einer Mofa oder einem Walkman. Er akzeptiert diese Tatsache als eine „Herausforderung an die Schule“ und versucht, sich die Erfahrungen engagierter Lehrer, die sich eben dieser Herausforderung früher als er, aus eigenem Antrieb, gestellt haben, zunutze zu machen.

Nicht: „Ja, so schnell wie möglich!“, auch nicht: „Um des Buches willen: Nein!“ sei die beste Antwort auf die allen Kultusministern gestellte Frage „Wollt ihr Computer für Eure Schulen?“, meint der Sozialdemokrat Schwier, sondern ein entschiedenes: „Ja, aber ...“

„Reflektieren“ ist eines seiner Lieblingsverben. „Kompetent, vernünftig und verantwortungsbewußt“ sollen Nordrhein-Westfalens Schulabsolventen künftig mit den elektronischen Informationstechniken umgehen können. Dahinter mag man die alte Pädagogen-Erfahrung vermuten, wonach nichts so fasziniert wie das, was verboten ist. Im Umkehrschluß: Das geheimnisvollste Gedicht verliert seinen Liebreiz, der knalligste Comic seinen Pep, wenn sich ein Pädagoge ihrer annimmt.

Stimmt das, verlieren auch Computer und Bildschirm, aus Sicht der Skeptiker, bald an Bedrohlichkeit. Noch freilich scheint ihnen des Schülers Herz zu gehören, scheinen sie ihn blind und taub zu machen für andere wichtige Dinge wie Rechtschreibung, Geschichte und Latein.

Mit seinem „Ja, aber“ zu den „Neuen Technologien“ will Minister Schwier in Wahrheit die gute alte Allgemeinbildung retten. Die Welt von morgen verlange nicht, heißt es in seinem Rahmenkonzept, nach mehr Spezialisten. Sie benötige vor allem „besser gebildete Menschen, also Menschen, die in der Lage sind, in einer Welt, die immer mehr in Einzelinformationen zerfällt, Gesamtzusammenhänge zu erkennen, zu reflektieren, Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend praktisch zu handeln“.

Heim- und Arbeitsplatzcomputer der nächsten und übernächsten Generation, da geben alle Experten dem Minister recht, werden entschieden leichter zu bedienen sein, als die heute käuflichen Geräte. Mit elektronisch gespeicherten Daten zu hantieren wird demnach künftig so selbstverständlich, aber auch so simpel sein, wie heute der Umgang mit der Elektrizität.

Nur eine kleine Minderheit von Spezialisten wird Computer bauen und Programme schreiben, fast alle Bürger aber werden beides anzuwenden haben. Vor diesem Zukunftsbild wäre es ein entscheidender Verlust an Chancengerechtigkeit, wenn der frühzeitige Umgang mit Computern nur Kindern aus begüterten Elternhäusern möglich bliebe, wenn nur Privilegierte die doppelte Chance besäßen, qualifizierte Informatiker oder aber auch nur kundig-nüchterne Benutzer eines Terminals zu werden.

So sieht es momentan aber aus. Noch sind Computer, allen Sonderangeboten zum Trotz, ein teures Spielzeug. In Sozialbauwohnungen sind sie selten zu finden. Hans Schwier dürfte es deshalb nicht sonderlich schwerfallen, auch nostalgisch gestimmte Parteigenossen davon zu überzeugen, daß sein beherztes „Ja, aber“ voll in der Tradition sozialdemokratischer Politik steht.

Mindestens so rar wie Arbeitslosenkinder, die sich fürs Digitale handfest begeistern können, sind Mädchen, die das wollen. In Computer-Camps, an den Vorführgeräten in Kaufhäusern, in schulischen Interessengemeinschaften sind sie hoffnungslos in der Minderheit. Am ersten Bundeswettbewerb Informatik haben sich nur drei Mädchen beteiligt, aber fast 150 Jungen.

Bevor Feministinnen nun aufschreien, glaubend, ihre jungen Geschlechtsgenossinnen verlören den Kontakt zum Schalthebel der Zukunft, sollten sie einen Blick nach Dortmund werfen.

Dort, an der Universität, sitzt das Institut für Schulentwicklungsforschung. Und das hat 1050 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren nach dem Einfluß von Kabelfernsehen und Computern auf ihre Freizeit und ihren Schulalltag befragt. Zwei der Resultate: Erstens: Gute Schüler verbringen weniger Zeit vor dem Bildschirm als schlechte Schüler. Zweitens: Es sind in der Mehrzahl die schlechteren Schüler, die es zum Computer zieht. Wer viel liest, hat die besseren Noten.

  • Quelle DIE ZEIT, 29.11.1985 Nr. 49
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