Aktualisiert 26. Juli 1985 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer An der Wand über Hans Wortbergs schwerem Schreibtisch, neben der ererbten Standuhr, hängt gerahmt der Spruch: „Meine Eltern trugen das Bauernkleid seit Menschen Hafer säten,... Um ihre Stirn der ew’ge Wind, Der nahe Duft der Erde, Der Atem ihrer Pferde, Nun durch all mein Blut rinnt.“ Auf dem Schreibtisch steht ein flacher Plastikkasten, vielleicht zehn mal vierzig Zentimeter groß. Darauf: Tasten wie an einer Schreibmaschine, nur zahlreicher. Ein Kabel verbindet den Kasten mit einem Fernsehgerät. Hans Wortberg ist einer von hundert deutschen Landwirten, die „Btx Agrar“ erproben: Bildschirmtext für Bauern.
Hans Wortberg ist ein Pionier. Ein Landwirt der Zukunft, wie ihn sich diejenigen wünschen, die in der deutschen Landwirtschaft das Sagen haben. Das sind, und sie sprechen meist, als hätten sie nur eine Stimme: der Deutsche Bauernverband, der Verband der Landwirtschaftskammern, die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft, der Raiffeisenverband (alle vier zusammengeschlossen im Zentralausschuß der Deutschen Landwirtschaft) sowie der Verband der Chemischen Industrie. Dieses seit Jahrzehnten eingespielte Interessenkartell plant die neuerliche Modernisierung der Agranndustrie. Wiederum ganz nach dem Vorbild anderer Großindustrien; diesmal mit Hilfe des Computers.
Warf der Bauer früher einen Blick aus dem Fenster oder in den Hundertjährigen Kalender, wenn er wissen wollte, ob es Zeit war zu säen, zu düngen oder zu ernten, so blickt er künftig, falls die berauschende Vision des Kartells Wirklichkeit wird, auf den Bildschirm, holt sich seine Anweisungen, pardon: Anregungen, per on-line-Anschluß von der zentral-agrarischen Datenbank. Bits und Basic statt Blut und Boden.
Der Ausweg aus der Krise der Landwirtschaft scheint gefunden. Aus einer Dauerkrise, die den Bauern doppelt zwickt: Es geht ihm ökonomisch immer schlechter, und gleichzeitig muß er sich als Umweltfrevler schmähen lassen.
Ständig klagen die Interessenverbände der Bauernschaft über sinkende Einkommen ihrer Mitglieder. Deren Schuppen stehen voll von teuerstem Gerät; die Mechanisierung der Landbewirtschaftung ist auf die Spitze getrieben, niemand mehr glaubt, auf diesem Wege sei die Produktivität der deutschen Bauern weiter steigerbar.
Fast eine Million Bauern haben seit 1950 schlapp gemacht; die Zwänge der damals geforderten Modernisierung haben sie überfordert. Die – bis heute – ökonomisch überlebten, mußten Schulden machen. Weil der Betriebserlös oft langsamer wächst als Schuldsumme und Zinsniveau, schlingern viele Bauern dauernd nur so eben am Rand der Pleite entlang. Knechte und Mägde haben sie längst entlassen, und nicht wenige suchten sich selbst zusätzliche Arbeit außerhalb des angestammten Hofs. Euphemistisch nennt man sie die Nebenerwerbslandwirte. Solange es in der Industrie noch Arbeit gab, nahm auch ihre Zahl ständig zu.
Oppositionelle Landwirte, sie scharen sich um das in Pfahlbronn erscheinende „Bauernblatt“, halten den vom Agrarkartell seit dreißig Jahren propagierten Weg vom Bauerntum zur Agrarindustrie für eine Sackgasse. Der einzige Ausweg, sagen sie, sei die Umkehr. Das bedeutet: weniger Gerät, keine Chemie, keine Spezialisierung, mehr Arbeit. Die Chemie, deren Jünger für „natürliche“ Lebensmittel auch, gern höhere Preise zahlen, macht’s möglich, daß eine wachsende Minderheit von Bauern diese Umkehr für ökonomisch mögvon hält.
Das Kartell, dessen Appelle zur Mechanisierung und Rationalisierung nicht mehr so recht ziehen wollen, suchte nach neuen Argumenten und Parolen. Dank Digitalisierung, Personal-Computer (PC) und Verkabelung glaubt es, sie gefunden zu haben. Die neue Parole lautet: durch gezielten Einsatz Betriebsmittel sparen. Dünger und Gifte ließen sich computergesteuert wirksamer und sparsamer einsetzen, als wenn der Bauer nur mal eben seinen Daumen in den Wind hält.
Zumal die Daumenmethode den Landwirt bei Umweltschützern und besorgten Verbrauchern in ein ausgesprochen schlechtes Licht hat rücken lassen.
Zuviel Stickstoffdüngung führt zu Übermengen von Nitrat im Grundwasser. Herbizide, Fungizide, Pestizide zum falschen Zeitpunkt und in übertriebenen Mengen verabreicht, bleiben auf der Nahrung haften und richten ihre schädigende Wirkung außer gegen unerwünschte Kräuter, Pilze und Insekten dann womöglich auch gegen Menschen. Die mechanische Bodenbearbeitung und die massenhafte Anpflanzung bei uns an sich nicht heimischer Gewächse (wie Mais) auf dafür ungeeigneten Äckern führen zu Boaenerosionen. Der großflächigen Bewirtschaftung wichen Hecken und Feldränder, die Lebensräume vieler Kleintierarten bis hin zum Feldhasen.
Auch vom Umwelt-Pranger herunterzukommen helfe dem Bauern nur die Umkehr zu den Methoden von gestern, sagt die Opposition. Völlig falsch, sagt das Agrarkartell: Realistisch helfen könne auch hier nur der Computer. Denn, so sein Credo: Chemie sei nicht schädlich, sondern nützlich. Zu unerwünschten Nebenwirkungen könnte es nur kommen, wo sie unsachgemäß eingesetzt werde. Das jeweils richtige Mineral oder Gift auf der jeweils richtigen Fläche zum optimalen Zeitpunkt in der jeweils richtigen Dosierung einzusetzen, sei aber, freilich, eine höchst komplizierte Aufgabe. Wäre der gewöhnliche Bauer durch sie nicht überfordert, folgert das Kartell, gäbe es auch keine Umweltschäden durch Chemie im Ackerbau. Also brauche der Landwirt Hilfe. Und die soll ihm nun der große Datenbruder geben.
Das patente Programm hat auch schon einen griffigen Titel: Integrierter Pflanzenbau. Eine eigens geschaffene Agentur soll für seine rasche Verbreitung sorgen, die „Fördergemeinschaft Integrierter Pflanzenbau“. Grob skizziert, sieht die vom Kartell erwünschte Landwirtschaft von morgen gemäß den bisher verfügbaren Darstellungen seitens der „Fördergemeinschaft“ etwa so aus:
In allen Kammerbezirken werden leistungsfähige Computer und ein Netz feinfühliger Wetterbeobachtungsstationen installiert. Jeder Landwirt schafft sich einen „dialogfähigen“ Personal-Computer an. Nun registriert er sehr genau und ständig, was sich wann auf welchem Bodenschlag ereignet. Bevor er düngt oder spritzt, hackt oder eggt, fragt er den Großen Bruder, und der sagt ihm genau: Hier tust du dies, dort läßt du jenes. Der Computer, bestens informiert über die Beschaffenheit jeden einzelnen Ackerstreifens und in enger Fühlung mit dem Wettergott, sagt ihm auch, welche Sorten er pflanzt und welche besser nicht. Er wird dem Bauern auch raten, bestimmte Flächen, die zu bebauen eh mehr schadet als lohnt, unbehandelt zu lassen. Dort bilden sich dann „Öko-Zellen“, Reservate für bedrohte Tier- und Pflanzenarten.
Gemessen an dieser Idealvorstellung wirkt der gegenwärtige Btx-Feldversuch eher rührend. Hans Wortberg jedenfalls, den ebenso aufgeschlossenen wie nüchternen Bauern aus Kettwig an der Ruhr, hat „Btx Agrar“, er testet es seit Anfang 1984, bisher wenig überzeugen können. „Fachzeitschriften sind aktueller“, meint er lapidar: Zeitraubendes „Blättern“ am Bildschirm fördere allzuoft nur Markt- und Wetterdaten von vorgestern zutage.
Nur in Schleswig-Holstein und Bayern können PC-gerüstete Bauern mit ihrem zentralen Datenspeicher auch schon erste Dialoge führen. Die interessanten Informationen von BALIS, ärgert sich Hans Wortberg, seien ihm, als einem Rheinländer, leider nicht zugänglich. BALIS steht für: Bayerisches Landwirtschaftliches Informations-System.
Aller Anfang wirkt niedlich. Helmut Nieder, der Geschäftsführer der „Fördergemeinschaft“, findet eine aus seiner Sicht verfrühte Publicity denn auch eher peinlich denn hilfreich. Sein Arbeitgeber, betont er eindringlich, sei erst „in Gründung befindlich“, im Herbst etwa sei mit dem offiziellen Schöpfungsakt zu rechnen. Dann werde man auch über eigene Räumlichkeiten verfügen, in Bonn wahrscheinlich.
Noch sind Adresse und Telephonanschluß der „Fördergemeinschaft“ identisch mit denen des Verbandes der Chemischen Industrie in Frankfurt am Main.
Von dort aus entfaltet Nieders eigentlich noch gar nicht existente Agentur zur Verbreitung des digitalisierten Ackerbaus in Bauernkreisen bereits eine erstaunlich lebendige Propagandatätigkeit. Sie schickt Referenten in die Lande, druckt wissenschaftliche Vorträge über Methoden und Vorzüge des Integrierten Pflanzenbaus in hohen Auflagen, sie verbreitet journalistisch aufbereitete Erfahrungsberichte angeblich bereits überzeugter Muster-Bauern. Vom Tonfall her wirken solche Geschichten manchmal wie aus einer Öko-Fibel abgeschrieben: Ein „Umdenken auf der ganzen Linie“ wird da den Bauern abgefordert, ja von einer „Umkehr“ ist auch hier die Rede.
Vorbei sind die Zeiten, da der Landwirt wenigstens von Seiten des Agrarkartells als „Naturschützer Nummer Eins“ gegen alle Anwürfe in Schutz genommen wurde. Offen ist nun von „mehreren unerfreulichen Folgen heutiger Formen der Landnutzung“ die Rede. Der Bauer, sagt Helmut Nieder, müsse „eine Menge erkennen und dazulernen“. Bisher habe er nur „eindimensional“ an Kosten, Erträge und Prämien gedacht. Künftig hingegen habe er ganzheitlich zu denken und zu ackern, Ökologie und Ökonomie miteinander integrierend.
Außer Lerneifer ist dafür Zeit vonnöten. Wer seinen Computer ständig mit aktuellen Daten füttern will, kann nicht den halben Tag in der Fabrik verbringen. Wer manche Unkräuter auch wieder weghacken soll, statt die pauschal vernichtende Giftkeule zu schwingen, muß wieder öfter auf seinen Acker hinaus.
„Der Nebenerwerbslandwirt wird sich schwertun“ mit dem Integrierten Pflanzenbau, gibt denn auch Professor Heinz Vetter, der Präsident des Verbandes der Landwirtschaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalten (VDLUFA) unumwunden zu. Profis seien gefragt und eher noch größere als wieder kleinere Höfe. Rechnergesteuerte, von dynamischen Agrarmanagern geleitete Großbetriebe hier, sich allmählich in „Öko-Zellen“ verwandelnde Kleinhöfe dort, dies könnte die Agrarstruktur der Zukunft sein.
Hans Wortberg jedenfalls ist bereit mitzumachen. Sein Hundert-Hektar-Hof, weitgehend spezialisiert auf die Bullenzucht, scheint für die bäuerliche Neuzucht bestens gerüstet. Schon hat er den Familienbetrieb überführt in eine Gesellschaft Bürgerlichen Rechts, schon hat er, mangels Personal-Computer, eine Handkartei über Maßnahmen und Veränderungen auf allen seinen Bodenschlägen angelegt. Auch daß „Btx Agrar“ aus seiner Sicht eher ein Flop ist, stört Hans Wortberg wenig. Er hat Terminal und Fernseher ja nicht gekauft. Für einmalig 1600 Mark Pacht bekam er beides als „Dauerleihgabe“ ins Wohnbüro gestellt. Wenig Geld, meint er, für einen Farbfernseher mit Stereoton.
Als wacher Geschäftsmann, der er ist, erhofft sich Hans Wortberg von der Computerisierung der Landwirtschaft vor allem eines: bessere Geschäfte durch bessere Marktübersicht, vielleicht gar Wegfall des Zwischenhandels bei Dünge-, Futtermitteln und Giften. Wenn er am Bildschirm die Preise der Anbieter am Ort mit denen in Schleswig oder Rosenheim vergleichen könnte: „Das wäre interessant.“ Doch, bei allem Optimismus, an Wunder glaubt Hans Wortberg nicht: „Das tun sie nicht“, sagt er und läßt offen, wen er mit „sie“ meint: „Das würde ja totale Markttransparenz bedeuten.“
- Quelle DIE ZEIT, 26.7.1985 Nr. 31