Revolution auf dem Capitol Hill - der neugewählte US-Präsident wird die Chance zu großen Taten haben29/10/1992
In Washington bahnt sich eine Revolution an. Gleichgültig ob der Herr im Weißen Haus der alte bleibt oder ob er demnächst Bill Clinton heißen wird: Am anderen Ende der Machtachse in Amerikas Hauptstadt, auf dem Capitol Hill, in Senat und Abgeordnetenhaus, vollzieht sich eine personelle Erneuerung, wie sie Amerika seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat. Die Wähler machen Jagd auf "alte Hasen".
Am 3. November wählen die US-Bürger nicht nur einen neuen Präsidenten. Auch eine Reihe von Senatorensesseln und und außergewöhnlich viele Abgeordentenmandate sind neu zu besetzen. Senatoren sind sechs Jahre im Amt, Abgeordnete müssen sich alle zwei Jahre zur Wiederwahl stellen.
Wiederwahl war bisher die Regel. Bei Bewährung im Kongreß folgt häufig nach einigen Jahren der Aufstieg in den Senat. Die Amerikaner haben sich daran gewöhnt, auf dem Capitol Hill seit Jahrzehnten die gleichen Gesichter zu sehen. Viele haben davon nun die Nase voll.
1949 kamen auf einen Schlag 134 hoffnungsvolle und tatendurstige Nachwuchspolitiker nach Washington. Diesmal wird die alte Rekordzahl überboten werden. Was außerdem sicher scheint: Der neue Kongreß wird erheblich mehr schwarze Mitglieder sehen und solche hispanischer Abstammung. Und vor allem: mehr Frauen.
Eine Reihe altgedienter Parlamentarier hat sich aus freien Stücken in den Ruhestand zurückgezogen - darunter solche wie der Senator Warren D. Rudman. Er ist vom politischen Aufderstelletreten in Washington tief enttäuscht - was ihn mit der Mehrzahl der Wähler verbindet. Seit Jahren blockieren republikanische Regierung und von Demokraten kontrolliertes Kapitol sich gegenseitig.
Andere wurden zurückgezogen. Viele Amtsinhaber, aus beiden Parteien, mußten sich schon in den Vorwahlen geschlagen geben; wie der Republikaner Guy Vander Jagd, Abgeordneter seit 1966. Vander Jagd schimpfte anschließend auf die "blinde, irrationale, unvernünftige, gehässige" Haltung der Wähler gegenüber politischen Insidern.
Besonders erregt hat das Wahlvolk zuletzt der Skandal um die hauseigene Bank des Kapitols. Dort konnten sich Parlamentarier in unbegrenzter Höhe zinsfreie Überziehungskredite besorgen. Als das bekannt wurde, brach im rezessionsgebeutelten Land ein Sturm der Empörung los.
Manch ein Amtsinhaber, der mit Mühe die Vorwahlen in der eigenen Partei überstanden hat, muß jetzt trotzdem bangen. Die verbreitete Anti-Washington-Stimmung im Lande begünstigt Newcomer. In Pennsylvania könnte eine noch vor Monaten völlig unbekannte Hausfrau einen der unbestritten tüchtigsten republikanischen Senatoren schlagen, Arlen Specter. ähnlich könnte es Newt Gingrich in Texas ergehen.
In Kalifonien spricht für den Aufstieg der demokratischen Abgeordneten Barbara Boxer in den Senat, daß sie eine Frau ist. Frauen gelten schon per Geschlecht in den Augen vieler Wähler als Außenseiter. Dagegen spricht, daß sie Kapitol-Schecks ausgeschrieben hat, ihr Gegenkandidat Bruce Herrschensohn aber ein ungewöhnlich genügsam lebender Publizist ist, der bisher mit Washington nichts am Hut hatte.
Ebenfalls in Kalifornien versucht ein junger Republikaner namens Tom Huening nicht nur erstmals Abgeordneter zu werden, sondern schon vorher sicherzustellen, daß die "Neuen" im Parlament ihre Zahlenstärke auch in Einfluß umsetzen können. Traditionell gilt auf dem Capitol Hill das Prinzip der Seniorität. Je länger man dabei ist, umso mehr hat man zu sagen. Wobei "Man" auch "Mann" gechrieben werden könnte. Im hundertköpfigen Senat sitzen bisher nur drei Frauen. Nach dem 3. November werden es, je nach Ausgang der Wahlen, fünf bis acht sein.
Tom Huening will das Senioritäts-Prinzip abschaffen. Er plant eine "Revolte der Neulinge". Gleich nach der Wahl will er alle neuen Abgeordneten beider Parteien in Omaha sammeln, um von dort aus in einem Frontalangriff die Reste der alten Garde auf dem Kapitol zu überrollen.
George Bush und Bill Clinton haben ähnliches vor. Bush hat angekündigt, im Falle seiner Wiederwahl sofort alle Neuen auf dem Kapitol einer intensiven Seelenmassage zu unterziehen. Um mit ihrer Hilfe sein Wahlprogramm umzusetzen. Bill Clinton will seine wichtigsten Reformvorhaben in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit durchpeitschen.
Alle Experten sind einig: Der neugewählte Präsident wird eine historische Chance haben, auf dem Kapitol Bündnispartner für gründliche Renovierungen etwa des Gesundheits- und Wohlfahrtssystems zu finden; oder für einen wirklich drastischen Abbau der Staatsverschuldung. Aber er muß sich beeilen. Eine zynische Volksweisheit will wissen: Politiker gehen nach Washington, um Gutes zu tun. Sind sie dann dort, lassen sie es sich gutgehen.
Ist Bill Clinton ein sowjetischer Agent? Was hat er in Moskau gemacht, zu Weihnachten 1969? Und kann jemand, über dem solche Fragen schweben, Präsident der Vereinigten Staaten werden? Die Republikaner des amtierenden Präsidenten George Bush hoffen, daß nicht.
Eine handvoll republikanischer Kongreßabgeordneter um den stockkonservativen Robert K. Dornan hat das Thema ausgegraben. Tagelang hat Dornan in den Fluren des Kapitols gegen Clinton gewettert, bis endlich einige Zeitungen das Thema aufnahmen. Würde Clinton, so wie die Umfragen es beständig signalisieren, im November tatsächlich zum Präsidenten gewählt, drohe den USA Schlimmes, hat Dornan drohend gewarnt.
Die Sowjetunion existiert nicht mehr, der sowjetische Geheimdienst KGB macht niemandem mehr Angst. Aber vielleicht, so legt Dornan nahe, feiert er dann einen letzten Triumph: Wenn ein sowjetischer Einflußagent einzieht in das Weiße Haus.
Der Hintergrund: 1969 hat Clinton, damals Stipendiat im britischen Oxford, einen Vierzig-Tage-Trip durch Europa gemacht; durch Norddeutschland über Finnland nach Moskau und Prag; allein und auf eigene Kosten, wie Clintons Pressesprecherin Dee Dee Myers versichert.
Wirklich? Dornan und Co. nähren die Zweifel. Niemand, so sagen sie, habe damals allein und auf eigene Faust nach Moskau reisen können. Begabte, hoffnungsvolle amerikanische Studenten, wie Clinton einer war, seien zudem die bevorzugte Zielscheibe sowjetischer Propagandaaktivitäten gewesen. Und warum sollte Clinton die Hilfe der Kommunisten ausgeschlagen haben?
Schließlich lag damals der Vietnam-Krieg in seinen letzten Zügen. Clinton war ein Gegner des Krieges - wie die Sowjets. Clinton beteiligte sich an Demonstrationen. Das bestreitet er nicht. Manche Quellen behaupten, er habe sie an führender Stelle mitorganisiert. Um dann rasch eine Verbindung zwischen Clinton und dem World Peace Council nahezulegen, einer Organisation mit Ablegern in vielen westlichen Ländern. Dieses Council war einem US-Senatsbericht von 1980 zufolge eine Kreatur des KGB. Die Organisation soll mit rund 50 Mio Dollar aus Moskau gefüttert worden sein.
Dee Dee Myers versichert, Clinton habe in Moskau nur die üblichen touristischen Objekte besucht. Dornan mag das nicht glauben. Er verweist auf Gerüchte, wonach Clinton, um dem Wehrdienst in Vietnam zu entgehen, mit dem Gedanken gespielt haben soll, die Staatsbürgerschaft zu wechseln. Dummes Zeug, sagt Clintons Sprecherin.
Wie durch Zufall wurde gleichzeitig ruchbar, daß in Clintons Akten im Washingtoner Außenministerium, wo alle Unterlagen über Visa- und Ausbürgerungsanträge ruhen, einige Seiten fehlen. Das Magazin Newsweek berichtet in seiner neuesten Ausgabe, das FBI gehe dem nach.
Die Clinton-Leute bestreiten, damit das Geringste zu tun zu haben. Sie lenken den Verdacht in eine andere Richtung. Wer habe Zugang zu diesen Akten, fragen sie. Am ehesten doch wohl die Republikaner, die seit zwölf Jahren die Regierung stellen. Wollten sie eine falsche Spur legen?
Fest steht, daß Bush derzeit seine letzten Hoffnungen, das Weiße Haus doch noch zu halten, darauf setzen muß, daß an Clinton endlich Dreck hängenbleibt. Bisher sind alle Vorwürfe - der Ehebrecherei, der Drückebergerei, der Marihuanaraucherei - von ihm abgeperlt. Ein Bush-Mitarbeiter hat Clinton schon mit einem Unterton der Verzweifelung den "Teflon-Kandidaten" genannt. Eine Erinnerung an Ronald Reagan, den "Teflon-Präsidenten".
In einer Rede vor Italo-Amerikanern, in Gegenwart von Sophia Loren und Barbara Bush, hat Bill Clinton dem Ehepaar Bush bereits für deren "Jahre im Dienst der Vereinigten Staaten" gedankt. Ganz als wäre die Wahl bereits gelaufen. Zu seiner Reise nach Moskau hat er geschwiegen.
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