Uwe Knüpfer
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Die Saat ist aufgegangen - Anschläge in Oslo und Utoya

25/7/2011

 
Ist Anders Breivik ein Verrückter? Natürlich, denn wer bei Trost ist, legt keine Bomben und macht nicht "Jagd auf Marxisten". Aber der Attentäter von Oslo und Utoya lebt offenbar in einer Gedankenwelt, in der er mitnichten allein ist.

 

Breiviks 1500 Seiten dickes "Manifest" ist weitgehend ein Plagiat. Das legen die bisher vorliegenden Übersetzungen nahe. Der Mörder von Oslo und Utoya hat fleißig bei Rechtspopulisten abgeschrieben. Das sind Menschen, die ein politisches Geschäft daraus machen, fremdenfeindliche Ängste zu befeuern, rassistische Vorurteile zu bedienen und den Islam als  Schreckgespenst zu diffamieren.

 Diese Leute verkleiden sich nicht als Ballermänner aus Internet-Spielen. Sie tragen dunkle Anzüge und kandidieren bei Wahlen. Und sie feierten zuletzt erschreckende Erfolge. In Dänemark, in Ungarn, in Österreich, in Finnland und sogar in den liberalen Niederlanden. In Norwegen kamen sie auf gut 20 Prozent.

Diese Leute werden den Vorwurf, sie hätten den blonden, blauäugigen Breivik zu seinen Verbrechen angestiftet, empört zurückweisen. Sie haben jetzt jedes Interesse daran, den Attentäter als verrückten Außenseiter darzustellen. Denn sie wollen Stimmung machen und Stimmen gewinnen, aber Verantwortung wollen sie nicht übernehmen, wenn die Saat des Hasses, den sie säen, aufgegangen ist.

Aber genau so ist es. Breivik mag geistig beschränkt und verwirrt sein, aber er hatte Grund zu der Annahme, er sei nicht allein. Er sieht sich ganz offenkundig als Teil einer internationalen Bewegung, als "Kreuzritter" im Kampf gegen den "Multikulturalismus". Er hat sich seine Ziele offenbar ganz bewusst ausgesucht. Er wollte Sozialdemokraten töten und Menschen, die ihm nicht norwegisch oder blond genug aussehen.

Sozialdemokraten stehen, in Norwegen wie in Deutschland, für eine offene Gesellschaft. Für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die Chance hat, aus seine Fähigkeiten das beste zu machen. Ganz gleich, woher er kommt, wie er aussieht, welchen Geschlechts er ist und was er glaubt.

Rechtspopulisten wollen das Gegenteil. Sie grenzen aus und teilen zu. Sozialdemokraten wecken Hoffnung, Rechtspopulisten schüren Angst.

Auf der Insel Utoya versammeln sich im Sommer junge norwegische Sozialdemokraten und ihre Gäste. Friedlich und frei. Wer es darauf anlegt, die norwegische Sozialdemokratie ins Herz zu treffen, für den ist das Sommerlager auf Utoya ein logisches Ziel. Anders Breivik wusste, was er tat. Und die so reden, wie er handelte, wissen es auch. Die Unschuldsmiene, die sie jetzt aufsetzen werden, ist eine Maske.

Was Breivik nicht wusste und vermutlich nicht begreifen wird: er hat zwar viele Menschen getötet und gewaltiges Leid über Familien und Freunde der Ermordeten gebracht, aber das Herz, das er treffen wollte, wird weiter schlagen. Menschen kann man erschießen, Ideen nicht. Liebe ist stärker als Hass.

vorwärts.de 25.07.2011

Viktor Seroneit ist tot

24/7/2011

 
Pils, Kölsch und Altbier zusammenzuschütten, das muss man sich erst mal trauen. Bei seinem 200. Stammtisch im Juni im PlakatKunstHof in Essen-Rüttenscheid hat Viktor Seroneit spaßeshalber „PiAKö“ serviert, Nordrhein-Westfalen und seiner NRW-Ministerpräsidentin zu Ehren. Es ist Viktors letzter Stammtisch gewesen. Essen und die Ruhrstadt haben eine einzigartige Persönlichkeit verloren.

 

Wenn es jemandem gelang, PiAKö als fast trinkbar zu verkaufen, dann Viktor. Er war, was man heute einen begnadeten Netzwerker nennt. Er brachte zusammen, was zusammengehört – und manchmal auch, was oder wer eigentlich nichts miteinander zu tun haben will.

Es wird wahrlich nicht wenig geredet und „getalkt“ im Ruhrgebiet. Mit Vorliebe aneinander vorbei oder übereinander her. Die Stammtisch-Zusammenkünfte in Viktors Rüttenscheider Hinterhof sind anders gewesen. Allein schon wegen der Enge konnten sich hier Künstler und Banker, Kreative und Verwalter, Schreiber und Beschriebene nicht aus dem Weg gehen. Sie rieben sich Schulter an Schulter, bei Stauder, Wein und „Ruhrgebiets-Tapas“ - Currywurst und Frikadellen. Und dann spielte noch „Ruhrschnellweg“ dazu, Viktors sehr eigene Band.

Mit Songs wie „Nur gemeinsam“ oder „Anne Bude“ trat Viktor Seroneit gegen den WDR und dessen sture Fixierung auf kölsches Musikbrauchtum an. Unermüdlich versuchte er den Sender und die Ruhris davon zu überzeugen, dass man auch an Ruhr und Emscher schunkeln kann.

Viktor Seroneit ist ein früher und echter Ruhrstädter gewesen. Heimisch geworden in Rüttenscheid, dessen Wochenmarkt er musikalisch verewigt hat. Fest verwurzelt in Essen. So fest, dass Frank Stenglein ihn in der WAZ zur „Institution in der Stadtgesellschaft“ erhob. Und gleichzeitig ein geduldiger Kämpfer für die Einheit des Reviers. Wer Viktor Seroneit begegnete, hatte anschließend eine Münze mehr in der Tasche: den Ruhr-Sterntaler mit der Zahl 53.

Lange vor dem Kulturhauptstadtjahr 2010 hat Viktor eine Sternfahrt aller Ruhr-Städte organisiert und versucht, den 53 Oberbürgermeistern, Landräten und Bürgermeistern den Refrain seines Liedes nahezubringen: „Nur gemeinsam sind wir stark…“

Dabei ist Viktor eigentlich ein Weltbürger gewesen, wie jeder echte Ruhrstädter. New York war ihm so wenig fremd wie Moskau. Südfrankreich hat er besonders geliebt. Der Wein, den er so freigebig ausschenkte, brachte er von dorther mit.

Viktor verdiente sein Geld als Ingenieur, aber sein großes Herz schlug für viele und für vieles. Das Deutsche Plakatmuseum wäre heute nicht im Museum Folkwang daheim ohne ihn. Jährlich hat er den Internationalen Grafik-Design-Preis verliehen – und den Jazz-Pott, einen Preis für junge, kreative Musiker, die dafür gerne auch von weither nach Essen gekommen sind.

Den Verein „Kinder sind der Rhythmus dieser Welt“ gäbe es nicht ohne Viktor Seroneit. Eine Plakatausstellung zu Kinderrechten hat es bis nach Berlin und zu den Vereinten Nationen geschafft.

Viktor hatte viele Helfer, allen voran Ingrid, seine Frau. Aber er fand fremde Helfer - und Sponsoren - nur, weil er von bezwingender Freundlichkeit war. Auch, weil er großartig kochte. Und weil er stets selbst voranging, vieles aus eigener Tasche bezahlte.

Er ließ nie nach, „unser Viktor“, wie Essens OB Reinhard Paß ihn betitelt hat, beim 200. Stammtisch im PlakatKunstHof. Diesmal war auch Hannelore Kraft dabei und damit erstmals ein Regierungschef des Landes Nordrhein-Westfalen. Viktor hatte eigens nicht nur PiAKö zusammengeschüttet, sondern auch eine NRW-Hymne komponiert und gedichtet: „Mein Herz schlägt wie dein Herz.“ Die Power-Kids der Zollverein-Schule haben gesungen, die Ministerpräsidentin hat sichtbar mitgesummt. Zwar nicht der WDR, aber, immerhin, Center tv, hat’s aufgezeichnet und verbreitet.

Am Samstagfrüh ist Viktor Seroneit nach einer wie immer bewegten Woche während einer Radtour überraschend gestorben. Er war 64 Jahre alt.
ruhrbarone.de 24.07.2011

Im Zweifel für die Freiheit? - Über Liberalismus und Sozialdemokratie

7/7/2011

 
Jorgo Chatzimarkakis ist ein Sozialdemokrat. Er weiß es nur nicht. Immerhin hat er seine Idee davon, wie sich die FDP wieder in eine Partei verwandeln könnte, die dem ursprünglichen Auftrag des politischen Liberalismus gerecht würde, in einer sozialdemokratischen Zeitschrift vorgestellt! Im Schutze eines Appells allerdings, den Ralf Dahrendorf 1960 an die SPD gerichtet hat: sie möge zu einer modernen liberalen Partei werden. Und im Schutze der Aufforderung, die SPD möge sich erinnern, „dass die einzige funktionierende Wirtschaftsform die soziale Marktwirtschaft ist“.

 

Als wäre es nötig, die SPD daran zu erinnern! Hat sie etwa die Einführung staatlicher Fünfjahrespläne in ihr Hamburger Programm geschrieben? Hat sie, was durchaus naheläge, die Vergesellschaftung des Bankenwesens gefordert? Haben die Banken doch, deren  Geschäft es sein sollte, Werte zu bewahren und zu mehren und durch einen geregelten Geldfluss Anderen Geschäfte zu ermöglichen, mit ihnen anvertrautem Vermögen spekuliert, Gewinne zu Boni gemacht und Verluste sozialisieren lassen. Wem an einer sozialen Marktwirtschaft gelegen ist, muss sich angesichts solch massiven Systemversagens fragen, ob der Geldmarkt nicht neue Regeln, neue Aufseher und eventuell auch neue Akteure braucht.

 

Ähnlichen privatwirtschaftlichen Exzessen von Gier, Egoismus und Anstandslosigkeit, wie sie sich in ungeregelten Märkten nun einmal ausbreiten wie Kolibakterien in einem geschwächten Darm, sahen sich auch die frühen Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert gegenüber. Forderungen nach Vergesellschaftung von Industrien, die Sehnsucht nach einem Staat, der mit starker, ordnender Hand in einen Markt eingreift, in dem sonst nur ein Gesetz gälte, nämlich das des Stärkeren, fanden ihren Weg in die ersten Programme der Sozialdemokratie nicht, weil Sozialdemokraten von einer durchbürokratisierten Welt träumten, sondern ganz im Gegenteil, weil es ihnen um Freiheit ging. Um Freiheit von Ausbeutung, Willkür, Tyrannei, wie sie in frühkapitalistischen Betrieben weniger die Ausnahme als die Regel waren.

 

„Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ stand auf den Fahnen der ersten Sozialdemokraten. Im Gothaer Programm wurde daraus „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“. In dieser Reihenfolge. Käme heute jemand auf die Idee, ein SPD-Parteiprogramm ähnlich knapp und allgemein verständlich zu formulieren wie das ehedem üblich war, oder es gar auf drei zentrale Begriffe zu kondensieren, wären es immer noch dieselben: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

 

Es ist kein Zufall, dass diese drei Begriffe an den Kampfruf der Französischen Revolution nach „Liberté, Egalité, Fraternité“ erinnern. Die Französische Revolution ist in die Geschichtsbücher eingegangen als bürgerliche Revolution. Das müsste heutigen Kathederliberalen zu denken geben. Die Forderung nach Egalité ist ein bürgerlicher Kampfruf gewesen? Natürlich, denn denen, die das Ancien Régime beseitigen wollten, ging es um die Durchsetzung der Idee der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte. Sie waren Schüler und Handlanger der Aufklärung. Ihnen waren auch der König Bürger: Bürger Capet.

 

Aufgeklärte Christen würden an dieser Stelle in einer Fußnote darauf hinweisen, dass vor dem Einen Gott alle Menschen gleich sind. Die Aufklärung sei also der Versuch, christlich zu denken und zu handeln, ohne dafür Gott in Anspruch zu nehmen. Die bürgerlichen Revolutionäre hatten Probleme, sich diese Sichtweise zu eigen zu machen. Sie sahen, dass die Idee von der Allgemeinheit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte nicht zu vereinbaren war mit einem Gesellschaftssystem, das Menschen nach Geburt, Kleidung, Stand sortierte. Da die Kirche zu den zentralen Stützen dieses Systems zählte, hatte sie genauso zu weichen wie Monarchen, Adel und Standesorganisationen.

 

Damals waren Liberale Revolutionäre. Oder andersherum: die Anti-Monarchisten und Anti-Klerikalen hätten kein Problem damit gehabt, wenn man sie als Liberale bezeichnet hätte. In der FDP freilich fänden sie sich nicht zurecht.

 

Die bürgerlichen liberalen Revolutionäre des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wussten, dass Freiheit nur im Gleichklang mit Gerechtigkeit – mit organisierter und staatlich durchgesetzter Gleichheit – zu bekommen war. Die Feinde der Freiheit sind selten die Ohnmächtigen, die Feinde der Freiheit sind immer die Allzumächtigen. Sie neigen dazu, sich Freiheiten auf Kosten anderer, Schwächerer zu nehmen. Man kann ihnen das nicht einmal persönlich übel nehmen. Erstens ist auch ein solches Verhalten menschlich und "naturgemäß", zweitens würden sie unter Ihresgleichen verlacht, würden sie sich anders verhalten.

 

Zur Zeit der Französischen Revolution waren die Mächtigen und Allzumächtigen Feudalherren und Kirchenfürsten. Erst im Keim erkennbar war, dass eine neue Gruppe gesellschaftlich Übermächtiger im Begriff war heranzuwachsen: Industrielle, Unternehmer und ihre bezahlten Handlanger. Menschen, die über große Mengen Kapitals geboten und so zugleich über die Schicksale anderer Menschen.

 

Für den Ausgebeuteten, Geknechteten, Rechtlosen macht es keinen Unterschied, ob der, der ihn knechtet, einen Talar, eine Krone trägt oder einen schlichten Überrock (aus feinem Garn).

 

Das ist den liberalen Revolutionären bald deutlich geworden. Die frühen Sozialdemokraten verstanden sich denn auch in aller Regel als Liberale. Nicht wenige traten liberalen Parteien bei. Das lag nahe. Wenn jeder ein Bürger und jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist, gilt das doch auch für Arbeiter, für Mägde und Knechte, für Sklaven. Die frühen Sozialdemokraten dachten gar nicht daran, eine Partei zu gründen. Sie verstanden sich als Angehörige einer Emanzipationsbewegung. Sie wollten Proletarier zu Bürgern machen. Zu „citoyens“ im Sinne der Aufklärung und der Französischen Revolution.

 

Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden Industrialisierung bekam das Wort Bürger einen neuen, einen schlechteren Klang. Die Franzosen hatten es leichter. Sie unterscheiden zwischen citoyen und bourgeois. Im Deutschen muss der Begriff Bürger für beides herhalten. Vielleicht liegt hier die Ursache für Jorgo Chatzimarkakis´ Konfusion.

 

Der politische Liberalismus, um es kurz zu machen, verriet angesichts reich gefüllter Brotkörbe seine Ideale. Er tat es ziemlich bald und gründlich. Nur gelegentlich, nach schlechten Träumen oder wenn liberale Bußprediger wie Ralf Dahrendorf oder Werner Mayhofer die Parteitagsbühne betreten, erinnert er sich dunkel und beschwört die Erinnerung an eine Zeit, in der der Liberalismus „ganzheitlich“ gewesen ist, „weder marktvergessen noch marktversessen“ (Claus Dierksmeier).

 

Dafür kann es auf Parteitagen, vor allem in Krisenzeiten, also wenn Wähler weglaufen und die Führung kopflos ist, rauschenden Applaus geben. Ernstgemeint ist er natürlich nicht -. Wie man leicht daran erkennen kann, wie die FPD mit ihren Freiburger Thesen, mit Werner Mayhofer und anderen umgegangen ist. Und wie sie mit Jorgo Chatzimarkakis umgehen wird, wenn er ernst meint, was er in der Berliner Republik geschrieben hat. Eine FDP, die nicht weiß, ob sie rötlich ergrünen oder besser bräunlich werden soll. Weil sie keine Wertefundamente mehr hat, seit langem nicht, keine ethischen Leitplanken, die ihr in windigen Zeiten Halt geben könnten.

 

Die FDP ist eben nicht die Lordsiegelbewahrerin der bürgerlichen Revolution, sie ist vielmehr die direkte Nachfahrin jenes deutschen politischen Liberalismus, der sich im 19. Jahrhundert mit dem preußischen Adel im Interesse der Schaffung einer neuen Gesellschaft zusammentat, in der Besitzbürger an der Tafel des Königs Platz nehmen durften. Kaiser Wilhelm hat sich in der Krupp´schen Villa Hügel immer wohl gefühlt. Der neue, „bürgerliche“ – bourgeoise – Adel ahmte den alten nicht nur in Lebensführung und Baugewohnheiten nach, sondern auch in dessen Verachtung für die da unten.

 

In diesem historischen Moment verwandelte sich der politische Liberalismus von einer Agentur zur Durchsetzung der universalen Geltung der Menschenrechte - universal heißt: sie gelten auch innerhalb von Fabrikmauern – zu einer Klientelpartei. Als die Anwälte der Emanzipation des Proletariats das erkannten, begannen sie, sich von den liberalen Parteien abzuwenden und eigene zu gründen. Daraus entstand die Sozialdemokratie. Seither ist sie die einzige Partei, die ihrem Wesen und Selbstverständnis nach keine Klientelpartei ist, sein kann und darf.

 

Auf der Titelseite der Null-Nummer des ersten „Vorwärts“, erschienen 1876: "...unser Kampf (gilt) nicht den Sonderinteressen einzelner Personen oder einzelner Klassen, sondern der Erlösung der Menschheit..."

 

Nicht die Anwälte der Emanzipation auch des Proletariats wandten sich von den Ideen des Liberalismus ab – denen blieben sie treu, wie ihr Kampfruf „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ weithin und lautstark deutlich machte –, ihre Ideen verraten hatten die, die sich weiterhin „Liberale“ nannten. Sie vertraten fortan die Interessen ihrer Klientel, des Besitzbürgertums, zunächst gegen den immer noch tonangebenden Adel, heute gegenüber einem demokratischen Staat, der den Anspruch erhebt, neutraler Sachwalter der Interessen Aller zu sein.

 

Privilegien, das erkennt jeder Privilegierte rasch, sind umso wertvoller, je geringer die Zahl der Mitprivilegierten ist. Wer Privilegien wahren will, zum Beispiel das Privileg, seine Kinder auf eine bessere Schule zu schicken als Migrantenfamilien und Hartz IV-Empfänger, tut sich schwer damit, Anhänger einer emanzipatorischen Bewegung zu sein. Das quält diejenigen in der FDP, die gerne besser wären, als ihre Partei es ihnen zu sein erlaubt.

 

Ja, wenn die FDP wäre, wie Jorgo Chatzimarkakis sie sich erträumt, wenn es ihr wirklich darum ginge, im Sinne Dahrendorfs „den Menschen Türen zu öffnen“, allen Menschen wohlgemerkt, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Armut, ihrer Beziehungen und der PS-Zahl ihres Autos, dann könnte sie ein ernsthafter Partner sein, wenn es darum geht, das erneute Auseinanderfallen der Gesellschaft in Superreiche und deshalb Privilegierte auf der einen Seite, zum gesellschaftlichen Ab- oder Nichtaufstieg Verurteilte auf der anderen Seite zu verhindern. Dann könnte sie, wenn es wieder in Mode käme, Fahnen zu schwenken, „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ darauf schreiben. Oder gar „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Aber dann wäre sie ja eine sozialdemokratische Partei.

Die Berliner Republik, Juli 2011


"Ich habe nichts Vergleichbares gesehen"

4/7/2011

 
Das Willy-Brandt-Zentrum Jerusalem: Ein einzigartiger Ort in einem einzigartigen Land. Hier gelingt, was sonst unmöglich scheint: Israelis und Palästinenser reden miteinander, streiten - und manchmal singen sie auch. Die deutschen Jusos und Falken vermitteln. 

Eine umrankte Terrasse mit Blick auf die Altstadt. Vom Grill her duftet es nach Köfte und Hühnchen. Junge Menschen diskutieren angeregt über Politik, trinken Bier, lachen. Nichts an diesem Bild ist normal, geschweige denn selbstverständlich.

Denn die Stadt ist Jerusalem. Eine geteilte Stadt, voller Hass, Angst und Vorurteilen. Am Grill steht Margaret Kirreh. Die jungen Leute sind teils Palästinenser, teils Israelis, teils Deutsche; teils Christen, teils Moslems, teils Juden. Die Israelis waren beim Militär, die Palästinenser haben in der 2. Intifada gekämpft, gegen Israelis. Das Taybeh Bier kommt aus Ramallah im palästinensischen, von Israelis ummauerten Westjordanland.

Im Ortsteil Silwan, wo Ahmad mit seiner Familie wohnt, glauben israelische Archäologen die Fundamente eines Hauses gefunden zu haben, in dem zu biblischen Zeiten David gewohnt  haben soll. Der mit der Steinschleuder. Jetzt erhebt  sich in Ahmads Nachbarschaft ein prächtiger Museumspark, "City of David" genannt - wo zuvor Wohnhäuser standen, die Palästinensern gehörten.

Ost-Jerusalem ist palästinensisch. Aber die Palästinenser haben nichts zu sagen. Die israelische Stadtverwaltung ist für die ganze Stadt zuständig. Den palästinensischen Teil lässt sie verrotten, klagen Palästinenser - und das bestätigt der Augenschein. Die Palästinenser boykottieren die Stadtratswahlen und verweigerten jede Zusammenarbeit, geben Israelis zurück; sie dürften sich also nicht wundern, wenn ihre Interessen nicht vertreten werden.

Das Haus an der Ein Rogel Street mit der Nummer 22 steht auf der „Grünen Linie". Diese Linie, irgendwann grob mit einem Filzstift auf einer Karte gezogen, trennt Israels Staatsgebiet von Palästinenserland, Westjerusalem von Ostjerusalem. „Bis zur Hausnummer 16 fahren israelische Taxis, weiter trauen sie sich oft nicht," hat Britta Lenz immer wieder beobachtet.

Am sonst unauffälligen Haus mit der Nummer 22 klebt ein Juso-Aufkleber - die Faust mit der Rose. Britta Lenz arbeitet hier, zusammen mit Raana Gräsle und Cheb Kammerer, als – solche Wörter denken sich Deutsche aus – „Friedensfachkräfte“. Sie versuchen, im Auftrag des Fördervereins Willy-Brandt-Zentrum e.V. und letztlich der Jungsozialisten,  zusammenzubringen, was nicht zusammen kommen soll.

Nichts an der Grünen Linie ist grün. Oft ist die Grenze allenfalls spürbar. Anderswo zieht sich eine martialische Betonmauer durchs Land und durch Städte, trennt Straßenseiten, Häuser und Gärten, ist nur an Check Points zu passieren. Das kann – für Ausländer und Israelis – ganz schnell gehen. Oder es kann Stunden dauern oder gar nicht möglich sein. Es kommt auf den Pass an, auf die Nachrichtenlage und auch aufs Nummernschild des Autos.

Israel-Palästina ist ein Land voller Widersprüche. Nichts ist eindeutig. Die Mauer und eine tiefe mentale Schlucht, gegraben von Vorurteilen, Ängsten, Enttäuschungen und Provokationen, trennen Menschen, die für den Außenstehenden einander verblüffend ähnlich sind; im Auftritt, im Denken, beim Lachen. Es wird viel gelacht in einem Land, in dem selbst Spielplätze mit Bunkern ausgestattet sind: um Schutz vor palästinensischen Raketen zu bieten.

„Juden und Palästinenser leben nicht nebeneinander“, das ginge vielleicht, „sondern übereinander,“ ortet Michael Bröning die Quelle des nie versiegenden Hasses, der dieses kleine, von der Natur verwöhnte Land verseucht. Bröning arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in den palästinensischen Gebieten und macht dem WBZ das wohl größte Kompliment, das unter befreundeten, aber auch konkurrierenden Organisationen möglich ist: „Es gibt keinen Mangel an schönen Scheindialogen, an Orten, wo Juden und Araber zusammengebracht werden und wo es heißt: Wir lassen die Politik mal außen vor. So was lässt sich prima abrechnen.“ Doch das Willy-Brandt-Zentrum sei anders. Es sei der einzige Ort im Nahen Osten, wo es noch ernsthafte politische Gespräche zwischen beiden Seiten gibt. Zwischen Nachwuchspolitikern beider Seiten.

Wie Maya Peretz, 24, die sozusagen in der Arbeitspartei aufgewachsen ist. Maya studiert an der Hebräischen Universität Internationale Beziehungen und Deutsche Kultur. Sie ist überzeugt, dass es klare, vernünftige Grenzen geben muss zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Staat: „Wir müssen lernen, gute Nachbarn zu sein.“ Erst dann könnte die Grenze vielleicht auch wieder überflüssig werden, eines – wohl sehr – fernen Tages.

Nimala Kharoufeh, 29, hingegen hält von Grenzen gar nichts. Sie ist Mitglied des Führungssekretariats der Fatah Jugend in der Westbank. Sie stammt aus einer christlichen Familie und war die erste Frau, die an die Spitze der Studentenschaft an der (palästinensischen) Bethlehem University gewählt worden ist. Die Grenze trennt sie von ihren Eltern. Denn die haben nicht wie sie eine „Jerusalem ID“. Sie ist – „Das ist meine persönliche Meinung.“ – von den Versuchen enttäuscht, im Schatten der Mauer einen palästinensischen Staat aufzubauen. Sie wäre dafür, die Israelis „machen zu lassen“ und zu sehen, was geschieht.

Nimala ist mit dem bewaffneten Kampf gegen israelische Besatzungssoldaten groß geworden und zur Gewaltlosigkeit konvertiert. Sie wurde von der Fatah ins WBZ geschickt, um dort gegen die „Politik der Normalisierung“ anzugehen. Sie hat ihre Meinung radikal geändert. „Wir haben alles probiert: Krieg, Verhandlungen, Grenzziehungen,“ alles ohne Erfolg. Jetzt bleibe nur der gewaltfreie Widerstand. Und das Gespräch, denn: „Es ist leichter, jemanden zu töten, den wir nicht kennen.“

Das WBZ sei „auf einzigartige Weise einzigartig, unvergleichlich“, schwärmt Edan Kaushany, 36, der in einem „Stadt-Kibbuz“ in Tel Aviv lebt. Er leitet das Internationale Komitee der lernenden und arbeitenden Jugend  (Noal), den zweitgrößten Jugendverband Israels. Nach der Ermordung Yitzhak Rabins durch einen extremistischen Juden und nach der 2. Intifada seien Gespräche zwischen den verfeindeten Seiten unmöglich geworden: „Von 2004-2007 redete niemand mit niemandem.“ Erst und nur das WBZ habe das gegenseitige Anschweigen gebrochen. „Hier stellen wir uns den härtesten Fragen.“ Das WBZ kombiniere Bildungsarbeit mit dem Aufbau persönlicher Beziehungen. „Ich habe nichts Vergleichbares gesehen.“

Wir treffen Edan in einem Büro in Beit Jala, im Westjordanland, zusammen mit Ali Hlayl, 27, und Amin Neezal, 30. Das WBZ hat hier einen Seminarraum für israelisch-palästinensische Zusammentreffen angemietet, weil Westbank-Palästinenser wie Ali und Amin nicht nach Jerusalem einreisen dürfen. Ali ist Internationaler Sekretär der Independence Youth Union Palestine (IYU). Amin organisiert Seminare zum gewaltfreien Widerstand mit Kindern und Jugendlichen.

Ali ist von Beruf Informatiker, „aber mit Kindern und Jugendlichen ist mehr zu bewegen als mit Computern.“ Willy Brandts Entspannungspolitik  - "Wandel durch Annäherung" - gilt ihm als Vorbild für das, was sich zwischen Arabern und Juden ereignen müsste. „Willy Brandt ist bei uns bekannter als Karl Marx.“

Menschen wie Maya und Nimala, Edan, Amin und Ali repräsentieren nicht die Mehrheit in ihren Gesellschaften. Ganz im Gegenteil. „Auf der israelischen Seite bist Du ein Spinner, wenn Du mit Palästinensern redest,“ beschreibt Raana Gräsle die Lage mit schwäbischer Direktheit.

„In Israel kannst Du immer sagen, was Du willst – aber sie versuchen, ihre Leute zur Loyalität zu zwingen,“ ergänzt Cheb Kammerer. Das gehe so: Wer Übergriffe gegen Palästinenser kritisiert, kritisiert die Armee, wer die Armee kritisiert, gefährdet Israels Sicherheit, wer Israels Sicherheit gefährdet, ist gegen Israel.

 

Auf der anderen Seite ist der Druck nicht geringer. Nimala Kharoufeh hat oft gehört: „Lass das!“ Rede nicht mit Israelis! Rede nicht mit Mördern! Du verrätst Dein Volk! Noch dazu als junge, unverheiratete Frau. Der Fatah-Führung gehören nur Männer an. „Es war so hart,“ sagt Nimala. Lächelnd.

Ja, sie habe ein paar mal daran gedacht aufzugeben. „Es war nicht leicht.“ Aber sie sei sich eben darüber klar geworden, was der „richtige Weg“ ist. „Wir müssen die Stereotypen überwinden, wir müssen die Gewalt beenden.“ Auf beiden Seiten. „Das ist meine Überzeugung.“ Und zu Überzeugungen müsse man stehen. Die Jugendbewegungen in Tunesien und Ägypten gäben ihr viel Kraft.

Nimala will keine Mauern und Grenzen und Passkontrollen. Ihr ist – „Das ist meine persönliche Meinung!“ – auch egal, wer im Gelobten Land regiert. Sie will „nur, was ich von jedem Staat erwarte: dass er meine Würde respektiert und die Freiheit des Worts.“

Kasten:

Der Start: Enttäuschte Hoffnungen und ein "jüdisches Vermächtnis"

1994 reichten sich Yassir Arafat und Yitzhak Rabin die Hand. Frieden im Gelobten Land schien greifbar nahe. Die Jusos, geführt von Andrea Nahles, gründeten 1996 das Willy-Brandt-Zentrum, "als Ort der Begegnung und Kommunikation

zwischen jungen Menschen aus Deutschland, Israel und Palästina". Doch 2001 waren gemeinsame Seminare nicht mehr möglich. Umso wichtiger wurde das WBZ: es konnte vermitteln. 2003 wurde das Haus an der En Rogel St. gemietet, 2008 gekauft, mit Hilfe eines "jüdischen Vermächtnisses". Peter Sondermann, 1938 aus Deutschland in die USA emigriert, hatte der SPD eine große Summe Geldes vererbt, mit der Auflage, es für ein "Friedensprojekt im Sinne Willy Brandts" zu verwenden.
(vorwärts 07/2011)

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