Dass der Journalismus anders werden müsse, höre ich, seitdem ich Journalist bin, also seit einigen Jahrzehnten. Oft genug habe ich das sogar selbst nachgebrabbelt, auf irgendwelchen Podien zur „Krise des Journalismus“ oder dem „Journalismus X.0“. Unschuldig bin ich also nicht. Auch ich habe manchen Unsinn mitgemacht, vor allem in jenen frühen Lebensjahren, in denen man schon aus biologischen Gründen der Auffassung zuneigt, „jünger“ sei ein Synonym für „besser“.
Zum Beispiel habe ich daran mitgewirkt, Politik „unterhaltsamer“ darzustellen, was eine Variante der von Florian Harms zu Recht kritisierten „Featuritis“ ist.
Politik ist selten unterhaltsam. Wer dem leicht abzulenkenden Publikum Politik schmackhaft zu machen versucht, indem er das zähe, redundante, zeitfressende Geschiebe und Geschachere in und zwischen Fraktionen und Parteien als dramatischen Dreiakter inszeniert, also personalisiert, boulevardisiert und skandalisiert, oder, ebenso beliebt, als Dauerwettkampf analog zu Pferderennen oder Fußballspielen verkauft – Wer gewinnt, wer steigt ab? – , der leistet einen Beitrag zur Entfremdung zwischen Souverän und Politikbetrieb, ergo zur anderen, noch größeren Krise unserer Zeit, jener der Demokratie. Asche auf mein Haupt. Aber man kann ja lernen und Fehler jedenfalls nicht wiederholen.
Der famose Hans Leyendecker sagt, selten zuvor habe es so viel schlechten Journalismus gegeben, der „nur an der Oberfläche kratzt und das Geschäft um jeden Preis wittert“ als heute. Aber eben auch selten so viel guten. Genau. Deshalb erleben wir soeben eine Krise des Journalismus allenfalls in dem Sinn, dass sich die Ernsthaften in der Branche selber prüfen und manchmal kasteien wie nie zuvor. Es dampft und zischt und brodelt in der Ideenküche des Journalismus von morgen. Dass die edleren der dabei schließlich gewonnenen Destillate verblüffend jenen gleichen, die sich immer schon bewährt haben, kann nur Neulinge überraschen:
Meinung und Kommentar müssen unterscheidbar sein. Fakten müssen stimmen. Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Richtig zitieren. Namen korrekt wiedergeben. Nah dran sein, aber Distanz wahren. Immer an den Leser denken. Das Wichtigste zuerst. Redundanzen vermeiden. Nicht einschüchtern lassen. Und so weiter. Nicht zuletzt: Haltung bewahren! Früher hat man solche Grundregeln spätestens im Volontariat gelernt, am schnellsten und härtesten in einer Lokalredaktion, und vielleicht sogar auf Journalistenschulen.
Wie konnte es dazu kommen, dass heute an solche Regeln wieder erinnert werden muss? Die Antwort ist gar nicht kompliziert: Wir - damit fasse ich, was ungerecht und verallgemeinernd ist, ich weiß, alle zusammen, die in den letzten rund zwei Jahrzehnten in Redaktionen Leitungsfunktionen ausübten - wir also haben uns treiben lassen von Managern, die Verantwortung für Auflagenrückgänge, Reichweitenverluste, nachlassende Eigenkapitalrenditen höchst selten bei sich selbst geortet haben, aber stets bei Journalisten.
Ich schreibe bewusst: Manager. Nicht: Verleger. Denn Verleger sind Menschen, die Wege suchen, mit möglichst gutem Journalismus Geld zu verdienen. Solche Menschen gibt es auch heute noch. Aber sie sind selten geworden. Weit zahlreicher sind Manager, die Kosten reduzieren und „Synergieeffekte heben“. Nicht, weil sie zwingend schlechte Menschen sind, sondern erstens, weil sie auf ihrer Business School nichts anderes gelernt haben, sowie zweitens und vor allem, weil das ihr Auftrag ist. Liefern sie nicht, fliegen sie - allerdings, anders als Redakteure und andere Angestellte - nicht in die Freiheit der Einkommenslosigkeit, sondern oft gleich weiter in die nächste Chefetage. Um für eine Weile dort Synergien zu heben und Kosten zu minimieren.
Ich vermute, es war zu Beginn dieses Jahrhunderts, nach dem Platzen der ersten Internet-Blase („Neuer Markt“, haha) und vor der Lehmann-Pleite - der Zeitpunkt dürfte sich nicht exakt bestimmen lassen -, aber irgendwann in dieser Zeit ist die Mehrheit in der deutschen Zeitungsverlegerschaft gekippt. Anstelle von Eigentümern, die gleichzeitig oft Herausgeber waren und das Zeitungmachen „von der Pike auf“ gelernt hatten, übernahmen bezahlte Manager. In Stellung gebracht wurden sie von einer sich rasch vervielfältigenden Zahl von Erben und sonstigen, oft anonym bleibenden Verlags-Miteigentümern.
In den Gesellschafterversammlungen, dort also, wo über die Einstellung solcher Manager beraten wird, saßen nun immer häufiger Anwälte – weil viele Erben keine Lust hatten, sich mit dem Kleinklein des Geschäfts zu befassen, das ihre Apanagen generiert. Ihre Anwälte sorgen seither dafür, dass sich Manager finden - und manchmal auch Chefredakteure -, die besorgen, was die Apanagen-Bezieher erwarten: steigende, aber mindestens gleichbleibende Gewinn-Ausschüttungen. Diese Erwartung wird dann zum Maß aller Dinge.
In einem Markt, dessen Schrumpfen hingenommen wird, lassen sich Renditeerwartungen nur halten, wenn Kosten gesenkt werden. Ob mit oder ohne Argumentationshilfe eingeflogener Rechenexperten laufen die flugs entwickelten Programme auf das immer gleiche hinaus: Zusammenlegung von Redaktionen, Outsourcen redaktioneller und anderer Leistungen, Lohndrückerei, Schließungen von Betriebsteilen. Gern verbunden mit der Behauptung, all dies diene letztlich der „Qualitätssteigerung“. An dieser zynischen Lüge dürfen sich dann Gewerkschaften und Medienjournalisten abarbeiten.
Donald Trump hat die „fake news“ nicht erfunden.
Vielleicht begann der verlegerisch ausgelöste Niedergang des Journalismus mit dem Verzicht auf eigene Lokal-Fotografen. Sicher, der technische Wandel machte Dunkelkammern überflüssig, nicht aber die Präsenz der Redaktion vor Ort, dort, wo sich Vereine versammeln, Kinder Abzeichen gewinnen, Chöre singen, Initiativen protestieren. Der örtliche Fotograf war einst in seiner Gemeinde so bekannt wie der sprichwörtliche „bunte Hund“. Er verkörperte oft im Alleingang „die Zeitung“ und nahm nicht selten wertvolle Tipps und Hinweise auf.
Fotografen, die von Termin zu Termin hasten, jeweils nur ein paar Mal „Klick“ machen und oft gleich mehrere Redaktionen beliefern, stellen eines ganz sicher nicht her: eine Beziehung zwischen Leser und Redaktion. Diese Beziehung aber ist die Grundlage jedes Zeitungsgeschäfts. Je enger sie ist, je fester, desto belastbarer ist die Loyalität des Lesers gegenüber „seiner“ Zeitung, in seiner Eigenschaft als Käufer oder Abonnent. Je schwächer die Bindung wird, umso leichter fällt die Kündigung.
Übrigens tragen auch Zeitungsbotinnen und -boten nicht wenig zum Aufbau und Erhalt dieser Beziehung bei, durch Pünktlichkeit und Präsenz. Wo Botenwege „optimiert“ werden, also Boten wechseln, steigen die Kündigungszahlen. Bevor der Manager, der dieses Wege-Optimierungsprogramm umgesetzt hat, für seinen Fehler belangt werden kann, hat er Kosten gesenkt und ist, von diesen Meriten beflügelt, zur nächsten, vermutlich höher dotierten Stelle entschwebt.
Ein ebenso naheliegender Vorschlag, Kosten zu senken, sieht die Zusammenlegung von Redaktionen vor. Das ist immer eine gewagte Idee, weil funktionierende Redaktionen eine gemeinsame Identität entwickeln, eine Art Kollektivpersönlichkeit. Diese Persönlichkeit kann der Leser mögen oder auch nicht, vielleicht reibt er sich an ihr, egal: Er nimmt sie wahr und ernst. Verliert sich die Identität einer Redaktion im Ungefähren, im Ungreifbaren, verliert der Leser einen wenn auch zuvor nur imaginierten Halt. Und der verantwortliche Verlag verliert seinen Leser.
Nichts erschüttert die Beziehung zwischen Leser und Blatt so sehr wie der Abzug der Redaktion aus dem eigenen Ort. Das ist, als ziehe ein Ehepartner aus der gemeinsamen Wohnung aus. Damit hat sich die Ehe erledigt. Die Auflagenverluste nach Abzug einer Redaktion von „vor Ort“ kommen schnell und sind nachhaltig. Besonders schlaue Verlagsmanager „preisen“ sie von vornherein „ein“ – und erfreuen sich womöglich noch an den damit einhergehenden Einsparungen beim bedruckten Papier.
In Mantelredaktionen wiederum traten „Newsrooms“ an die Stelle von Ressorts. Oft ging dem ein „Benchmarking“ voraus. Beraterfirmen verglichen die „outputs“ von Redakteuren und stellten fest, dass der Jazz-Experte aus dem Feuilleton an manchen Tagen nicht eine Zeile schrieb. In diesen offenbar unproduktiven Phasen müsste der faule Kollege doch prächtig anderswo einsetzbar sein, vielleicht beim Umformulieren irgendwelcher Agenturmeldungen – jedenfalls solange diese anscheinend rein mechanische Tätigkeit noch nicht von Algorithmus-gesteuerten Computern übernommen werden kann.
Dass das Ansehen eines Mediums nicht auf output beruht, sondern auf Kompetenz, Verlässlichkeit und daraus resultierendem Vertrauen, und dass solches Vertrauen verdient und erarbeitet werden muss, etwa indem ein für Sozialpolitik zuständiger Redakteur auch dann an - schon vom Begriff her sperrigen - Jugendwohlfahrtssausschusssitzungen teilnimmt, wenn es auf den ersten Blick wenig darüber zu berichten gibt, wird auf Business-Schulen nicht gelehrt.
Wo redaktionelle Inhalte zu „Content“ abgewertet werden, spielt es keine Rolle mehr, wer welche Flüssigkeit in welche Flasche füllt. Jedenfalls stellen sich das Contentabfüllexperten so vor - die übrigens meiner Beobachtung nach selten Zeitung lesen, oder jedenfalls nicht die, für die sie erbsenzählend tätig sind. Lohnt sich ja nicht, steht „nichts“ drin, jedenfalls nichts, was nicht TV und Netz schneller liefern können.
Mehr „Service“ müsse die Zeitung bieten, raunen solche Experten auch gern. Sie meinen damit nicht die Selbstverständlichkeit, sich nützlich zu machen, durch Terminübersichten, Konzerttipps oder Wetterbericht, sondern das vermehrte Einhängen von Service-Seiten in die Zeitung. Die Produktion solcher Seiten kann im nächsten Schritt Fremdanbietern überlassen werden. Welche Arbeitsbedingungen dort herrschen und ob die Richtlinien des Presserats zur Trennung von Anzeigen und redaktionellen Inhalten beachtet werden, interessiert dann nicht mehr.
Benchmarking und Serviceorientierung werden gelegentlich mit Erkenntnissen ausgeklügelter Leserausforschung begründet. Zum Beispiel, dass kaum ein noch so treuer Leser die Zeitung von vorne bis hinten durchliest (obwohl: solche Leser gibt es auch). Ergo müssten sich doch viele Seiten, sprich Papier und Stellen, einsparen lassen.
Falsch. Jeder treue Leser hat mindestens einen ganz persönlichen Grund für seine Treue. Und meist einen ganz anderen als der treue Leser nebenan. Das kann die Vereinsnähe der Sportredaktion sein, die Jazz-Kennerschaft des Musikredakteurs, die politische Haltung der Leitartikler, die Fülle des Lokalteils, vielleicht auch nur der Comic oder der Fortsetzungsroman oder die Erinnerung an ein gemeinsames Bier mit dem Lokalchef - in jedem einzelnen Fall liegt der Beziehung zwischen Blatt und Leser eine Beziehung zwischen Menschen zugrunde: der eine tut etwas, und zwar beständig, was der andere schätzt, selbst wenn er es nicht täglich goutiert.
Die Qualität und Stärke einer Zeitung resultiert aus der Summe ihrer vielen Komponenten, bei Erkennbarkeit einer Linie.
Manch ein Abonnent einer Zeitung schmückt sich mit ihr vielleicht nur. Vielleicht legt er sie im Wartezimmer aus, trägt sie beim Brötchenkaufen unterm Arm. Damit andere erkennen: Ah, dieser Leser hat Ahnung - oder ist zumindest von hier. Auch wenn er zum Lesen selten die Zeit findet: er bleibt ein treuer Kunde.
Wer diese Beziehung schwächt oder gar kappt, sägt am Ast, auf dem die Branche sitzt. Das ist in den letzten Jahren fleißig geschehen.
Heute Verleger zu sein hieße, unter den Bedingungen des Internetzeitalters auf journalistischen Leistungen ein lukratives Geschäftsmodell zu begründen. Das sollte eigentlich nicht schwieriger sein, als im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen der Industrialisierung auf journalistischen Leistungen ein lukratives Geschäftsmodell zu begründen.
Allerdings setzte das damals und setzt das heute Pioniergeist voraus, Mut, Visionen, langen Atem – und die auf Kenntnis beruhende Wertschätzung journalistischer Arbeit.
Wer weiß, vielleicht finden sich ja solche Verleger demnächst. Dann wäre die „Krise des Journalismus“ gemeistert, einstweilen.
journalist-magazin 2. April 2019