Uwe Knüpfer
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50 Jahre Willkommenskultur: Die Otto-Benecke-Stiftung

14/3/2015

 
 Zwischen Zu- und Einwanderung, Asyl- und Flüchtlingspolitik

„Man muss das Rad nicht neu erfinden. Bei uns dreht es sich schon seit 50 Jahren“

  Eine Jugendherberge auf dem Bonner Venusberg, im Herbst 2014. Der Wind reißt von den Bäumen das erste Laub, und die Gewerkschaft der Lokführer legt das öffentliche Leben lahm. Rund dreißig junge Menschen haben trotzdem hierher gefunden, aus allen Winkeln der Bundesrepublik. Der Republik, die kein Einwanderungsland sein will - bestenfalls, wenn es denn unbedingt sein muss, ein „Zuwanderungsland“.

Die jungen Menschen tragen Namen wie Ahmad Shoaib Rahiq, Sergej Prokopkin, Rossana Kvint oder Said Essellak. Sie studieren in Orten wie Tübingen, Greifswald, Konstanz oder Hannover – oder werden es bald tun. Sie erzählen gern von ihrer Odyssee durch Staaten und Behörden, halten dabei aber gelegentlich inne. Sie wirken dann, als könnten sie es selbst kaum glauben: wie weit sie schon gekommen sind. Dass sie „angekommen“ sind. Sie erzählen Geschichten von langen Reisen, von Ängsten, Schrecken, Gefahren - und Wundern. Die Wunder haben eines gemeinsam: sie haben immer mit der Otto Benecke Stiftung zu tun.

 Ahmad Shoaib Rahiq hat in Afghanistan studiert und nebenher für ein Bauunternehmen gearbeitet, das in Diensten des US-Militärs stand. Als amerikanische Truppen sich anschickten, das Land zu verlassen, fühlten Ahmad und seine Frau sich dort nicht mehr sicher. Sie machten sich 2010 auf den Weg über die Berge in den benachbarten Iran, dann weiter in die Türkei; „durch Wasser, über Berge. Es war sehr, sehr gefährlich.“

 In der Türkei, ohne Pass und ohne Sprachkenntnisse, wurde Ahmad von der Polizei aufgegriffen und landete in einem türkischen Gefängnis. Nach sechs Wochen wurden die beiden zurück nach Afghanistan verfrachtet. Ahmad fasst das Folgende trocken zusammen: „Wir haben es dann noch einmal versucht. Und diesmal hat es geklappt.“ Es: die Flucht ins Gelobte Land. Nach Europa. Nach Deutschland.

 Während der langen Wartezeit auf eine Asylbewilligung bekamen die Rahiqs ein Kind - eine Tochter -, lernten die Otto Benecke Stiftung kennen und büffelten Deutsch. Die Kürzel der Sprach- und Integrationskurse rasselt Ahmad fließend herunter: „A1, A2, B2, C1“. Sein Ziel? Womöglich wieder studieren, auf jeden Fall arbeiten.

 „Ich war blind unterwegs in einem fremden Land. Die Otto Benecke Stiftung hat mir die Augen geöffnet.“ Sergej Prokopkin verschlug es 2002, als er 17 war, im Gefolge seiner Eltern aus Südrussland nach Plön in Schleswig-Holstein: als „Spätaussiedler“, im Jargon der „Zuwanderungs-Bürokratie“. Für die es große Unterschiede macht, ob ein Mensch, der Deutscher werden will, nur Flüchtling ist oder Kontingentflüchtling oder gar Spätaussiedler. Ob er Asyl sucht, es nur beantragt hat oder schon zugesprochen bekam. Ob er geduldet ist oder „subsidiären Schutz“ genießt.

 Für die derart kategorisierten Menschen ist der Unterschied gewaltig: er entscheidet über willkommengeheißen oder weggeschickt werden, über Kasernierung oder Freiheit, über Lebenschancen, nicht selten über Leben und Tod.

 Sergej Prokopkin gehörte zu den Glücklichen. Eigentlich. Spätaussiedler dürfen in die Nähe von Verwandten ziehen und sofort Geld verdienen. Doch Sergej tat sich schwer in Deutschlands Norden. Er verstand die Sprache nicht, er hatte keine Freunde, wusste mit sich nichts anzufangen. Die Agentur für Arbeit vermittelte ihm Ein-Euro-Jobs auf Bauhöfen und in Altenheimen. Leicht hätte er auf die schiefe Bahn geraten können. Jedenfalls entsprach er wohl ziemlich gut dem Klischeebild vom jungen, potentiell gewalttätigen Russen.

 Ende 2014 studiert Sergej Jura und Politikwissenschaften in Greifswald und steht kurz vor dem ersten Examen. Ein Jahr lang hat er sich im britischen Sheffield mit Kriminologie und Menschenrechten befasst. Er mischt bei den Grünen Hochschulgruppen mit und im Arbeitskreis Kritischer Juristinnen und Juristen.

 Eine Bekannte hat ihm seinerzeit die Telefonnummer der Otto Benecke Stiftung gegeben. Er lernte ein paar Sätze auswendig, überwand seine Hemmungen und rief an. Noch ein Jahrzehnt später kann sich Sergej ganz genau an dieses entscheidende Telefonat erinnern: „Ab dem Punkt ging es aufwärts. Seit diesem Zeitpunkt stehe ich auf eigenen Beinen.“ Die OBS verhalf ihm zum Absprung aus Plön - und von der Familie - nach Hamburg. Hier lernte er rasch „richtig“ Deutsch, und ihm erschloss sich eine neue Welt. Bei der OBS war er unter Menschen, die lernen wollten, die Zeitungen lasen und über Politik diskutierten. Er wusste bald: genau das war seine Welt.

 Auch Rossana Kvint ist ihren Eltern gefolgt, aus Kasachstan ins Aufnahmelager Friedland, auch sie eher widerwillig und voller Sorgen und Zweifel. Auch sie erinnert sich sehr genau an den Tag, an dem ihr Leben eine zweite Wendung nahm, nach dem Umzug in ein fremdes Land. Es war der 26. Mai 2006. Rossana saß einer Mitarbeiterin der OBS gegenüber. „Sie hat mir auf Englisch alle Wege Schritt für Schritt aufgezeichnet, zum Abitur, zum Studium. Wie soll das gehen, fragte ich: Ich spreche doch kein Wort Deutsch! Da hat sie mich so angeschaut und gesagt: Frau Kvint, Sie schaffen das! Andere vor Ihnen haben das auch geschafft. Sie nehmen Schritt für Schritt. Und plötzlich habe ich es geglaubt. Ich war euphorisch.“

 Jetzt studiert Rossana Kvint in München Medizin; im neunten Semester. Sie möchte sich auf Endokrinologie oder Pathologie spezialisieren und am liebsten in der Forschung bleiben. „Die OBS hat mich wie ein Navigationssystem reibungslos ans Ziel geführt. Ich empfinde so viel Dankbarkeit in meinem Herzen.“

 Dankbarkeit. Ein rares Gut. Unter „Kundinnen“ und „Kunden“ der Otto Benecke Stiftung findet man es schier im Überfluss, dieses Gut. Dankbarkeit kann auch schon mal bunte Blüten treiben. Ein Absolvent hat eine von ihm klassifizierte iranische Wassermilbe „Sperchon beneckei“ getauft.

 Für Reporter, die aufgrund professioneller Skepsis gern zu Zynismus neigen, kommt das Erleben ungekünstelter, massiert auftretender Dankbarkeit einer mentalen Fangopackung gleich. Die Teilnehmer der Tagung auf dem Bonner Venusberg reißen sich geradezu darum, dem Reporter warme Worte zum Tun der OBS in den Block zu diktieren.

 Said Essellak brachte der „Arabische Frühling“ aus Marokko zu „Otto Benecke“. So nennen ihre Klienten die Stiftung gern, die eigentlich ein Verein ist; in einer Mischung aus Respekt und Zuneigung. Als wäre sie ein gestrenger, aber gütiger Onkel. Said Essellak  fand dank „Otto“ Kontakt zu anderen jungen Einwanderern, wie er selbst einer ist. Er studiert heute in Konstanz Elektrotechnik und „will als Mensch etwas für diese Welt tun. In meiner Heimat war ich sozial gefangen. Hier sind meine Ideen gefragt.“

 Ist das kein Einwanderungsgrund? Nach geltendem Recht nicht. Da muss, wer Deutscher werden will, andere Gründe vorbringen können. Notfalls erfinden? Wer weiß? Jedenfalls sind es nicht die Dümmsten, denen es gelingt, hier sesshaft zu werden. Die Otto Benecke Stiftung hilft Menschen wie Said, Rossana, Sergej und Ahmad dabei seit fünfzig Jahren. Genau genommen sogar schon etwas länger. Mehr als 400.000 Menschen sind inzwischen dank „Otto Benecke“ in Deutschland angekommen, im umfassenden Sinn dieses Wortes. 1,2 Milliarden Euro hat die OBS dafür insgesamt ausgegeben, in all den Jahren; Geld der deutschen Steuerzahler. Das macht, grob gerechnet, 3000 Euro pro Klient. Da die allermeisten von ihnen inzwischen Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Wissenschaftler oder Unternehmer sind, dürfte sich diese soziale Investition bestens verzinst haben. Denn die OBS, das ist ihr Auftrag, spezialisiert sich auf bildungswillige Ein- (oder Zu-)wanderer. Auf Menschen, die schon in ihrer alten Heimat im „tertiären Bildungssektor“ unterwegs gewesen sind, studiert oder jedenfalls die Hochschulreife erworben haben oder auf dem Weg dorthin waren. Die OBS hilft diesen Menschen, die Bildungsleiter erneut zu erklimmen. Das tut sie, weil „Otto Benecke“ ein Kind der Studentenbewegung ist.

 OBS-Mitarbeiter leisten Menschen Hilfestellung, die turnen wollen, aber vor dem ehrfurchtgebietenden Stufenbarren zurückschrecken, als der ihnen das verästelte, durchdeklinierte deutsche Bildungssystem erscheinen mag. Der erste Griff gilt immer einem effektiven Sprachkurs, einem, der auf die Vorbildung und den Lerneifer ehrgeiziger Einwanderer wie Ahmad, Rossana, Sergej oder Said zugeschnitten ist.

 Unter Deutschen ohne aktuellen Migrationshintergrund ist „Otto Benecke“ wenig bekannt. Dahinter kann man System vermuten. „Bis 1990 hing ein Schild über der Bundesrepublik: `Deutschland ist kein Einwanderungsland’,“ erklärt Ursula Boos-Nünning, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, die zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung: „Es galt, die einheimischen Deutschen nicht zu erschrecken.“ Die Sozialwissenschaftlerin gilt als Erfinderin des Begriffs „Deutsche mit Migrationshintergrund“ – ohne stolz darauf zu sein; schließlich sei das kein schönes Wort und überhaupt nur eine Übersetzung aus dem Amerikanischen („migration background“).

 Schon vor ihrer Gründung haftete der Arbeit der OBS etwas Klandestines an. Während des Algerienkriegs suchten tausende junger Algerier, die in Frankreich studierten, in der Bundesrepublik Schutz vor Anfeindungen. „Die Studenten standen ja praktisch alle auf Seiten der Revolution. Sie waren in Frankreich nicht mehr sicher,“ erinnert sich Uwe Janssen, der von sich sagen kann: „Die Gründungsurkunde der Otto Benecke Stiftung trägt meine Unterschrift.“ Auch wenn das mehr oder weniger ein Zufall gewesen sei. „Ich habe das ganz locker gemacht.“

 Uwe Janssen war seit 1964 als Student der Archäologie in Marburg stellvertretender Vorsitzender des VDS, des Dachverbands der deutschen Studentenschaften, zuständig für „Internationales“. In jenen Zeiten hieß das: für die Solidarität mit Befreiungsbewegungen in aller Welt. 1965 wurde Janssen dann Vorsitzender des VDS. Gleichzeitig gründete der Verband die OBS.

 „Eigentlich war das eine Umgründung,“ so Janssen: „Eine Namensänderung, mehr nicht.“ Ein Versuch, die Arbeit dessen, was ab jetzt „Otto Benecke“ hieß und zuvor „Sozialamt des Bundesstudentenrings“, sichtbarer werden zu lassen. „Wir wollten ein besseres öffentliches Gesicht. Die OBS sollte der Think Tank des VDS werden.“ Daraus allerdings sei „so recht nichts geworden“.

 Der „Tumult“ kam dazwischen, wie Hans-Magnus Enzensberger die Geschehnisse rund um das Jahr 1968 etikettiert hat. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wollte den VDS – und damit auch „Otto Benecke“ – übernehmen und beide zu Instrumenten der Revolution transformieren. Janssen und andere wehrten sich. Aus dem Selbstverwaltungsorgan der Studentenschaften wurde ein eingetragener Verein. Ein Vehikel jener, die nicht die gewaltsame Revolution predigten, sondern den Marsch durch die Institutionen.

 Der ist einigen der Beteiligten zweifellos gelungen. Eberhard Diepgen wurde CDU-Politiker und Regierender Bürgermeister von Berlin. Wolfgang Roth wurde Juso-Vorsitzender und, von 1993 bis 2006, er Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank. Walter Hirche brachte es als FDP-Politiker bis zum Wirtschaftsminister in Niedersachsen. Alle drei gehören sie dem Kuratorium der OBS bis heute an. Dort habe allerdings „Parteipolitik nie eine Rolle gespielt,“ versichert Roth.

Hans-Jürgen Wischnewski, später, in den 1970ern als „Ben Wisch“ und im „Deutschen Herbst“ nach der Entführung der „Landshut“ durch RAF-Terroristen als der Dirigent der „Helden von Mogadischu“ legendär geworden, nahm sich als junger SPD-Bundestagsabgeordneter jener algerischen Studenten an, die in Deutschland Unterschlupf suchten angesichts der rassistischen Anfeindungen, denen sie in Frankreich ausgesetzt waren. Sie wollten und sollten hier weiter studieren - mussten aber zunächst einmal Deutsch lernen.

Wischnewski erreichte, dass der Bundestag Geld für Stipendien bereit stellte. Die Bundesregierung legte allerdings Wert darauf, mit diesem Programm nicht öffentlich in Zusammenhang gebracht zu werden. Die deutsch-französische Freundschaft glich in den späten 1950er Jahren noch einer zarten jungen Pflanze. Es hätte ihr angesichts der aufgewühlten Emotionen, die Algeriens Loslösung von der Kolonialmacht Frankreich begleiteten, wohl nicht gutgetan, hätte Deutschland sich offiziell auf die Seite der Aufständischen geschlagen: so hätte man in Paris ein deutsches Stipendienprogramm für algerische Jungrevolutionäre wohl gedeutet.

 „Es galt zu verstecken, dass Staatsgeld floss,“ sagt Janssen. Geboren ward die Idee: Machen wir das zur Sache der studentischen Selbstverwaltung! Eberhard Diepgen: „Die OBS wurde tätig, wo die Bundesrepublik tätig werden wollte, es aber aus außenpolitischer Rücksichtnahme nicht konnte.“

Die Idee der studentischen Selbstverwaltung wiederum verdankt Deutschland einer anderen Revolution, der deutschen von 1918/19.

 Als das im Ersten Weltkrieg geschlagene, erschütterte, ausgeblutete und nahezu verhungerte deutsche Volk die Herrschaft des Kaisers und der Fürsten abschüttelte, das Allgemeine Wahlrecht durchsetzte, einschließlich des Frauenwahlrechts, die Schulgeldfreiheit und den Achtstundentag, auf das Selbstbestimmungsrecht des Volkes pochend, als sich Arbeiter und Soldaten zu Räten formierten, da hatten engagierte Studenten die Idee, auch sie sollten als Gruppe und souverän ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und den überkommenen Autoritäten der Hochschulhierarchien selbstbewusst entgegentreten. Sie gründeten die Deutsche Studentenschaft, als Zusammenschluss der Studentenvertretungen aller Universitäten. Die treibende Kraft dabei war Otto Benecke. Er wurde der erste Vorsitzende der neuen Organisation. Auch nach 1945, beim erneuten Versuch, Studenten als Bürger im Hörsaal zu begreifen, bei der Wiedergründung der Verfassten Studentenschaften, diesmal in Form des VDS, war Otto Benecke wieder dabei, diesmal als Ideengeber und Inspirator, kraft seiner Erfahrungen und Kontakte als sozialdemokratischer Kulturpolitiker und als Geschäftsführer der Max-Planck-Gesellschaft.

 Ansprechpartner auf Seiten der verfassten Studentenschaft wurde Theo Tupetz (1923-1980), ein bürgerlich-liberaler Studentenfunktionär mit familiären Wurzeln in der Tschechoslowakei. Als Sozialreferent des VDS organisierte er Hilfen für Studenten, die aus der DDR in den Westen flohen, solange das noch möglich war. Wolfgang Roth: „In der ersten Zeit sind ja noch viele abgehauen. Im Westen hatten sie mit rigiden Zulassungsbestimmungen zu kämpfen.“ Tupetz hatte zu Beginn der 1950er Jahre als Hilfsreferent in Ministerien gearbeitet und verfügte über nützliche Kontakte zu Politikern und Beamten.

 Er und seine Mitstreiter bauten das Sozialamt des vom VDS dominierten Bundesjugendrings zur zentralen Hilfsstelle für Flüchtlinge aus, die in der Bundesrepublik studieren wollten. Hilfesuchende strömten bald aus allen Himmelsrichtungen herbei. 1956, nach dem gescheiterten Aufstand dort, aus Ungarn, aber bald auch aus anderen Staaten des Ostblocks – und aus den Apartheid-Ländern des südlichen Afrika.

 Studierenden aus Rhodesien (später Zimbabwe), Südwest- (Namibia) und Südafrika unter die Arme zu greifen war damals die wohl wirkungsvollste subversive Unterstützung des Kampfes gegen Kolonialismus und Rassentrennung. Die offizielle Politik der Bundesrepublik setzte noch lange auf Kooperation mit den Regimes der dortigen weißen Oberschichten. Sie tat das bis tief in die 1980er Jahre hinein. Die Umleitung von Steuergeld über die studentische Selbstverwaltung bot all jenen Deckung, die trotzdem etwas für den Wandel im südlichen Afrika tun wollten.

 Zur Jahrtausendwende flog Eberhard Diepgen mit einer Berliner Delegation nach Namibia. Das Land war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren unabhängig. Es wurde von Sam Nujoma regiert, dem schwarzen „Gründervater der namibischen Nation“. Die Berliner wollten eine Städtepartnerschaft zwischen der deutschen und der namibischen Hauptstadt Windhoek besiegeln. „Wir saßen beim Staatspräsidenten und stellten uns reihum vor,“ schildert Diepgen die Szene, „und ich erwähnte, dass ich Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung bin.“ Da sei ein Raunen durch die Reihen der namibischen Delegation gegangen. „Und ungefähr jeder zweite erzählte, er sei Stipendiat der OBS gewesen.“

 Die OBS (und ihre Vorläuferin) konnte, anders als staatliche Stellen, schnell auf neue Herausforderungen reagieren. Als ein ghanaischer Student 1961 in Moskau unter ungeklärten Umständen den Tod fand, kam es dort zu einem „Walkout der community“, erinnert sich Janssen. Der tote Student hatte eine russische Freundin gehabt. „Sein Leichnam wurde an einem Bahndamm gefunden. Der Mord wurde nie aufgeklärt.“

 Offiziell hatte es in der Sowjetunion, dem selbsternannten „Vaterland aller Werktätigen“, keinen Rassismus zu geben. Die ghanaischen Studenten siedelten fast geschlossen in die Bundesrepublik um. Hier half ihnen der OBS-Vorläufer auf die Beine. Der Bundestag stockte seine Zuschüsse unauffällig auf.

 1964 verteilt das studentische Sozialamt schon 1,4 Millionen DM. Der Bundesrechungshof legt nahe, eine eigenständige Organisation zu gründen – deren Rechnungslegung transparent wäre. Man wählt die Form des eingetragenen Vereins. Im März 1965 erblickt er als „Otto Benecke Stiftung. Sozialamt des Deutschen Bundesstudentenrings e.V.“ das Licht des Vereinsregisters. Der Ideengeber der autonomen Studentenschaft ist im Vorjahr verstorben; auch deshalb bietet sich die Namenswahl wohl an.

 Tupetz und seine Mitstreiter glauben, jetzt ein Instrument in der Hand zu halten, mit dem sich Politik beeinflussen lässt. Doch diese Ambition geht im Lärm der Studentenrevolte unter. Im Vorstand des OBS e.V. wird zwar nach übereinstimmender Berichterstattung Beteiligter nicht gelärmt, aber es prallen doch auch hier zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von studentischer Politik aufeinander. Die eher Linken machen sich für das „allgemeinpolitische Mandat“ der Studentenschaften stark: Sozialdemokraten wie Janssen und Roth liegt das Schicksal Südafrikas und Vietnams kaum weniger am Herzen als die Hilfe für Ostblock-Flüchtlinge. Eberhard Diepgen wiederum steht auf der Seite derer, die das politische Mandat auf studentische Angelegenheiten konzentriert sehen wollen. „Wir wollten selber Wohnheime bauen, nach schwedischem Vorbild. Wir wollten keine Almosenempfänger sein, die von Tutoren im Wohnheim betreut werden. Wir wollten frei und selbstverantwortlich sein.“

 Diepgen ist zur Zeit der Gründung der OBS noch nicht Mitglied der CDU. Das wird er erst nach seiner vom SDS betriebenen Abwahl als ASTA-Vorsitzender. „Er war natürlich beleidigt;“ zeigt SPD-Mann Wolfgang Roth Verständnis für den politischen Gegner. Das revolutionäre Gebaren des SDS war ihm kaum weniger suspekt als Diepgen.

 Als der Versuch gescheitert ist, den Verband der Studentenschaften in eine Speerspitze der Revolution zu verwandeln, betreibt der SDS stattdessen die Zerschlagung des Verbandes. Der Vorstand der OBS und seine staatlichen Geldgeber ziehen daraus die Konsequenz der Loslösung vom VDS. 1969 wird der Verein umbenannt. Er heißt seither nur noch Otto Benecke Stiftung e.V. Roth: „Damit war die Ursprungsidee von Tupetz eigentlich obsolet.“

 Tupetz, der laut Wolfgang Roth den SDS „unappetitlich“ findet, hat Angst, sensible Unterlagen über Flüchtlingsbiografien könnten über den SDS in die Hände östlicher Geheimdienste gelangen. 1968 erlebt die Stadt, in der er zur Schule gegangen ist, den „Prager Frühling“ – der von sowjetischen Panzern niedergewalzt wird. Studenten, die in den Westen fliehen, steht die Otto Benecke Stiftung bei. In Unterlagen der Stiftung dürfte Brisantes zu Fluchtwegen und Fluchthelfern gestanden haben.

Nach einem Versuch revolutionär gestimmter Studenten, die VDS-Büros zu stürmen, nimmt Tupetz Akten der OBS mit zu sich nach Hause. Wohlmeinende sagen: um Geflüchtete und ihre Helfer zu schützen. Böswillige unterstellen anderes. Unklar ist, was für Akten es waren und wo sie schließlich abgeblieben sind. Jedenfalls führen diese Ereignisse zu Tupetz’ Entlassung als Geschäftsführer der OBS. Er zieht zwar vor Gericht, bekommt dort auch Recht, aber er wird nicht wieder eingestellt. Sein „Kind“, als das er die OBS sieht, wächst fortan ohne ihn.

 Und wie es wächst! Bald zählt der Verein, der als Stiftung daherkommt, im Grunde aber „Staatsauftragsverwaltung“ (Diepgen) betreibt, „zu den feineren Adressen in der Republik“ („Die Zeit“ 1992). Tupetz, heißt es, habe seine Abschiebung nie überwunden.

 Nach Tupetz’ Abgang hält Wolfgang Beitz als Geschäftsführer die Fäden in der Hand. Berichten von Weggefährten zufolge ein äußerst gewinnender, kontaktfreudiger Mann. Der Etat des Vereins wächst unaufhörlich, vor allem dank des anschwellenden Ansturms von Spätaussiedlern aus Ländern des Warschauer Pakts. Beitz lagert einen Großteil der Programme aus der OBS aus und wickelt sie über eine „Gesellschaft zur Förderung Berufsspezifischer Ausbildung“ (GFBA) ab. Es entsteht ein Schattenhaushalt, der sich der Kontrolle des Bundesrechnungshofes entzieht. 1990 macht ein Whistleblower, wie man heute sagen würde, den Rechnungshof auf Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr zwischen OBS und GFBA aufmerksam. Eine Prüfung führt zu Beitz’ Entlassung. Die GFBA geht in Konkurs, ihr Geschäftsführer Volker Grellert, dem die Staatsanwaltschaft Frankfurt Veruntreuung vorwirft, setzt sich ins Ausland ab. Auch Beitz lebt heute in Südafrika - wo er als ein Wegbereiter der deutschen Anti-Apartheid-Politik geschätzt wird.

 Seit 1992 unterliegen alle Aktivitäten der OBS wieder der Aufsicht des Bundesrechnungshofes. „Die Zeit“ kann noch im selben Jahr festhalten: „Mittlerweile gehören die Missstände bei der OBS der Vergangenheit an.“

 Ihr Kümmern um Polen, Sowjets, Rumänen oder Bürger der Tschechoslowakei, die deutsche Ahnen vorzuweisen haben und denen deshalb die sonst gut verriegelten Tore zur Bundesrepublik weit offen stehen, prägt das Image der OBS für lange Zeit. Daneben verblasst, dass sie sich nach wie vor auch um Menschen aus vielen anderen Weltgegenden kümmert.

 1974 sind es Chilenen, die nach dem Militärputsch aus ihrer Heimat fliehen müssen. In anderen Jahren kommen vermehrt Palästinenser, Afghanen oder Ugander. Nicht alle wollen Deutsche werden. Vielen dient das Studium in Deutschland als Basis einer Karriere in der Heimat – so ihnen die politische Lage dort eine Rückkehr gestattet, wie jenen Namibiern, denen Eberhard Diepgen 2000 in Windhoek begegnet. Zweck und Ziel der OBS ist es, laut ihrer Satzung, „die internationale Zusammenarbeit zur Überwindung sozialer Barrieren und weltanschaulicher Konflikte zu unterstützen und dazu beizutragen, dass der von ihr geförderte Personenkreis später Verantwortung in den gesellschaftlichen Institutionen übernimmt“.

 Auch als Think Tank betätigt sich die OBS durchaus. Allerdings ist ihr Adressat jetzt weniger die verfasste Studentenschaft, sondern „die Politik“. Früh weisen die Praktiker der OBS auf Defizite der deutschen Gesetze hin. Im jährlichen „Forum Integration“ zeigen Wissenschaftler, Absolventen und Programmverantwortliche sehr früh und immer wieder minutiös auf, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland sei - und gut daran täte, dies anzuerkennen. Schon vor der Jahrhundertwende entwickelt die OBS ein „Kommunales Integrationskonzept“ als Blaupause für den Umgang von Städten und Gemeinden mit Neuankömmlingen. 2003 trainiert sie „Superteams“, die an ostdeutschen Schulen Front machen gegen Rassismus und Rechtsradikalismus. Eine Broschüre zur „Berufswahl mit System“, von der OBS zu Beginn der 1990er entwickelt, sei „immer noch aktuell“, entnimmt Peter Rummel im Herbst 2014 der anhaltenden Nachfrage nach der Broschüre. Sie werde jetzt gerade „smartphonegängig“ gemacht.

 Der Diplompädagoge Peter Rummel arbeitet seit 1983 für „Otto Benecke“. Aus seinem Büro im alten Bonner Regierungsviertel hat er den Petersberg fest im Blick, das einstige Gästehaus der Bundesregierung, wo heute hin und wieder Diplomaten nach Wegen zum Frieden am Hindukusch oder sonst wo suchen. Rummels Erfolge sind in seinem Büro zu sorgfältig abgehefteten Ordnern geronnen – und dem einen oder anderen Souvenir. Nicht ohne Stolz hält er ein großformatiges Foto hoch. Es zeigt deutsche Kinder auf einer vietnamesischen Dschunke.

 „Magdeburg goes Vietnam“: Unter diesem Titel versuchte die Otto Benecke Stiftung 1999 und 2000, Hand in Hand mit der Caritas und örtlichen Medien, die Haltung der Magdeburger gegenüber ihren vietnamesischen Mitbürgern zu ändern. Mit nachhaltigem Erfolg. Die dortigen Vietnamesen, einst von der DDR in die Republik der Bauern und Werktätigen geholt, „wurden in den Neunzigern auf der Straße manchmal bespuckt,“ erzählt Rummel. Es brach sich eine Fremdenfeindlichkeit Bahn, die es zu DDR-Zeiten nicht hatte geben dürfen.

 OBS, Caritas und Medien sorgten dafür, dass die Vietnamesen keine Fremden blieben. Rummel reiste, als Höhepunkt des Projekts, mit 22 Magdeburger Jugendlichen „zweitausend Kilometer durch Vietnam“, mit der Bahn und eben auch auf jener Dschunke. Die Jugendlichen fragten sich jeden Tag und auf jeder Station ihrer Reise: „Wie kommen wir zurecht in einem Land, dessen Sprache und Kultur wir nicht verstehen?“ Und sie sollten beobachten: „Wie reagieren die Vietnamesen auf uns?“ Die Antwort auf diese Frage war oft genug beschämend. Rummel: „Die Leute haben sich auf der Straße vor uns verbeugt, aus Respekt vor fremden Gästen.“

 Der Mitteldeutsche Rundfunk beamte die Erfahrungen der Magdeburger Kids jeden Morgen per Radio an die heimatlichen Frühstückstische. Die Magdeburger „Volksstimme“ betitelte eine große Reportage mit dem Zitat „Jetzt weiß ich, was es heißt, Ausländer zu sein“.

 2002 wurde Magdeburgs vietnam-stämmige Community erstmals aus Anlass ihres traditionellen Tet-Festes ins Rathaus gebeten, seither immer wieder. Rummel findet, so sähen Erfolgsgeschichten aus: „Die Vietnamesen sind Teil des gesellschaftlichen Lebens geworden.“ Aber wer wisse das schon, außerhalb Magdeburgs? Warum, bedrängt er den Reporter bohrend, „focussieren sich die Medien immer auf die schlimmsten Dinge? Warum kann man nicht mal aus der Summe der guten Dinge eine Sensation machen?“

 Als 1992 ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen brannte, eilten die Medien dorthin, wie es sich gehört. Aber über die anschließende Aktion „Mitmischen statt Aufmischen“ der OBS sei überregional kaum berichtet worden, klagt Rummel. „Otto Benecke“ fuhr mit einem Aktionsmobil über das mecklenburgische Land, suchte das Gespräch mit Jugendlichen und ließ Kinder ihre Vorstellungen von Ausländern in den Computer malen. Um anschließend mit ihnen darüber zu sprechen, welche Ausländer sie tatsächlich kennen und was sie von ihnen wissen.

 Die vielen Mit- und Zuarbeiter der Otto Benecke Stiftung wirken seit einem halben Jahrhundert „dem Thekenblick entgegen, der ausdrückt: Die nehmen uns alles weg!“ So formuliert es Jochen Welt, seit Sommer 2014 ehrenamtlicher Geschäftsführer der OBS. Als Beauftragter für Aussiedlerfragen der rot-grünen Bundesregierung, von 1998-2004, hat er die Arbeit des Vereins, den er jetzt führt, bereits gründlich kennen und zu schätzen gelernt. Die OBS habe Einwanderer, woher und aus welchen Gründen auch immer sie nach Deutschland kommen, eben nie als Belastung gesehen, sagt er, „sondern stets als Potenzial“. Als eine brachliegende Ressource, die es zu fördern galt. Welt: „Wir schaffen gesellschaftlichen Mehrwert.“

 Allerdings mit einer stetig schrumpfenden Zahl von Mitarbeitern. Bei einer gleichzeitig anschwellenden Zahl von Programmen mit Titeln wie AQUA, YOUPA oder MIGoVITA. Programme, die nicht selten genau dann wieder auslaufen, wenn sie so richtig auf Touren gekommen sind. Schuld daran sei, so Wolfgang Roth, die Umstellung der deutschen Förderpraxis nach US-amerikanischem Vorbild. Projekte werden ausgeschrieben und jeder kann sich bewerben. Den Zuschlag erhielten nicht unbedingt die Organisationen „mit dem besten Know-how und der größten Erfahrung“ auf dem betreffenden Gebiet, sondern die mit dem größten Geschick im punktgenauen und schnellen Treffen der Förderkriterien.

 Es ist eine Klage, wie sie aus vielen Verbänden und Vereinen zu vernehmen ist, die auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind: ein (zu) großer Teil der Energie und Arbeitszeit gehe heute fürs rechtzeitige Orten finanziell gut bestückter Programme drauf. Man mache dann nicht unbedingt das, was man gut kann, sondern das, was dort gerade Mode sei, wo die Programme formuliert werden.

Als „Projekteritis“ geißelt Eberhard Diepgen diese neuartige Förderpraxis. Er hält sie schlicht für „blödsinnig“. „Bestimmte Programme, gerade in der Integrationsarbeit, können Sie nicht projektorientiert machen.“ Wer Menschen durch Schulen, Ausbildungsgänge und Studien begleite, brauche einen langen Atem: „Es braucht Kontinuität, Know-how und Erfahrung.“

 Wolfgang Roth kommt zu dem gleichen Ergebnis: „Know-how kann man nur schrittweise aufbauen. Man muss erfahrene Leute auch schon mal zwanzig, dreißig Jahre arbeiten lassen, statt immer neue Projektteams zu bilden.“ Hans Georg Hiesserich, bei der OBS für alle Migrations- und Integrationsprojekte zuständig, ist sich sicher, Deutschland stünde heute in der Integrationspolitik „besser da, wenn das Geld statt in immer neue Projekte in den Aufbau von Strukturen geflossen wäre.“

 Theodor Lemper, CDU-Mitglied und Vorstandsvorsitzender der OBS, kann sich angesichts der verbreiteten Rat- und Tatenlosigkeit der deutschen Politik im Umgang mit immer neuen Flüchtlingsströmen, derzeit aus Syrien, geradezu in Rage reden: „Wir sind ein Einwanderungsland. Punkt. Und wir haben hochprofessionelle Organisationen, die wissen damit umzugehen. Es ist auch schon alles gesagt worden. Es muss nichts mehr entdeckt werden. Aber manchmal wird der Eindruck erweckt, es sei noch nicht alles gesagt worden.“ Lemper holt Luft. „Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Bei der Otto Benecke Stiftung dreht es sich seit fünfzig Jahren.“

 Aber es dreht sich immer langsamer. Nach der Einschränkung des Asylrechts 1992 verebbte der Strom der Flüchtlinge rasch. Dafür schwoll der Zustrom der Spätaussiedler an. Seit 2005 gingen auch deren Zahlen zurück. Die Angebote zur Bildungsberatung, Deutschkurse, Seminare und Stipendien schienen nicht mehr gebraucht zu werden. Der Bund kürzte die entsprechenden Etats. Die OBS baute Stellen ab, löste Büros auf. 2013 gab sie zwölf Millionen Euro aus. Das klingt eindrucksvoll. Doch 2007 konnte sie noch über das Doppelte verfügen. Nicht zu reden von 1990; da waren es 105 Millionen Euro.

 Dem Kürzungstrend trotzend kommen seit 2007 wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland, immer mehr. 2007 wurden gut 3.000 in Deutschland aufgenommen, 2014 zehn mal so viele – auch weil „die Aufnahmebehörden heute nicht mehr alle böse sind“, wie es ein erfahrener Bildungsberater mit mildem Sarkasmus formuliert. Er meint damit: Die Behörden dulden heute schon mal, wo sie gestern noch abgeschoben haben. Auch Ursula Boos-Nünning registriert eine Veränderung der Stimmung im Lande: „Sie merken das daran: Alles arbeitet jetzt an der Willkommenskultur.“

 Auch die Zahl der Aussiedler aus Russland und der Ukraine steigt wieder leicht an. Allein: es fehlen der OBS, gerade jetzt, die Gelder für Kurse und Stipendien. Viele Antragsteller müssen auf das nächste Jahr vertröstet werden. Dabei fällt ehrgeizigen „Zuwanderern“ nichts schwerer als Warten. Als Untätigkeit.

 Es fehlt an Geld. Doch woran es nicht fehlt, das sind helfende Hände und Köpfe. Said Essellak, Sergej Prokopkin und Rossana Kvint greifen als OBS-„Betreuerstudierende“ Neuankömmlingen unter die Arme. Sie erklären ihnen den deutschen Paragraphendschungel, die Strukturblüten des deutschen Bildungssystems – und manchmal wohl auch das Deutsche an sich. Rossana Kvint gibt dann stets den Satz weiter, den sie selbst 2006 gehört hat: „Man kann es schaffen!“

 Wer „Betreuerstudierende“ fehlerfrei auszusprechen vermag, hat vielleicht den ersten Schritt schon getan.

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"In Berlin sprechen die Steine, und manchmal schreien sie auch."

18/4/1992

 
Erhard Eppler hat das gesagt, als seine Partei, die SPD, darüber stritt, von wo aus Deutschland künftig regiert werden soll, Berlin oder Bonn. Eppler war für Berlin. Weil dort Geschichte lebendig ist. In Bonn, das ist wahr, schreien die Steine nicht, aber wie soll man es nennen, was das Bonner Brückenmännchen macht?
Es ist nicht auf den ersten Blick zu sehen, kein Schild weist den Weg dorthin, aber die Bonner haben nichts dagegen, wenn man es trotzdem findet. Für diesen Zweck, vermutlich, haben sie den Rheinuferweg angelegt. Dort kann man laufen, dort kann man Fahrrad fahren, nur mit dem Auto kommt man nicht hin, von wenigen Stellen abgesehen. Fast nebenbei ist der Rheinuferweg ganz zweifellos einer der schönsten Radwege Deutschlands. Wer will, kann ihm entlang bis Koblenz strampeln. Oder auch nur bis Mehlem oder Oberwinter. Das sind dann zwischen acht und 15 Kilometern (eine Strecke).
Vom Hauptbahnhof zum Brückenmännchen sind es nur ein paar hundert Meter. Immer Richtung Beuel. Der Weg nach Beuel, heute ein Stadtteil von Bonn, früher die bescheidene Schwester "op de schäl Sick", führt über den Rhein. über eine Brücke, die zu ihrer Entstehungszeit - 1898 - als beispielhaft modern galt. Was aber nicht der Grund dafür war, daß die Bonner ihr an die Unterseite das Brückenmännchen geklebt haben. Das machten sie, weil sie die Brücke ganz allein bezahlen mußten. Die Beueler weigerten sich strikt, einen Teil der Kosten zu tragen. Also befestigten die Bonner auf ihrer Seite, unten am Brückenpfosten am Rhein, ein gebücktes Männlein mit entblößtem Hinterteil. Das streckte es den Beuelern entgegen. Das ist die Bonner Art, Rache zu nehmen.
Heute zeigt das Hinterteil übrigens nicht mehr Richtung Beuel. Schließlich beleidigt man nicht seine eigenen Mitbürger. Seit 1949 streckt das Brückenmännchen seine vier Buchstaben merkwürdig schräg nach Südsüdost. Doch das hängt mit einem anderen Streit zusammen.
 (Wenn man schon am Brückenmännchen steht, lohnt es sich, ein paar Schritte rheinabwärts zu tun, Richtung Köln also. Dort finden sich Mauerreste, ungewöhnlich für Bonn, wo man gerne gründlich aufräumt. Es sind Reste der alten Synagoge. Es bedurfte geharnischter Proteste, sie zu erhalten. Da wo einst das jüdische Gotteshaus stand, befindet sich jetzt das Parkdeck eines Hotels.)
(Rheinaufwärts steht das Geburtshaus von Peter Josef Lenné. Der schuf die Gärten von Potsdam. Die Bonner haben ihm - dafür? - ein Denkmal errichtet, direkt am Rheinufer. Neuerdings ist es eingegittert. Manfred van Rey, der Stadtarchivar, beteuert, das habe nichts mit Lennés Engagement für die Residenz bei Berlin zu tun. Das Gitter solle die Büste vielmehr vor Treibgut schützen, wenn der Rhein Hochwasser führt.)
Vorbei am einstigen Preußischen Oberbergamt - von hier aus wurde das Ruhrgebiet unteridisch erschlossen, heute büffeln hier Geschichtsstudenten - und am Alten Zoll, kommt das Hotel Königshof ins Bild. An dessen Stelle stand früher das Hotel Royal, Bonns erste Adresse, Absteige gekrönter Häupter und gerühmter Köpfe. Es fiel wie fast die gesamte alte Bonner Innenstadt einem alliierten Bombenangriff zum Opfer; am 18. Oktober 1944.
Erhalten, weil schon vor der alten Stadt gelegen, blieb das Albertinum, Ausbildungsstätte der Erzdiözese Köln. (Warum nur gilt das Bistum Köln als das aufmüpfigste, freidenkendste der katholischen Christenheit, wo doch Bonn angeblich der Hort der Beharrlichkeit ist, erzkonservativ bis in die Fundamente? Rheinische Merkwürdigkeiten.)
Nur ein paar Meter sind es vom Albertinum zum Sitz der Lesegesellschaft von 1787. Quer durch die damaligen Stände hindurch traf man sich hier zur Lektüre freigeistiger Blätter, zwar vor den Toren der Stadt, aber immerhin.
Der Rheinpavillon schräg gegenüber ist ein Denkmal einer anderen Epoche, die man heuˆte gemeinhin eher mit Bonn verbindet. Er hat Nierenform und steht auf Stelzen, ein Monument der fünfziger Jahre. Heute sieht er wieder seltsam modern und mutig aus. Dort gibt es Sauerbraten.
Es folgt das Beethovengymnasium, neben der Universität Bonns traditionsreichste Bildungsanstalt. Dann das Ernst-Moritz-Arndt-Haus. Laut van Ray hat Arndt es sich im Stil eines vorpommerschen Landhauses errichten lassen. Außerdem - Gelehrte sind seltsam - sei Arndt regelmäßig im Rhein schwimmen gegangen, selbst im November noch. Solches sieht man heute selten, und wenn, dann nur im Sommer, und zehn km weiter rheinaufwärts, wo der Rhein Strand hat und stille Buchten und es nach Basilikum duftet und nach Holzkohlenfeuer.
Es beginnt der lange Komplex des Auswärtigen Amtes. Hier fängt das Regierungsviertel an. AA und Postministerium, 1953/54 errichtet, sind die einzigen echten frühen Hauptstadtbauten in Bonn. Mitte der fünfziger Jahre verbot der Bundestag der Regierung, in Bonn zu bauen. Motto: "Jede Mark für Bonn ist Verrat an Berlin." 1966 wurde der Baustopp allerdings aufgehoben, irgendwo mußte schließlich reˆgiert werden.
Es entstand der "Lange Eugen", das Abgeordnetenhaus neben dem Bundestag, schon von weitem unübersehbar. Nebenbei hält der Turm die Erinnerung wach an den langjährigen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier. In Oberwinter, nahe am Rheinuferweg, liegt er beerdigt.
Erst in den achtziger Jahren entschloß sich die Bundesrepublik, baulich in Bonn so richˆtig etwas hermachen zu wolˆlen. In das Kernstück der neuen Hauptstadtplanung, den Plenarsaal, kann man vom Fahrradsattel aus hineinblicken - so wie die Abgeordneten werden hinausblicken können auf den Rhein. Wenn sie nicht gerade in Berlin sind.
Hinter Bundestag und Langem Eugen beginnt der Rheinauenpark. Es kann sein, daß er nicht ganz so groß ist wie der Central Park in New York. Seine Funktion aber ist ähnlich. An Sommersonntagen, wenn das Regierungsviertel ausgestorben ist, wimmelt es hier von Freizeitsportlern, und Sonnensuchern, Familien und  Musikanten.
Hinter dem Rheinauenpark wird Bonn vornehm. Es beginnt das Bad Godesberger Villenviertel. Bevor sich hier Diplomaten niederließen, wußten Großbürger aus ganz Deutschland schon das milde Klima am Rhein zu schätzen; wie vor ihnen die Römer. Mancher versuchte sich die Gunst der Lage bis über den Tod hinaus zu sichern. Das Mausoleum der Famile Carstanjen, eine klassische Rotunde, könnte so auch an der Via Appia stehen oder bei einer venezianischen Villa. Der Zugang zum englischen Garten drumherum ist heute mit einem Vorhängeschloß gesichert. Eigentümer des Geländes ist die Bundesvermögensverwaltung.
Das Hotel Schaumburger Hof gehört hingegen der WestLB. Heinrich Heine hat sich hier einst so wohlgefühlt, daß ihn das Reimen überkam. ähnlich sollte es Gästen des Landes NRW ergehen. Das Traditionshotel sollte staatliches Gästehaus werden. Vorbei. Jetzt wird ein Käufer gesucht.
Wer einen Rheinwein unter Bäumen mit Aussicht auf Petersberg und Drachenfels trinken will, muß deshalb etwas weiter radeln, bis zum Alten Weinhaus Mehlem. Das ist nach wie vor in Privatbesitz, nach wie vor geöffnet und nach wie vor beliebt.
Auch das Rheinhotel Dreeßen gibt es noch. Daß Adolf Hitler sich hier fast so gerne aufhielt wie auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, hat der Hoteliersfamilie niemand übelgenommen. Schließlich gab es das Hotel schon vor des "Führers" Zeiten.
Die Berliner Hohenzollern fanden diesen Rheinabschnitt gar so schön, daß sie sich dort einen eigenen Bahnhof erichten ließen. Heute ist der Bahnhof Rolandseck Galerie und Kulturzentrum. Wer bis hierhin geradelt ist, hat vorher den Rolandsbogen passiert. Von dort aus - allerdings ist er nur zu Fuß zu erklimmen - ist die Aussicht auf das Siebengebirge am eindrucksvollsten. Ferdinand Freiligrath hat sie zuerst gerühmt, Willy Schneider später. Texte sind im Restaurant zu besichtigen.
Wer den Weg zum Brückenmännchen auf der anderen Rheinseite zurückradeln will, kann mit der Fähre übersetzen, entweder in Rolandseck oder schon in Godesberg oder Mehlem, vielleicht gar mit jener Fähre, die einst Konrad Adenauer allabendlich hinüberbrachte zu seinem Wohnhaus in Rhöndorf.
Fast hätte Adenauer es weniger bequem gehabt, fast hätte er weiter fahren müssen bis zum Kanzleramt, fast wäre das weltstädtische Frankfurt in der Geburtsstunde der Bundesrepublik "vorläufiger Sitz der obersten Bundesbehörden" geworden. Es kam anders, wenn die Mehrheit für Bonn auch knapp war.
Seither streckt das Brückenmännchen seinen Po gen Frankfurt. ätsch!

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