Uwe Knüpfer
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Corona 2

8/6/2020

 

Mit Wumms aus der Krise

Jetzt also will die Bundesregierung mit „Wumms“ aus der Rezession kommen. O-Ton Olaf Scholz. Gut so und toi-toi-toi! In Berlin hat man inzwischen verstanden, welche Geister die Regierenden herbeigerufen haben, im Zeichen der Abwehr eines obskuren Virus. Die sogenannten Wirtschaftsweisen haben ihre naiven Voraussagen zur Konjunkturentwicklung korrigiert. Sie und die Pandemiepolitiker haben in den Abgrund geblickt und sind erschrocken. Hoffentlich nicht zu spät.
Ganz offiziell sehen wir jetzt der Gefahr einer weltweiten wirtschaftlichen Depression ins  Auge, vom Ausmaß jener der frühen 1930er Jahre, mit allen befürchtbaren sozialen und politischen Folgen. Wenn man Arbeitslose und Kurzarbeitende zusammenzählt, haben mehr als 13 Millionen Menschen in Deutschland ihre Arbeit verloren, infolge der Pandemiepolitik. Die vielen Selbstständigen, die momentan ihre Ersparnisse aufzehren und hoffen, der Privatinsolvenz zu entkommen, nicht mitgezählt. Und diese erschreckenden Zahlen verblassen angesichts der für uns namenlosen Opfer in Ländern mit schlechteren Gesundheits- und Sozialsystemen wie Indien oder Brasilien.
Noch tragen Virologen wie Christian Drosten einen unsichtbaren Lorbeerkranz, auch wenn er welkt, wie an einer wütenden Attacke der Bild-Zeitung auf den selbsternannten Berliner Obervirologen zu erkennen war. So überzogen und boulevardesk diese Attacke war, bald schon könnte „Virologe“ ein neues Schimpfwort sein.
Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Folgen der Pandemiepolitik mindestens so viele Opfer hinterlassen wie das Virus selbst. Schwere Nicht-Corona-Krankheitsfälle blieben unversorgt, ungezählte Menschen starben völlig vereinsamt, in vielen Familien dürften sich Tragödien abgespielt haben. Die Zahlen der neu mit Covid 19 Infizierten hingegen stagnieren bei uns seit vielen Wochen. Im Kreis Ahrweiler ist es bei dem einen frühen Todesopfer „in Zusammenhang mit Covid 19“ geblieben. Die Kassandrarufe der Berliner Virologen werden nur noch von wenigen Politikern verstärkt und für bare Münze genommen. Seit Mitte Mai versucht man sich an der Rücknahme der unsinnigen allgemeinen Freiheitsbeschränkungen – und erlebt, wie schwer es ist, den Geist der Angst wieder in die Flasche zurückzupressen.
Gleich zwei Gruppen schreien auf: der verängstigte und der vom Autoritären der Coronamaßnahmen in innere Vibration versetzte Teil der Bevölkerung. Lehrer wollen nicht wieder ins Klassenzimmer zurückkehren. Freizeit-Blockwarte sehen sich mit ihrem Unverständnis der Funktionsweise offener Gesellschaften und ihrer Sehnsucht nach strammer Führung ins Internet zurückgeworfen.
Aber es gibt auch Gutes. Die Bundesregierung hat äußerst schnell auf die sich anbahnende Wirtschaftskrise reagiert, mit der Ausweitung der Kurzarbeiterregelung, mit Soforthilfen für kleine und größere Betriebe, jetzt mit dem „Wumms“-Konjunkturprogramm, und auch mit einer neuen europäischen Solidarität. Keynes triumphiert über Hayek und Co. Insofern zumindest werden sich die Fehler der Jahre 1929-33 nicht wiederholen.
Wie vergleichsweise harmlos die Corona-Bedrohung ist – bei aller Unberechenbarkeit des Virus – zeigt das Aufleben der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA. George Floyd ist zu einem Märtyrer wider Willen geworden. Der dunkelhäutige Mittvierziger wurde in Minneapolis von einem weißen Polizisten auf offener Straße und – dank eines Handyvideos – vor den Augen einer entsetzten Weltöffentlichkeit ermordet. 8 Minuten 46 Sekunden kniete der Polizist auf Floyds Nacken, der immer wieder rief, er könne nicht atmen. 8 Minuten 46 Sekunden ist ein Kampfruf geworden, eine Zeiteinheit, deren erschütternde Bedeutung sich tief in die Erinnerung vielen jetzt Lebender eingraben wird.
Jetzt demonstrieren nicht nur in Minneapolis und Dutzenden US-amerikanischer Städte, sondern auch in Berlin, München, Düsseldorf Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt, allen Coronawarnungen und Demonstrationsverboten zum Trotz, und längst sind es nicht nur „farbige“ Menschen. Die meisten sind jung. Sie demonstrieren, auch wenn sie es nicht hinausschreien, für die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte. Sie geben der Aufklärung neue Kraft.
Das kommt dabei heraus, wenn Spießbürger, die Steuern sparen wollen, ihre Pamphlete von einem gebildeten Idealisten mit journalistischem Anspruch formulieren lassen. Thomas Jeffersons „All men are created equal“ wird eben von jedem verstanden, und so kann jeder und jede auch sehen, welches Versprechen der Aufklärung und der US-Verfassung bis heute nicht eingelöst ist. Gut möglich, dass sich in diesen Wochen in der nachwachsenden Generation ein tiefes Verständnis des Wesens offener Gesellschaften verfestigt und damit ihre Entschlossenheit, den jetzt gerade sehr sicht- und spürbaren Bedrohungen von Freiheit und Demokratie, von Presse-, Rede-, Versammlungsfreiheit und Rechtstaatlichkeit entgegenzutreten. So wie das junge Menschen in Hongkong tun, in aussichtsloser Lage, angesichts der Übermacht und Brutalität der chinesischen Staats- und Parteiführung. Xi Jinpeng ist auf dem Weg, sich als gottgleich verehren zu lassen. Leider wird wohl auch dieses Idol erst vom Sockel stürzen, wenn der reale Xi schon nicht mehr lebt. Aber stürzen wird es.
Die Sehnsucht nach Freiheit ist wie Wasser. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Anstand auch. Donald Trump sieht seine Felle schwimmen. (Was ihn leider einstweilen noch gefährlicher macht.)  
Auch die Vorschrift, in Gesellschaft fremder Menschen einen Mundschutz zu tragen, hat ihr Gutes. Indem sich nahezu alle daran halten, entsteht sichtbar ein neuer Gemeinsinn. Oder besser: Ein verloren geglaubter Gemeinsinn erwacht zu neuem Leben. Damit einher geht die Bereitschaft, entgegen der herrschenden Lehre des Neoliberalismus eine Politik der organisierten Solidarität zu fordern oder mindestens hinzunehmen, bis hin zu Abgaben auf Supervermögen. Vielleicht wird Corona, in der Rückschau, das Ende der vierzigjährigen Ära des Neoliberalismus markieren.
Leider kann, wie wir dank der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen, die politische Organisation einer solidarischen Gesellschaft demokratische oder autoritäre Züge tragen, die Züge Roosevelts oder Mussolinis.  Momentan grinsen uns noch dreist die Mussolini-Nachahmer entgegen, die Trumps, Bolsonaros, Johnsons, Orbans und Erdogans der Welt. Aber die Hoffnung, sie wächst. Möge der Wumms seine erhoffte Wirkung entfalten und Biden im November siegen!
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Corona

9/4/2020

 
Karfreitag, 2020

Wir durchleben einen Epochenwechsel. In einigen Jahren werden wir uns daran gewöhnt haben zu sagen: „vor Corona“. Oder: „seit Corona“. Noch wissen wir nicht, wie unser Alltag und die Welt sich verändert haben werden, wenn „Corona“ endlich hinter uns liegt. Viele hoffen: zum Besseren. Wahrscheinlich ist das leider nicht.
Eine über Monate anhaltende Unsicherheit, begleitet von einer meist substanzlosen, aber umso wirkmächtigeren Angst, gepaart mit oktroyierter Bewegungslosigkeit, wird dafür sorgen, dass sich die Erinnerung an diese Zeit, die „Coronazeit“, in unser Gedächtnis einbrennen wird, ins individuelle wie in das kollektive.
Zu den vielen Verrücktheiten um diese Krise herum gehört, wie geradezu unanständig gut das Wetter ist, jedenfalls hier in Deutschland. Exakt seitdem die Schulen und Kindergärten Mitte Februar zwangsgeschlossen wurden, scheint die Sonne, ist der feuchtgraue Langzeitwinter entschwunden. Der Spagat zwischen Horrormeldungen und meteorologischer Heiterkeit verleitet zu einer Haltung, die an Schlafwandlerei erinnert. Darin vertäubt  sich das kritische Bewusstsein und wir beteiligen uns an Handlungen, die man bei wachem Verstand allenfalls  kopfschüttelnd belächeln würde. Die Kirchen haben sich sogar ihre Gottesdienste verbieten lassen, gar zu Ostern, dem wichtigsten christlichen Fest. Das ist nicht einmal den Römern oder den Nazis gelungen.
Früher wurden Epochenwechsel ausgelöst durch umstürzende klimatische oder technische Veränderungen wie Meteoriteneinschläge oder die Erfindung der Dampfmaschine. Bis neulich waren wir noch kollektiv davon überzeugt, einem Epochenwechsel aufgrund des menschengemachten Klimawandels beizuwohnen. Davon ist jetzt kaum noch die Rede. Der Coronalärm übertönt alles.
Der jetzt sich vollziehende Epochenwandel ist eindeutig menschengemacht. Wo und wie auch immer das neue Corona-Virus, von den dafür zuständigen Experten Sars CoV 2 getauft, entstanden ist und sich verbreitet hat, wissen wir noch nicht und werden es womöglich nie erfahren –, doch dass Menschen dabei ihre Finger oder sonstwas im Spiel hatten, soviel ist sicher.  Dass und wie das Virus sich weltweit verbreiten konnte, ist unserer Art zu wirtschaften und zu reisen zuzuschreiben. Dass sich das vermutete Wissen um diese neue Bedrohung unserer Gesundheit noch schneller verbreitete als das Virus selbst, verdanken wir der weltweiten Vernetzung unserer Informationskanäle.
Einstmals  war es sprichwörtlich, dass es uns hier in Europa nicht erregen und schon gar nicht bewegen müsse, „wenn in China ein Sack Reis umfällt“. Jetzt bewirken Geschäfte mit Fledermäusen auf einem chinesischen Markt  die Aussetzung von Freiheitsrechten in Europa, für deren Geltendmachung unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft haben. Unsere Vorfahren haben sich dabei, das sei nebenbei erwähnt,  oftmals in weit größere Gefahr für Leib und Leben begeben als Menschen, die heute entgegen behördlichen Auflagen Corona-Parties am Flussufer feiern.
„Ausgesetzt“, meist unbefristet, wurden über Nacht und ohne jeden Widerstand, die Versammlungsfreiheit, die Freiheit der Bewegung, die Freiheit der Religionsausübung. Auf dem Kulturleben liegt ein Kissen. Sogar den Fußball ließen wir uns nehmen.
Wie nebenbei  lösten Geschäfte mit Fledermäusen auf einem chinesischen Markt eine Weltwirtschaftskrise aus, von der wir noch nicht wissen, ob sie in ihren Ausmaßen und Langzeitwirkungen eher mit der Kapitalmarktkrise von 2007ff oder der jener von 1929ff zu vergleichen sein wird. „Huch!“ rufen sogenannte Wirtschaftsweise jetzt, die wochenlang gedöst haben müssen.
Es hat Europa zwei Weltkriege und Jahrzehnte geduldigen Verhandelns und des Sichaneinandergewöhnens gekostet, Grenzen zwischen Staaten und Völkern abzuschaffen. Dank Corona wurden sie gleichsam über Nacht wieder hochgezogen.  Auch dagegen war nirgends ein Aufschrei zu hören – obwohl kein auch nur halbwegs ernsthafter Virologe behaupten wird, Viren ließen sich durch Schlagbäume oder Stacheldraht aufhalten. Die neue Grenzziehung orientiert sich, hier im Westen, meist nicht einmal an Verbreitungsräumen des Virus, sondern folgt schlicht der Erinnerung an feudale Traditionen. Selbst Bundesländer grenzen sich wieder voneinander ab.
Politiker tun, was ihnen zu tun erlaubt ist, und behaupten, sie täten, was sie können. Frühzeitig Desinfektionsmittel und Gesichtsmasken bereitstellen, das konnten sie nicht.  
Kein Wunder, dass machtgeile Autokraten wie Orban in Ungarn diese Chance nutzen, Parlamente zur Selbstaufgabe ihrer Beschlussrechte und Kontrollmöglichkeiten zu bewegen und sich zum Durchregieren „ermächtigen“ zu lassen. Auf unbestimmte Zeit. Sogar die an sich harmlos wirkende schwarzgelbe Landesregierung von Nordrhein-Westfalen kam auf die Idee, sich im Interesse der Erhaltung der Volksgesundheit vom Landesparlament zu diktatorischem Handeln ermächtigen zu lassen. Hier hat zum Glück die Demokratie noch funktioniert.
Die wenigsten der in demokratischen Ländern Regierenden verfolgen böse Absichten. Aber ihr Tun ermutigt Machthabende in halbdemokratischen oder ohnehin autokratisch regierten Ländern dazu, lang gehegte Allmachtphantasien Wirklichkeit werden zu lassen.
Später wird man wissen wollen: Was für eine Jahrhundertbedrohung ist das eigentlich gewesen, die Europa aus dem Tritt, Demokratien ins Wanken gebracht, Hunderttausende von Unternehmen in die Pleite getrieben, Staatsverschuldungen und Arbeitslosenzahlen in schwindelerregend neue Höhen getrieben hat?
Es war kein Meteoriteneinschlag, kein Tsunami, kein Krieg, kein plötzlicher Klimawandel. Es war die Verbreitung eines neuen, wenn auch nicht neuartigen Virus, dessen Wirkung unbekannt war. Wie konnte ein Virus, über das man wenig weiß, eine solche Wirkung entfalten?
Wir wissen bis heute nicht, im vierten Monat nach Erscheinen von Sars CoV 2, im Volksmund Corona gerufen, wie rasch sich dieses Virus verbreitet und auf welche Weise genau. Erst jetzt wird damit begonnen, valide Zahlen zu beschaffen, durch repräsentative Studien. Jene Wissenschaftler, die als Experten für die Beurteilung viraler Bedrohungen gelten, Virologen also, geben ihre Wissenslücken offen zu. Was sie allerdings bislang selten davon abhielt, Empfehlungen zum Umgang mit dem Virus auszusprechen und ernst in jede Kamera zu blicken, die ihnen vorgehalten worden ist.
Ihre Empfehlungen variieren stark. Mal hielten Experten einen direkten Atemkontakt zur Übertragung des Virus für notwendig, dann galt es, einen Meter fünfzig Abstand zu anderen zu halten, mal wurde vorm Anfassen von Klinken und Treppengeländern gewarnt, dann hieß es, das Virus überlebe in Trockenheit nicht lange. Ist ein allgemeines Maskentragegebot sinnvoll?  Nichts Genaues weiß man nicht.
Das gleiche gilt für die Gefährlichkeit des Virus. Wie viele Menschen, die sich mit ihm infizieren, erkranken daran schwer? Wie viele sterben daran, statistisch gesehen? Niemand vermag es verlässlich zu sagen, bis heute nicht. Sind es mehr als bei einer schweren Grippe-Pandemie? Sind es mehr oder weniger Menschen, als jährlich infolge langjährigen Tabakgenusses sterben? Niemand weiß das. Und wo niemand Genaues weiß, lässt sich alles vermuten.
Angst grassiert, als ginge die Pest um. Anstelle belastbarer Zahlen werden dem Publikum Bilder leidender Menschen präsentiert, überarbeiteter Ärzte und Pfleger, hastig abtransportierter Leichen. Das kann und soll nur eines tun: Angst auslösen – und Einschaltquoten in die Höhe treiben. Quotenfinanzierte Medien lassen sich das natürlich nicht entgehen und berichten Tag und Nacht atemlos von der Coronafront. Helles Entsetzen verkauft sich immer besser als nüchterne Skepsis.
Leider gibt es kaum noch andere als quotengetriebene Medien. Jedenfalls geben die anderen nicht den Ton an. Zu denken fällt im Trommelwirbel schwer.
Angst ist niemals ein guter Ratgeber gewesen. Angst verleitet Menschen dazu, Anweisungen zu befolgen, die ihnen sonst wurscht wären. Angst macht aus Nachbarn Denunzianten. Angst führt zu schlampig gemachten Gesetzen. Angst lähmt. Angst kann zu Kriegen führen.
Bevor Politiker anfingen, sich von Virologen zu allerlei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen treiben zu lassen, hätte ihnen jemand sagen sollen, dass Grundkenntnisse statistischen Rechnens nicht Teil der regulären Medizinerausbildung sind. Mediziner sind es gewohnt, auf der Basis willkürlich zusammengeführter, oft sehr niedriger und keinesfalls repräsentativer Fallzahlen („n=12“) Vermutungen anzustellen.  So haben die meisten Ärzte ihren Doktortitel erlangt. In der Medizin ersetzt oft und unkritisiert die eminenzbasierte Behauptung evidenzbasiertes Wissen. Wieso sollten Virologen  in der Coronakrise zu seriösen Statistikern mutieren?   
Angesehene wissenschaftliche Einrichtungen wie die US-amerikanische Johns-Hopkins-Universität  setzen Zahlen in die Welt, die Ängste auslösen können, wenn nicht sollen. Es klingt wissenschaftlich, wenn solche Institute verkünden, im Land A sei die Zahl mit Sars CoV 2 Infizierter um X gestiegen, die Zahl der an Covid 19 – der von Sars CoV 2 ausgelösten Infektion – Gestorbenen um Y, im Land B seien XX Menschen neu infiziert und binnen 24 Stunden YY Menschen gestorben. Insbesondere wenn diese Zahlen sichtbar wachsen, von Tag zu Tag, müssen Ängste entstehen.  Und Johns Hopkins ist spätestens jetzt weltweit bekannt.
Dabei ist so gut wie nichts daran wissenschaftlich. Jedenfalls solange man von Wissenschaft erwartet, nur Birnen mit Birnen und Äpfeln mit Äpfeln zu vergleichen. Weder ist die Zahl der Infizierten bekannt, weil man nur die Zahl derer kennt, die auf das Virus  getestet worden sind, noch sind die aus verschiedenen Staaten gemeldeten Zahlen ohne weiteres miteinander vergleichbar, weil die Test-, Mess- und Zählmethoden höchst verschieden sind. Und in den seltensten Fällen ist bekannt, wie viele der Verstorbenen wirklich „an“ Covid 19 gestorben sind. Nach allen vorliegenden Berichten waren die meisten der Verstorbenen mit weiteren Erkrankungen belastet und oft hochbetagt. Jede anderslautende Behauptung beruht auf anekdotischem Wissen: „Ich habe aber gesehen…“, „Der und der war erst 39 Jahre alt…“.
Wer skeptisch nachfragt - und skeptisches Nachfragen sollte in aufgeklärten Gesellschaften doch eigentlich noch immer eine Tugend sein -, macht sich verdächtig, alte und schwache Menschen dem qualvollen Erstickungstod überlassen zu wollen, nur damit er oder sie wieder ins Restaurant gehen und Parties feiern oder demonstrieren gehen kann. Die Bilder nächtlicher Leichentransporte lassen jede kritische Nachfrage verstummen. Über Skeptikern gehen im Netz Shitstorms nieder. Sie werden als Spinner, Verschwörungstheoretiker  oder Schlimmeres verleumdet. Es kostet Mut, dennoch die Stimme zu erheben. Zumal wenn echte Verschwörungstheoretiker sich auf dieselben Quellen berufen.
Schön ist es zu sehen, dass inzwischen eine wachsende Zahl von Menschen diesen Mut aufbringt, trotz alledem und alledem. Doch ihre Stimmen dringen nicht durch.
Um die Coronaerfahrung „reicher“, lässt sich besser begreifen, wie 1914 zuvor mächtige Friedensbewegungen von heute auf morgen verstummen konnten, ja wohl mussten, angesichts einer Flutwelle nationaler Begeisterung, die plötzlich „keine Parteien mehr“ kannte, sondern nur noch äußere Feinde und die sich der Kriegspropaganda begeistert hingab.  In der Coronakrise hat es Wochen gedauert, bis die zaghaften Wortmeldungen zweifelnder Politiker, skeptischer Mathematiker, warnender Ökonomen, besorgter Staatsrechtler nicht mehr als irritierender Seitenlärm halbverrückter Außenseiter abgetan, sondern ernstgenommen worden sind.
Immerhin ist es jetzt so weit.
Jetzt trommeln Landesregierungen interdisziplinär besetze Expertenräte  zusammen. Die sogenannten Wirtschaftsweisen durften der Bundesregierung ein Gutachten vorlegen, demzufolge die coronabedingten politischen Entscheidungen der letzten Wochen bereits  eine Rezession ausgelöst haben. Nun könne nur noch beeinflusst werden, wie schwer und anhaltend diese Rezession ausfallen wird. Statistiker melden sich zu Wort und pochen auf repräsentative Erhebungen. Der Deutsche Ethikrat mahnt die Verhältnismäßigkeit aller staatlichen Reaktionen und Anordnungen an.
Verhältnismäßigkeit sollte das Wort des Jahres werden.
Doch das Kind liegt, leider passt das gequälte Bild, im Brunnen.
Immerhin atmet es noch,  auch dank beispiellos schnell auf den Weg gebrachter Hilfsprogramme für Selbstständige und Unternehmen. Diese Programme werden allerdings verpuffen und das Kind ertrinken, wenn der Stillstand weiter anhält. Das jetzt dem Staat entgegengebrachte Vertrauen wird zerbröseln, wenn die Staatsschulden explodieren und Insolvenzen massenhaft Realität werden. Genau das wird unvermeidbar sein, wenn Demokratien nicht erneut dem Beispiel Chinas folgen.
Die chinesische Regierung hat die Epidemie zunächst geleugnet und verharmlost, dann rigoros jene Provinzen und Städte abgeriegelt, in denen sich Sars CoV 2 zuerst verbreitet hat. Betriebe und Schulen wurden geschlossen, Zusammenkünfte verboten. Damals hieß es auf unserer Seite des Globus: So etwas ist nur in Diktaturen möglich. In Europa wäre das nicht vorstellbar. Nur wenige Wochen später folgte Italien dem chinesischen Beispiel. Da hieß es nördlich der Alpen noch: ja, ja, die Italiener… Bald darauf überboten sich deutsche Provinzpolitiker im Verhängen von Strafgeldern. Mecklenburg-Vorpommern verbot, bis ein Gericht der Regierung Einhalt gebot, Strandspaziergänge. In Berlin soll man nicht auf Parkbänken sitzen, an der Ahr zu Ostern nicht durch Weinberge wandern. Das alles, obwohl kein ernsthafter Virologe zu solchen Maßnahmen rät. Ein Bonner Behördenchef hat Bürger dazu aufgerufen, Nachbarn zu denunzieren, die sich nicht an behördliche Anweisungen halten. Leserbriefschreiber, die sich an Blockwart-Zeiten erinnert fühlten, bekamen den Zorn besorgter Mitbürger zu spüren, denen der Eifer des Staates, Saboteure der Volksgesundheit aufzuspüren, noch nicht weit genug geht.
Die chinesischen Machthaber hingegen haben sich inzwischen zu Siegern im Kampf gegen das Coronavirus erklärt und bemühen sich, die Wirtschaft wieder hochzufahren. Niemand infiziere sich mehr, es sei denn, er habe das Virus aus dem Ausland eingeschleppt, und niemand sterbe mehr daran, verbreitet die Staatspropaganda.  Auch wenn den chinesischen Machthabern das außerhalb Chinas kein denkender Mensch glaubt: im Land selbst haben sie Widerspruch nicht zu befürchten, und im Ausland ist nicht jeder zu denken willens oder imstande.
Konsequenterweise sollte auch jetzt der Westen dem chinesischen Beispiel folgen. Diesmal würde es sich lohnen. Doch diesmal werden sich die Demokratien des Westens schwerer damit tun. Denn noch gibt es hier ja auf der einen Seite eine freie, wenn auch durchboulevardisierte Presse, die sich die Freude an der Angst so schnell nicht nehmen lassen wird, auf der anderen eine gerade erstarkende kritische Öffentlichkeit samt Wissenschaftlern, die sich den Mund und die Veröffentlichung von Zahlen nicht verbieten lassen. China folgend müsste die deutsche Bundesregierung bald nach Ostern die Krise für beendet und gemeistert erklären und Schulen, Restaurants, Theater und Kirchen wieder in die Freiheit entlassen. Doch den Gesetzen der Mathematik zufolge werden die Zahlen an Covid 19 Gestorbener just dann, wenn dies geschehen müsste, so hoch sein wie nie zuvor: weil die Zahl der Infizierten ja immer noch steigt und es einige Wochen dauert, bis ein Promille- oder Prozentsatz davon sterben wird.
Kaum vorstellbar, dass unsere Regierenden den Mut haben, der angstmachenden Kraft der Bilder zu trotzen und der Wirtschaft wieder Luft zum Atmen zu geben. Sie müssten sich der Empörung klickgetriebener Medien entgegenstemmen können. Von Fähnlein-im-Wind-Demokraten à la Söder ist das nicht zu erwarten. Von Angela Merkel wohl leider auch nicht.
Dann wird die Stunde der Systemkritiker schlagen. Und es ist zu befürchten, dass dann wieder einmal nicht die  besonnenen Stimmen der Aufklärung den meisten Widerhall finden werden, sondern die längst aktivierten Propagandisten des Autoritarismus. Der Faschismus 2.0 wird ziviler daherkommen als sein historischer Vorläufer, mehr Singapur als Mussolini-Italien, aber nicht weniger brutal sein.
Hoffentlich behalte ich nicht Recht.        

April 02nd, 2019

2/4/2019

 
Wie machen wir den Journalismus besser?“ fragt der „journalist“. So nützlich und ehrenwert diese Frage ist und immer war, die wirklich relevante lautet anders, nämlich: Wo finden wir bessere Verleger?

Dass der Journalismus anders werden müsse, höre ich, seitdem ich Journalist bin, also seit einigen Jahrzehnten. Oft genug habe ich das sogar selbst nachgebrabbelt, auf irgendwelchen Podien zur „Krise des Journalismus“ oder dem „Journalismus X.0“. Unschuldig bin ich also nicht. Auch ich habe  manchen Unsinn mitgemacht, vor allem in jenen frühen Lebensjahren, in denen man schon aus biologischen Gründen der Auffassung zuneigt, „jünger“ sei ein Synonym für „besser“.
Zum Beispiel habe ich daran mitgewirkt, Politik „unterhaltsamer“ darzustellen, was eine Variante der von Florian Harms zu Recht kritisierten „Featuritis“ ist.
Politik ist selten unterhaltsam. Wer dem leicht abzulenkenden Publikum Politik schmackhaft zu machen versucht, indem er das zähe, redundante, zeitfressende Geschiebe und Geschachere in und zwischen Fraktionen und Parteien als dramatischen Dreiakter inszeniert, also personalisiert, boulevardisiert und skandalisiert, oder, ebenso beliebt, als Dauerwettkampf analog zu Pferderennen oder Fußballspielen verkauft  – Wer gewinnt, wer steigt ab? – , der leistet einen Beitrag zur Entfremdung zwischen Souverän und Politikbetrieb, ergo zur anderen, noch größeren Krise unserer Zeit, jener der Demokratie. Asche auf mein Haupt. Aber man kann ja lernen und Fehler jedenfalls nicht wiederholen.
Der famose Hans Leyendecker sagt,  selten zuvor habe es  so viel schlechten Journalismus gegeben, der „nur an der Oberfläche kratzt und das Geschäft um jeden Preis wittert“ als heute. Aber eben auch selten so viel guten. Genau. Deshalb erleben wir soeben eine Krise des Journalismus allenfalls in dem Sinn, dass sich die Ernsthaften in der Branche selber prüfen und manchmal kasteien wie nie zuvor. Es dampft und zischt und brodelt in der Ideenküche des Journalismus von morgen. Dass die edleren der dabei schließlich gewonnenen Destillate verblüffend jenen gleichen, die sich immer schon bewährt haben, kann nur Neulinge überraschen:
Meinung und Kommentar müssen unterscheidbar sein. Fakten müssen stimmen. Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Richtig zitieren. Namen korrekt wiedergeben. Nah dran sein, aber Distanz wahren.  Immer an den Leser denken. Das Wichtigste zuerst. Redundanzen vermeiden. Nicht einschüchtern lassen. Und so weiter. Nicht zuletzt: Haltung bewahren! Früher hat man solche Grundregeln  spätestens im Volontariat gelernt, am schnellsten und härtesten in einer Lokalredaktion, und vielleicht sogar auf Journalistenschulen.
Wie konnte es dazu kommen, dass heute an solche Regeln wieder erinnert werden muss? Die Antwort ist gar nicht kompliziert: Wir - damit fasse ich, was ungerecht und verallgemeinernd ist, ich weiß, alle zusammen, die in den letzten rund zwei Jahrzehnten in Redaktionen Leitungsfunktionen ausübten - wir also haben uns treiben lassen von Managern, die Verantwortung für Auflagenrückgänge, Reichweitenverluste, nachlassende Eigenkapitalrenditen höchst selten  bei sich selbst geortet haben, aber stets bei Journalisten.
Ich schreibe bewusst: Manager. Nicht: Verleger. Denn Verleger sind Menschen, die Wege suchen, mit möglichst gutem Journalismus Geld zu verdienen. Solche Menschen gibt es auch heute noch. Aber sie sind selten geworden. Weit zahlreicher sind Manager, die Kosten reduzieren und „Synergieeffekte heben“.  Nicht, weil sie zwingend schlechte Menschen sind, sondern erstens, weil sie auf ihrer Business School  nichts anderes gelernt haben,  sowie zweitens und vor allem, weil das ihr Auftrag ist. Liefern sie nicht, fliegen sie - allerdings, anders als Redakteure und andere Angestellte  -  nicht in die Freiheit der Einkommenslosigkeit, sondern oft gleich weiter in die nächste Chefetage. Um für eine Weile dort Synergien zu heben und Kosten zu minimieren.
Ich vermute, es war zu Beginn dieses Jahrhunderts, nach dem Platzen der ersten Internet-Blase („Neuer Markt“, haha) und vor der Lehmann-Pleite - der Zeitpunkt dürfte sich nicht exakt bestimmen lassen -, aber irgendwann in dieser Zeit ist  die Mehrheit in der deutschen Zeitungsverlegerschaft gekippt. Anstelle von Eigentümern, die gleichzeitig oft Herausgeber waren und das Zeitungmachen „von der Pike auf“ gelernt hatten, übernahmen bezahlte Manager. In Stellung gebracht wurden sie von einer sich rasch vervielfältigenden Zahl von Erben und sonstigen, oft anonym bleibenden Verlags-Miteigentümern.
In den Gesellschafterversammlungen, dort also, wo über die Einstellung solcher Manager beraten wird, saßen nun immer häufiger Anwälte – weil viele Erben keine Lust hatten, sich mit dem Kleinklein des Geschäfts zu befassen, das ihre Apanagen generiert. Ihre Anwälte sorgen seither dafür, dass sich Manager finden - und manchmal auch Chefredakteure -, die besorgen, was die Apanagen-Bezieher erwarten: steigende, aber mindestens gleichbleibende Gewinn-Ausschüttungen. Diese Erwartung wird dann zum Maß aller Dinge.
In einem Markt, dessen Schrumpfen hingenommen wird, lassen sich Renditeerwartungen nur halten, wenn Kosten gesenkt werden.  Ob mit oder ohne Argumentationshilfe eingeflogener Rechenexperten laufen die flugs entwickelten Programme auf das immer gleiche hinaus: Zusammenlegung von Redaktionen, Outsourcen redaktioneller und anderer Leistungen, Lohndrückerei, Schließungen von Betriebsteilen. Gern verbunden mit der Behauptung, all dies diene letztlich der „Qualitätssteigerung“. An dieser zynischen Lüge dürfen sich dann Gewerkschaften und Medienjournalisten abarbeiten.
Donald Trump hat die „fake news“ nicht erfunden.
Vielleicht begann der verlegerisch ausgelöste Niedergang des Journalismus mit dem Verzicht auf eigene Lokal-Fotografen. Sicher, der technische Wandel machte Dunkelkammern überflüssig, nicht aber die Präsenz der Redaktion vor Ort, dort, wo sich Vereine versammeln, Kinder Abzeichen gewinnen, Chöre singen, Initiativen protestieren. Der örtliche Fotograf war einst in seiner Gemeinde so bekannt wie der sprichwörtliche „bunte Hund“. Er verkörperte oft im Alleingang „die Zeitung“ und nahm nicht selten wertvolle Tipps und Hinweise auf. 
Fotografen, die von Termin zu Termin hasten, jeweils nur ein paar Mal „Klick“ machen und oft gleich mehrere Redaktionen beliefern, stellen eines ganz sicher nicht her: eine Beziehung zwischen Leser und Redaktion. Diese Beziehung aber ist die Grundlage jedes Zeitungsgeschäfts. Je enger sie ist, je fester, desto belastbarer ist die Loyalität des Lesers gegenüber „seiner“ Zeitung, in seiner Eigenschaft als Käufer oder Abonnent. Je schwächer die Bindung wird, umso leichter fällt die Kündigung.
Übrigens tragen auch Zeitungsbotinnen und -boten nicht wenig zum Aufbau und Erhalt dieser Beziehung bei, durch Pünktlichkeit und Präsenz. Wo Botenwege „optimiert“ werden, also Boten wechseln, steigen die Kündigungszahlen. Bevor der Manager, der dieses Wege-Optimierungsprogramm umgesetzt hat, für seinen Fehler belangt werden kann, hat er Kosten gesenkt und ist, von diesen Meriten beflügelt, zur nächsten, vermutlich höher dotierten Stelle entschwebt. 
Ein ebenso naheliegender Vorschlag, Kosten zu senken, sieht die Zusammenlegung von Redaktionen vor. Das ist immer eine gewagte Idee, weil funktionierende Redaktionen eine gemeinsame Identität entwickeln, eine Art Kollektivpersönlichkeit. Diese Persönlichkeit kann der Leser mögen oder auch nicht, vielleicht reibt er sich an ihr, egal: Er nimmt sie wahr und ernst. Verliert sich die Identität einer Redaktion im Ungefähren, im Ungreifbaren, verliert der Leser einen wenn auch zuvor nur imaginierten Halt. Und der verantwortliche Verlag verliert seinen Leser.
Nichts erschüttert  die Beziehung zwischen Leser und Blatt so sehr wie der Abzug der Redaktion aus dem eigenen Ort. Das ist, als ziehe ein Ehepartner aus der gemeinsamen Wohnung aus. Damit hat sich die Ehe erledigt. Die Auflagenverluste nach Abzug einer Redaktion von „vor Ort“ kommen schnell und sind nachhaltig. Besonders schlaue Verlagsmanager „preisen“ sie von vornherein „ein“ – und erfreuen sich womöglich noch an den damit einhergehenden Einsparungen beim bedruckten Papier.  
In Mantelredaktionen wiederum traten „Newsrooms“  an die Stelle von Ressorts. Oft ging dem ein „Benchmarking“ voraus. Beraterfirmen verglichen die „outputs“ von Redakteuren und stellten fest, dass der Jazz-Experte aus dem Feuilleton an manchen Tagen nicht eine Zeile schrieb. In diesen offenbar unproduktiven Phasen müsste der faule Kollege doch prächtig anderswo einsetzbar sein, vielleicht beim Umformulieren irgendwelcher Agenturmeldungen – jedenfalls solange diese anscheinend rein mechanische Tätigkeit noch nicht von Algorithmus-gesteuerten Computern übernommen werden kann.
Dass das Ansehen eines Mediums nicht auf output beruht, sondern auf Kompetenz, Verlässlichkeit und daraus resultierendem Vertrauen, und dass solches Vertrauen verdient und erarbeitet werden muss, etwa indem ein für Sozialpolitik zuständiger Redakteur auch dann an - schon vom Begriff her sperrigen - Jugendwohlfahrtssausschusssitzungen teilnimmt, wenn es auf den ersten Blick wenig darüber zu berichten gibt, wird auf Business-Schulen  nicht gelehrt. 
Wo redaktionelle Inhalte zu „Content“ abgewertet werden, spielt es keine Rolle mehr, wer welche Flüssigkeit in welche Flasche füllt. Jedenfalls stellen sich das Contentabfüllexperten so vor - die übrigens meiner Beobachtung nach selten Zeitung lesen, oder jedenfalls nicht die, für die sie erbsenzählend tätig sind. Lohnt sich ja nicht, steht „nichts“ drin, jedenfalls nichts, was nicht TV und Netz schneller liefern können.
Mehr „Service“ müsse die Zeitung bieten, raunen solche Experten auch gern. Sie meinen damit nicht die Selbstverständlichkeit, sich nützlich zu machen, durch Terminübersichten, Konzerttipps oder Wetterbericht, sondern das  vermehrte Einhängen von Service-Seiten in die Zeitung. Die Produktion solcher Seiten kann im nächsten Schritt Fremdanbietern überlassen werden. Welche Arbeitsbedingungen dort herrschen und ob die Richtlinien des Presserats zur Trennung von Anzeigen und redaktionellen Inhalten beachtet werden, interessiert dann nicht mehr.
Benchmarking und Serviceorientierung werden gelegentlich mit Erkenntnissen ausgeklügelter Leserausforschung begründet. Zum Beispiel, dass kaum ein noch so treuer Leser  die Zeitung von vorne bis hinten durchliest (obwohl: solche Leser gibt es auch). Ergo müssten sich doch viele Seiten, sprich Papier und Stellen, einsparen lassen.
Falsch. Jeder treue Leser hat mindestens einen ganz persönlichen Grund für seine Treue. Und meist einen ganz anderen als der treue Leser nebenan. Das kann die Vereinsnähe der Sportredaktion sein, die Jazz-Kennerschaft des  Musikredakteurs, die politische Haltung der Leitartikler, die Fülle des Lokalteils, vielleicht auch nur der Comic oder der Fortsetzungsroman oder die Erinnerung an ein gemeinsames Bier mit dem Lokalchef  - in jedem einzelnen Fall liegt der Beziehung zwischen Blatt und Leser eine Beziehung zwischen Menschen zugrunde: der eine tut etwas, und zwar beständig, was der andere schätzt, selbst wenn er es nicht täglich goutiert.
Die Qualität und Stärke einer Zeitung resultiert aus der Summe ihrer vielen Komponenten, bei Erkennbarkeit einer Linie.
Manch ein Abonnent einer Zeitung schmückt sich mit ihr vielleicht nur. Vielleicht legt er sie im Wartezimmer aus, trägt sie beim Brötchenkaufen unterm Arm. Damit andere erkennen: Ah, dieser Leser hat Ahnung - oder ist zumindest von hier. Auch wenn er zum Lesen selten die Zeit findet: er bleibt ein treuer Kunde.
Wer diese Beziehung schwächt oder gar kappt, sägt am Ast, auf dem die Branche sitzt. Das ist in den letzten Jahren fleißig geschehen.
Heute Verleger zu sein hieße, unter den Bedingungen des Internetzeitalters auf journalistischen Leistungen ein lukratives Geschäftsmodell zu begründen. Das sollte eigentlich nicht schwieriger sein, als im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen der Industrialisierung auf journalistischen Leistungen ein lukratives Geschäftsmodell zu begründen.
Allerdings setzte das damals und setzt das heute Pioniergeist voraus, Mut, Visionen, langen Atem – und die auf Kenntnis beruhende Wertschätzung journalistischer Arbeit.
Wer weiß, vielleicht finden sich ja solche Verleger demnächst. Dann wäre die „Krise des Journalismus“ gemeistert, einstweilen.

journalist-magazin 2. April 2019

Boykottiert facebook! Endlich!

7/2/2019

 
Im Januar 2015 ist folgender, für die Ruhrbarone geschriebene Text NICHT erschienen. Die Redaktion lehnte eine Veröffentlichung ab. Da er seither nicht an Aktualität und Richtigkeit verloren hat, erblickt er nun hier das trübe Licht des Internets:

Boykottiert facebook! Hört auf, nützliche Idioten zu sein!
 
 Facebook hat sich selbst ermächtigt, Jede und Jeden jederzeit überall zu kontrollieren. Nationale Parlamente sehen ohnmächtig zu. Ist also Widerstand unmöglich? Nein. Widerstand kann jede(r) leisten. Wir sollten damit beginnen, ab sofort keine kostenlose Werbung mehr für facebook zu betreiben.
 
Kaum eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die nicht für facebook wirbt. Tausende deutscher Unternehmen verweisen Kunden auf ihren facebook-Auftritt. Vereine, Verbände, Parteien, private Medien tun das Gleiche. Sie alle betreiben das Geschäft einer unkontrollierten und bislang unkontrollierbaren Datenkrake. Willig und unbezahlt. Sie verhalten sich wie nützliche Idioten.
 
Das wäre nicht schlimm, vielleicht sogar gut, diente facebook uns allen. Wäre facebook eine Einrichtung der Vereinten Nationen oder so etwas wie eine globale ARD: öffentlich-rechtlich Allen gehörend. Die ganze Welt umspannend, nicht nur Menschen, sondern auch Völker verbindend.
 
Das ist facebook aber nicht. Auch wenn es sich schönfärberisch „soziales Netzwerk“ nennt und uns alle anbiedernd duzt - es ist in Wahrheit ein schnödes gewinnorientiertes Unternehmen, dessen Manager nichts und niemandem gegenüber verantwortlich sind außer ihren Bossen: den Eigentümern. Ihre einzige Handlungsmaxime ist folgerichtig „shareholder value“, Neusprech für Profit.
 
Daran ist nichts Böses. Unternehmen müssen gewinnorientiert sein, wenn sie überleben wollen. Die facebook-Gründer waren clever und smart und verdienen dafür nicht nur Geld, sondern auch Applaus. Das befähigt sie aber nicht, demokratisch gewählte Regierungen zu ersetzen. Nichts und niemand legitimiert facebooks Zugriff auf Gedächtnis und Bewusstsein der Menschheit.
 
Demokratische Gesellschaften und ihre Parlamente debattieren erregt über Sinn und Unsinn, Chancen und Risiken der Vorratsdatenspeicherung. Sie machen sich lächerlich im Angesicht von facebook. Mittels einer schlichten eigenmächtigen Änderung „Allgemeiner Geschäftsbedingungen“ entmächtigt facebook Parlamente und Gesellschaften und ermächtigt sich selber.
 
Manager von Internetgiganten erheben nicht den Anspruch, die Welt zu unterwerfen. Sie sind keine Hitlers, nicht einmal Mussolinis. Aber sie werden, was sie haben, an jeden verhökern, der ihnen genug Geld dafür bietet. Fakt ist: sie tun das längst. Sie verhökern Daten, sie sie sich erschlichen oder geschenkt bekommen haben, nicht nur an andere profitorientierte Unternehmen, sondern auch an Geheimdienste - was wir nur dank Edward Snowden wissen. Oder sie wehren sich zumindest nicht, wenn diese Dienste sich bei ihnen hemmungslos bedienen.
 
Spione, Kontrollfreaks und Diktatoren jeder Couleur wagen in ihren feuchtesten Träumen nicht zu erhoffen, was ihnen Unternehmen wie facebook und google auf dem Silbertablett zum freien Zugriff servieren: die Chance, Jede und Jeden überall und jederzeit zu überwachen. Jede und Jeden überall und jederzeit zu finden. Und zu ergreifen.
 
Wem das nicht Angst macht, ist kein Demokrat oder hemmungslos naiv.
 
Das Gute ist: noch sind die Kraken zu stoppen. Noch haben es demokratisch legitimierte Regierungen in der Hand, europäische, besser globale Datenschutzregeln zu erdenken, zu schaffen und durchzusetzen. Noch können Einzelne wie Edward Snowden Zivilcourage zeigen und sich dem Zugriff ihrer Häscher entziehen.
 
Es geht auch bescheidener. Noch können Aufrufe wie dieser erscheinen und sich verbreiten. Man muss kein Held sein, um sich schlichtweg zu weigern, facebook in die Hände zu spielen.
 
Doch, ihr lieben Jüngeren, es gibt ein Leben ohne facebook. Noch. Man muss dafür noch nicht einmal aufs Internet verzichten.
 
Und ihr Verantwortlichen in Unternehmen, Verbänden, Parteien, Gewerkschaften und Redaktionen: Ihr müsst Euch nicht für facebook prostituieren. Hört schlichtweg damit auf, kostenlos für die Krake zu werben! Doch, es geht, ganz leicht sogar. Ihr müsst nur einmal „Schnipp!“ machen und Eure Websites von einem kleinen, bläulichen Quadrat befreien. Das, was ihr tut, wird dadurch nicht ein kleines bisschen wertloser.
 
Nur Mut!

Was wollen wir feiern?

14/5/2018

 
Neue Feiertage braucht das Land
 
Warum gibt es Feiertage? Aus zwei Gründen. Erstens, weil es gut tut, von Zeit zu Zeit „auf andere Gedanken zu kommen“, als es die alltäglichen sind. Und zweitens, aus Sicht derer, die sie verkünden und gewähren: Feiertage  stiften oder bekräftigen Identität. Doch welche Identität wollen wir an Feiertagen feiern? Wir, die Bürger einer offenen, demokratischen, friedlichen,  Gesellschaft? Ganz einfach: Die Freiheit sollten wir feiern, die Freiheit des Denkens und Reisens und Handelns. Und die Demokratie sollten wir pflegen - indem wir sie ehren, und auch den Frieden - und deshalb Europa.

Doch mit den Feiertagen, die wir haben, kann das nicht gelingen. Neue Feiertage braucht das Land!

Feiertage geben dem Jahreslauf einen Rhythmus. Sie erinnern an Erzählungen. An Erzählungen, deren Präsenz wir uns kaum entziehen können. Denn auch, wenn wir sie nicht mehr hören wollen und ihr Sinn uns schleierhaft erscheint, achten wir doch ihre Bedeutung – schon indem wir den Feiertag als freien Tag genießen, als freie Zeit, die wir vergeuden dürfen, wie es uns gefällt. Feiertage sind ein Geschenk an uns selbst.

Jedenfalls gilt das für Republiken. In anderen Staats- und Gesellschaftsformen dürfen sich die Untertanen bei der Obrigkeit bedanken, wenn die ihnen die Gunst eines Feiertags gewährt, etwa zu Kaisers Geburtstag. Sie tut das niemals uneigennützig.

Diese Obrigkeit war im „christlichen Abendland“ seit Menschengedenken die Kirche, lange Zeit nur die katholische, nachdem sie ihr Verkündungsmonopol gegenüber allen als Herätikern und Ketzern abgetanen Konkurrenten durchgesetzt hatte. Seit 500 Jahren sind es, in Deutschland jedenfalls, die beiden großen christlichen Kirchen. Sie nutzten und nutzen den im Kalender abgebildeten Lauf des Jahres zur Dauer-Erzählung der stilisierten Lebensgeschichte Jesu -  und damit zugleich oder vor allem zur Legitimierung ihrer eigenen Existenz, Bedeutung und Macht. Die, kein Wunder, im gleichen Maß schwindet wie die Begeisterung für diese Erzählung verblasst.

Diese Erzählung - denglisch: dieses Narrativ - lässt das christliche Jahr beginnen mit der Feier von Marias angeblich unbefleckter Empfängnis (am 8. Dezember), der darauf erstaunlich rasch folgenden Geburt des Christuskindes (24. Dezember ff) und dem ebenso überraschend zügigen Eintreffen der Heiligen Drei Könige (6. Januar). Im März/April folgen Christi Kreuzigung (Karfreitag), seine rasche Wieder-Auferstehung (Ostern), seine (erneute?) Himmelfahrt und das ersatzweise Erscheinen des Heiligen Geistes (Pfingsten).
Damit der Rest des Jahres nicht frei von Besinnung auf die frohe Botschaft und die strengen Regeln der Kirche bleibt, folgen Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen und der Buß- und Bettag, mindestens. 2017 ist es den Lutheranern gelungen, im Kanon der staatlich sanktionierten Feiertage am 31. Oktober noch den Reformationstag dazwischenzuschieben.
Dieser Festkalender erinnert uns daran, dass die Macht der Kirche hierzulande jahrhundertelang - eben „seit Menschengedenken“ - alle Lebensbereiche prägte und durchdrang, vom Privatesten wie Partnerwahl und Erziehung bis zur Wahl und Krönung von Königen und Kaisern. Hinter uns gelassen haben wir dieses Joch der fürsorglichen Bevormundung erst dank Aufklärung, Revolution und Säkularisation.
Die Säkularisation bedeutete eine gewaltige Umverteilung von Eigentum und Macht und zugleich die  Trennung von Staat und Kirche. Doch sie ist in Deutschland unvollständig geblieben. Davon zeugen kirchlich beglaubigte Ehen, Kirchensteuer, Konkordate – und fast alle Feiertage.

Gut, einige Feiertage haben sich im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche in den Kalender einschleichen können: der Tag der Arbeit am 1. Mai und der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, auch der Volkstrauertag. Neujahr kann man sehen als ein Relikt vorchristlicher Zeiten, Zeiten, in denen sich der Rhythmus des Kalenders noch an den der Natur anlehnte.

Identität wird nicht angeboren.

Identität entsteht durch das Hineinwachsen in Traditionen, in Familien, Völker, Firmen und Vereine.  Dabei spielen neben Sprache und Kleidung auch Rituale eine große Rolle, wie das gemeinsame Singen vertrauter Lieder oder das Feiern von Festen. Indem wir so reden, uns so kleiden, uns so ernähren wie die Menschen um uns herum, mit ihnen gemeinsam, fügen wir unser Ich in ein Wir. Feiertage bieten die Gelegenheit, dies bewusster und konsequenter zu tun, als es im grauen Alltag möglich ist.

Feiertage können also nicht nur dem Weitererzählen alter, vertrauter Geschichten dienen, sie stiften Identität in Gemeinschaft, sie dienen, gerade auch indem sie das Eigene abgrenzen vom Anderen,  der mal bewussten, mal stillschweigenden Herstellung von Übereinkunft, von Gemeinsamkeit, von einer Gewissheit der Geborgenheit des Ichs im Wir.

Genau daran fehlt es unserer Republik. Allerorten wird das Auseinandergefallensein der Gesellschaft beklagt, nicht nur in Deutschland, aber eben auch hier, die sinkende Beteiligung an Wahlen, das mangelnde Engagement in Parteien, Gemeinderäten, Parlamenten. Wann haben die Menschen das Vertrauen in die Demokratie verloren, fragen Leitartikler und Buchautoren. Mit Blick auf Teile der einstigen Deutschen „Demokratischen“ „Republik“ konstatieren kluge Beobachter von Westen her, allzu viele Menschen dort hätten nie gelernt, geschweige denn begriffen, was Demokratie bedeutet: Gewaltenteilung, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, friedlicher Interessenausgleich, die mühsame Suche nach Kompromissen, eigenes Engagement. Wurde an DDR-Schulen darüber gesprochen, welch ungeheuerlichen Bruch mit jahrhundealten Gewohnheiten und Machtverhältnissen die Ausrufung allgemeiner Menschenrechte bedeutet hat? Nein, natürlich nicht; es hätten ja kritische Fragen zur DDR-Realität oder gar zu Lenins und Stalins Massenmorden gestellt werden können. Aber: Wird an sächsischen Schulen heute darüber gesprochen?

Wenn wahr ist, dass es nicht reicht, Gutes zu tun, man müsse darüber auch  reden, ist nicht weniger wahr, dass es nicht reicht, eine Republik auszurufen, eine Verfassung zu verabschieden, Institutionen zu gründen und alle paar Jahre Wahlurnen aufzustellen, um sicherzustellen, dass die Güte, die Kostbarkeit, die Verletzlichkeit einer Demokratie auch von denen, die sie mit Leben erfüllen müssen, weil sie sonst erstürbe, allgemein und dauerhaft geschätzt wird.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich selbst so ernst nehmen, dass sie sich, ihr Wesen, ihre Geschichte, ihre Vorgeschichte, ihren Wert ihren Anteilseignern, ergo: Bürgern immer wieder bewusst macht. Sie kann dafür nur - und sollte es dann auch - die Mittel nutzen, die sie hat: Schulen, Hochschulen, Straßen und Plätze, Feiertage. Noch immer rufen zu viele deutsche Straßen die Erinnerung an Schlachten und Generäle wach, viele zu wenige die an mutige Demokraten wie Robert Blum, Otto Wels, Walther Rathenau oder Elisabeth Selbert.

Und warum nicht von der Kirche lernen?

Mit dem Blick darauf, wie es ihr gelungen ist, ihre Erzählung zur „abendländischen“ zu machen, mindestens wolkig präsent selbst in atheistischen Hirnen?

Ähnlich, wie die katholische Kirche ihre Märtyrer als Heilige verehrt, so sollte unsere Republik jene Demokraten ehren und immer wieder in Erinnerung bringen, die sie erst möglich werden ließen, diese Republik. Viele von ihnen haben, Märtyrer der Demokratie, ihr Leben dafür gegeben, dass wir heute wählen gehen dürfen, immer mal wieder. Schenken wir ihnen dafür, als Garant des Nichtvergessens, Tage im Kalender, jedem und jeder einen eigenen!

Gelegentlich wird darüber debattiert, den christlichen Feiertagen auch noch islamische zuzugesellen, dann konsequenterweise auch jüdische, irgendwann wohl hinduistische. Schon im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen. Nein! Richtiger ist es, auch im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen, die Feiertage zu säkularisieren, alle.

Niemand soll daran gehindert sein, Mariä Himmelfahrt, Pfingsten, den Ramadan oder das Pessachfest zu feiern.  Aber: privat. So, wie es sich in einer säkularen Gesellschaft geziemt.

Allgemeine, gesetzliche Feiertage sollten wir, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, dazu nutzen, die Geschichte der Demokratie, unserer Demokratie zu erzählen, uns ihres Wesens und ihres Wertes zu vergewissern, rituell, immer wieder, auf dass die Erinnerung eine kollektive werde. Anlässe dafür gibt es genug, das ganze Jahr hindurch und alle Jahre wieder:

Der 19. Januar könnte der Tag des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sein. Am 19. Januar 1919 haben erstmals auch die Frauen in Deutschland wählen dürfen.

Am 6. März 1525 waren süddeutsche Bauern  so mutig, auf dem Marktplatz von Memmingen in zwölf Artikeln die Grundsätze einer Gesellschaft vor Gott und dem Gesetz gleicher Menschen zu beschreiben und einzufordern. „Ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen“, fragten sie und wollten künftig ihren Pfarrer selbst erwählen. Bestaunt und vieltausendfach gedruckt und kopiert wurden diese zwölf Artikel, anderswo um weitere ergänzt. Brutalstmöglich niedergeschlagen wurde der Aufstand der Bauern, auf dass sich nie wieder jemand traue, den eigenen Kopf zu erheben und das angebliche Gottesgnadentum der Mächtigen in Frage zu stellen. Der obrigkeitsstaatliche Terror tat seine Wirkung, doch die Idee verbriefter Menschen- und Freiheitsrechte ist seither in der deutschsprachigen Welt. Wie wäre es mit einem Feiertag der Eidgenossenschaft am 6. März?

Bald danach könnten wir uns der Menschen erinnern, vor denen sich Preußens König verbeugte, am 18. März 1848, nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, aber immerhin. Bürger Berlins, reichere und ärmere, forderten an diesem Tag die Schaffung einer deutschen Republik. Es waren so viele, dass des Königs Soldaten ihrer nicht mehr Herr werden konnten, trotz Waffengebrauchs, jedenfalls nicht sofort. Sie glimmt damals auf, die Idee der Republik, der Demokratie.

Den Tag der Arbeit am 1. Mai sollten wir beibehalten. Er wurde geschaffen, nicht damit ein kleiner, frierend zusammenrückender Haufen von Gewerkschaftsfunktionären die Legitimität aktueller Tarifforderungen floskelhaft aufs Neue beschwört, sondern um einfordernd zu bekunden, dass Menschen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, ihr Talent und ihre Tüchtigkeit, die gleichen Rechte haben wie Junker oder, sagen wir, Hedge Fonds Manager und reiche Erben.

Der 23. Mai müsste längst ein Feiertag sein, mit einer Bedeutung für uns Deutsche und alle, die es werden oder werden wollen, mindestens, wie der Vierte Tag des Juli eine Bedeutung hat für die USA  oder der 14. Juli für die Franzosen. Er ist der Tag des Grundgesetzes. Allein schon dessen erster Satz ist es wert, von jedem Deutschen, sobald er oder sie sprechen kann, rezitiert werden zu können, selbst im Schlafe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Am 23. Mai 1949 wurde es „erlassen“, das Grundgesetz, am 24. Tag darauf trat es in Kraft, das ideelle Fundament der bisher mit großem Abstand besten und festesten staatlichen Ordnung in der Weltgegend, die wir heute Deutschland nennen.  

Wir könnten dann gleich durchfeiern bis zum 27. Denn der 27. Mai gäbe einen schönen Tag der Pressefreiheit ab. Zum Thema Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ließe sich in geselliger Runde viel erzählen und bedauern und leider jedes Jahr Neues, zunächst aber ließe sich erinnernd feiern, nämlich wie 1832, als Fest getarnt, eine Ruine in der Pfalz zum Schauplatz der ersten Massendemonstration auf deutschem Boden wurde, zu einer Demonstration gegen die Zensur, also für die freie Presse und dann folgerichtig gleich für freie Gesellschaften gleicher Bürger in allen deutschen Ländern, ja in ganz Europa. Das Schloss, damals Ruine, der Ort des Hambacher Festes, der zwischenzeitlichen Vergessenheit und adligem Eigentum glücklicherweise, aber keineswegs zufällig, wieder entrungen, existiert immerhin schon als klug und unterhaltsam ausstaffierter Erinnerungsort.

Schon beim Fest in Hambach wurde die Vision der Vereinigten Staaten von Europa beschworen, zu einer Zeit mithin, als diese noch in sehr, sehr weiter Ferne lagen, nicht nur in weiter, wie heute wieder. Abermillionen Menschen starben seither in immer brutaler werdenden Kriegen, für irgendwelche „Vaterländer“, für Könige und Führer, Volk oder auch La Patrie, bevor, im buchstäblich ausgebluteten Europa, am 23. Juli 1952 mit dem Inkrafttreten des EGKS- Vertrages der Grundstein dessen gelegt wurde, was heute Europäische Union heißt - und wieder einsturzgefährdet ist. Der 23. Juli könnte der Tag Europas sein oder wenigstens der Europäischen Idee. Auf dass sie strahle und niemals erlischt!

Im traurigen Monat November hat der säkulare Staat, immerhin, sich schon seine Variante zu Allerheiligen, Allerseelen und Totensonntag geschaffen. Der Volkstrauertag war ursprünglich als Tag der Erinnerung an „gefallene“ deutsche Soldaten gedacht, seit 1952 dient er dem Gedenken an den Tod aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft, ja Gewaltbereitschaft, damit also auch von Terror und Unterdrückung. Aber so tapfer und selbstbewusst, aus diesem einstigen Tag der heldenkultischen Verklärung von Nationalismus und Kriegen einen offiziellen deutschlandweiten Feiertag zu machen, so tapfer und selbstbewusst war unsere Republik bis heute nicht. Es ist auch dafür höchste Zeit.

Natürlich muss der 9. November ein Feiertag werden. Als Tag des Volkes, als Tag der Demokratie. Ob neben dem oder anstelle des 3. Oktober, als Tag der deutschen Einheit, sei munteren Debatten überlassen. An einem neunten November wurde die erste gesamtdeutsche Republik ausgerufen, 1918. An einem neunten November ließen Bürger der DDR die Mauer Mauer sein, 1989. Der ostdeutsche Demos enttarnte des SED-Kaisers neue Kleider: nackt und machtlos stand die bis dato allgewaltige Partei da in ihrer jämmerlichen Mickrigkeit. Der Eiserne Vorhang, der Menschen ja nicht nur am Reisen und Verwandtebesuchen gehindert hatte, sondern auch an freiem Denken und selbstbewusstem Handeln in eigener Verantwortung, brach vor dem Ansturm des unbewaffneten Volkes zusammen. Was hinzukam und auf ewig kaum minder bestaunenswert bleibt: Bewaffnete Russen und Deutsche, die dies alles hätten verhindern können, an diesem Tag und einigen Montagen zuvor, ließen ihre Waffen ruhen. Warum feiern wir das nicht, warum?

Wenn es dann Zeit ist für Glühwein, Lebkuchen und Adventssterne - denn natürlich sollten wir auf die ihres ursprünglichen Sinnes zwar entleerten, aber dennoch auf heimelige Weise Gemeinschaft stiftenden Rituale, wie sie uns Advent, Weihnachten und auch Ostern längst religionsübergreifend bescheren, nicht verzichten, warum auch? - wenn es dann also Zeit ist für Gespräche bei Glühwein und Bratwurst, dann sollten wir darüber sprechen und uns gemeinsam daran erinnern, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu uns gefunden hat, durchaus ohne das Mysterium einer jungfräulichen Empfängnis, aber auf vergleichbar zauberhafte Weise. Am 10. Dezember 1948, noch schwelten, jedenfalls gedanklich, die Trümmerhaufen des weltumspannenden Krieges, stimmten Vertreter von 48 Staaten in Paris für die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Acht Staaten, auch das sollte nicht vergessen werden, stimmten dagegen. Es gleicht ohnehin einem Wunder, dass es nur acht gewesen sind. Heute wären es womöglich mehr, deren Autokraten und sonstige Machteliten mit einem Satz wie diesem nichts, aber auch rein gar nichts  anzufangen wissen:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Den Memminger Bauern hätte der Satz wohl gefallen.
​
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sollten selbstbewusst genug sein, vielleicht auch jenen mutigen Memminger Bauern, ganz sicher aber allen Demokraten, lebenden wie toten, heutigen wie künftigen - und damit sich selbst und uns allen, den Bürgern der deutschen Bundesrepublik - eine Freude zu machen, ein Geschenk: eine neue Feiertagsordnung.
 
Uwe Knüpfer

      

„Wir brauchen ein Großes Palaver“ – Was heißt heute deutsch?

20/3/2015

 
Zum Bearbeite 20. Forum Migration, Bonn, 12. März 2015

     

Deutschland ist ein Einwanderungsland, muss aber noch lernen, sich auch so zu benehmen. Im Mittelpunkt des 20. Forums Migration aus Anlass des 50. Gründungstages der Otto-Benecke-Stiftung stand die Forderung nach einem „Spurwechsel“ in der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik. Nötig sei eine breite Debatte darüber.

  Naika Foroutan, die stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, zeichnete im Bonner Haus der Geschichte anhand einer großen Datenfülle das Bild eines Landes, das mit sich selbst nicht im Reinen ist: „Wir erleben einen Transitmoment.“ Die „Narration des Deutschseins“ sei im Fluss. Einerseits wachse die Offenheit gegenüber Flüchtlingen und anderen Einwanderern, andererseits hielten sich Ängste und Vorurteile hartnäckig. Integrationsmaßnahmen seien vielleicht nicht nur im Blick auf Neuankömmlinge sinnvoll, sondern „auch für Pegida-Demonstranten“.

  Der Berliner Migrationsforscher Professor Klaus Bade begrüßte die geplante Gründung eines Migrationsmuseums. Über die Frage „Was ist heute deutsch?“ müsste quer durchs Land „ein Großes Palaver“ beginnen. Hilfreich sei womöglich die Einsetzung einer „Leitbildkommission auf Bundesebene“.  

„Die Bundesrepublik war seit 1948/49 ein Einwanderungsland,“ rückte Professor Jochen Oltmer vom Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien eine „Fülle von Mythen“ zurecht. Die Bundesrepublik habe von Beginn an eine aktive Integrationspolitik betrieben: gegenüber Flüchtlingen aus der DDR, Aussiedlern, Spätaussiedlern und anerkannten Asylsuchenden. Allerdings nicht gegenüber Arbeitsmigranten. Das müsse sich ändern. Oltmer: „Wir müssen Handlungsmacht von Einwanderern schaffen oder erhöhen.“

  Er erlebe in dieser Hinsicht „viel Engagement in den Pfarrgemeinden“, berichtete der Leiter des Katholischen Büros NRW, Antonius Hamers. Für ihn sei das Bild „eher hell als dunkel“. Manfred Kock, Altpräses der Evangelischen Kirche in Deutschland, mahnte, Asylsuchenden nicht gleich mit einem „Betrugsvorwurf“ zu begegnen und Verschiedenheit als Reichtum zu betrachten statt als Bedrohung. Das sah Tayfun Keltek ähnlich, der Vorsitzende des Integrationsrats NRW: „Unterschiede sind Stärken.“ Er riet, Menschen mit Migrationshintergrund als „DeutschePlus“ zu sehen.

  Namens der deutschen Arbeitgeberverbände sprach sich Peter Clever dafür aus, Zuwanderungs- und Asylpolitik zusammenzuführen. „Wir brauchen beides: eine gesteuerte Zuwanderung und eine humane Flüchtlingspolitik.“ Nur in einer humanen, befriedeten Gesellschaft ließen sich gute Geschäfte tätigen.

  Eberhard Diepgen, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und Vorsitzende des Beirats der Otto-Benecke-Stiftung, plädierte für einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik. Abgelehnte Asylbewerber müssten die „zweite Chance auf ein grundsätzliches Bleiberecht“ erhalten. Es sei ein „Unsinn sich vorzumachen, die bleiben nur zwei Jahre hier“. Die Idee, ein Migrationsmuseum zu gründen, finde er gut.

  Klaus Bade sprach statt von einem Paradigmen- lieber von einem  „Spurwechsel“. Die jetzt überall angemahnte Willkommenskultur werde von der OBS übrigens bereits seit Jahrzehnten gepflegt. Die Praxis der OBS zeige aber auch: „Mentalitäten ändert man nicht durch freundliche Umgangsformen allein.“ Ein nachhaltiges, personenbezogenes Sich-Kümmern sei gefordert.

  Diepgen sprach in diesem Zusammenhang von einer „Langfristaufgabe“, die man „nicht projektbezogen leisten“ könne – eine Spitze gegen die seit 2009 gültige Förderpraxis der Bundesregierung. Lothar Lemper, der Vorsitzender der OBS, hatte zur Eröffnung des Forums darauf hingewiesen, dass die dem Verein zur Verfügung stehenden Fördermittel zuletzt nicht erhöht, sondern gekürzt worden seien – und das angesichts stark steigender Zahlen der Bewerber für Sprach- und Integrationskurse.

  Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Anette Kramme, sieht Deutschland auf dem Weg zu einer Bildungsgesellschaft. Dabei gelte es, „alle mitzunehmen“. Das setze eine „funktionierende bundesweite Umsetzungsstruktur“ voraus.

  Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, schilderte, wie sehr sich die Praxis seines Amtes im Umgang mit Asylbewerbern bereits geändert habe, hin zu einer „Anerkennungskultur“. Mitarbeitern der Ausländerämter werde vermittelt, dass es gelte, allen Ankommenden mit Respekt zu begegnen. Allerdings tendiere die Chance von Menschen aus den Balkanländern, Asyl zu erhalten, nun einmal gegen Null.

  Diskutanten aus dem Publikum wiesen auf die Schwierigkeit hin, Menschen einerseits freundlich aufzunehmen und ihnen gleichzeitig sagen zu müssen: Ihr könnt nicht bleiben.

  Die Tagungspausen wurden rege dazu genutzt, Kontakte zwischen Behördenvertretern, Wissenschaftlern und Ehrenamtlichen zu knüpfen. Viele der gut 500 Teilnehmer des Forums Migration machten sich in der Ausstellung „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ schon mal ein Bild davon, wie ein Migrationsmuseum gestaltet sein könnte. Auch das Gesprächsangebot von OBS-Betreuerstudierenden wurde rege aufgegriffen. Die Studierenden mit Herkunftsländern in Osteuropa, Asien und Afrika hatten sich mit selbstgestalteten „Graduation Caps“ bekrönt, um im Getümmel jederzeit erkennbar zu sein. Man konnte an diesem Tag den Eindruck gewinnen: Das „Große Palaver“ hat bereits begonnen.
(obs-ev.de)

50 Jahre Willkommenskultur: Die Otto-Benecke-Stiftung

14/3/2015

 
 Zwischen Zu- und Einwanderung, Asyl- und Flüchtlingspolitik

„Man muss das Rad nicht neu erfinden. Bei uns dreht es sich schon seit 50 Jahren“

  Eine Jugendherberge auf dem Bonner Venusberg, im Herbst 2014. Der Wind reißt von den Bäumen das erste Laub, und die Gewerkschaft der Lokführer legt das öffentliche Leben lahm. Rund dreißig junge Menschen haben trotzdem hierher gefunden, aus allen Winkeln der Bundesrepublik. Der Republik, die kein Einwanderungsland sein will - bestenfalls, wenn es denn unbedingt sein muss, ein „Zuwanderungsland“.

Die jungen Menschen tragen Namen wie Ahmad Shoaib Rahiq, Sergej Prokopkin, Rossana Kvint oder Said Essellak. Sie studieren in Orten wie Tübingen, Greifswald, Konstanz oder Hannover – oder werden es bald tun. Sie erzählen gern von ihrer Odyssee durch Staaten und Behörden, halten dabei aber gelegentlich inne. Sie wirken dann, als könnten sie es selbst kaum glauben: wie weit sie schon gekommen sind. Dass sie „angekommen“ sind. Sie erzählen Geschichten von langen Reisen, von Ängsten, Schrecken, Gefahren - und Wundern. Die Wunder haben eines gemeinsam: sie haben immer mit der Otto Benecke Stiftung zu tun.

 Ahmad Shoaib Rahiq hat in Afghanistan studiert und nebenher für ein Bauunternehmen gearbeitet, das in Diensten des US-Militärs stand. Als amerikanische Truppen sich anschickten, das Land zu verlassen, fühlten Ahmad und seine Frau sich dort nicht mehr sicher. Sie machten sich 2010 auf den Weg über die Berge in den benachbarten Iran, dann weiter in die Türkei; „durch Wasser, über Berge. Es war sehr, sehr gefährlich.“

 In der Türkei, ohne Pass und ohne Sprachkenntnisse, wurde Ahmad von der Polizei aufgegriffen und landete in einem türkischen Gefängnis. Nach sechs Wochen wurden die beiden zurück nach Afghanistan verfrachtet. Ahmad fasst das Folgende trocken zusammen: „Wir haben es dann noch einmal versucht. Und diesmal hat es geklappt.“ Es: die Flucht ins Gelobte Land. Nach Europa. Nach Deutschland.

 Während der langen Wartezeit auf eine Asylbewilligung bekamen die Rahiqs ein Kind - eine Tochter -, lernten die Otto Benecke Stiftung kennen und büffelten Deutsch. Die Kürzel der Sprach- und Integrationskurse rasselt Ahmad fließend herunter: „A1, A2, B2, C1“. Sein Ziel? Womöglich wieder studieren, auf jeden Fall arbeiten.

 „Ich war blind unterwegs in einem fremden Land. Die Otto Benecke Stiftung hat mir die Augen geöffnet.“ Sergej Prokopkin verschlug es 2002, als er 17 war, im Gefolge seiner Eltern aus Südrussland nach Plön in Schleswig-Holstein: als „Spätaussiedler“, im Jargon der „Zuwanderungs-Bürokratie“. Für die es große Unterschiede macht, ob ein Mensch, der Deutscher werden will, nur Flüchtling ist oder Kontingentflüchtling oder gar Spätaussiedler. Ob er Asyl sucht, es nur beantragt hat oder schon zugesprochen bekam. Ob er geduldet ist oder „subsidiären Schutz“ genießt.

 Für die derart kategorisierten Menschen ist der Unterschied gewaltig: er entscheidet über willkommengeheißen oder weggeschickt werden, über Kasernierung oder Freiheit, über Lebenschancen, nicht selten über Leben und Tod.

 Sergej Prokopkin gehörte zu den Glücklichen. Eigentlich. Spätaussiedler dürfen in die Nähe von Verwandten ziehen und sofort Geld verdienen. Doch Sergej tat sich schwer in Deutschlands Norden. Er verstand die Sprache nicht, er hatte keine Freunde, wusste mit sich nichts anzufangen. Die Agentur für Arbeit vermittelte ihm Ein-Euro-Jobs auf Bauhöfen und in Altenheimen. Leicht hätte er auf die schiefe Bahn geraten können. Jedenfalls entsprach er wohl ziemlich gut dem Klischeebild vom jungen, potentiell gewalttätigen Russen.

 Ende 2014 studiert Sergej Jura und Politikwissenschaften in Greifswald und steht kurz vor dem ersten Examen. Ein Jahr lang hat er sich im britischen Sheffield mit Kriminologie und Menschenrechten befasst. Er mischt bei den Grünen Hochschulgruppen mit und im Arbeitskreis Kritischer Juristinnen und Juristen.

 Eine Bekannte hat ihm seinerzeit die Telefonnummer der Otto Benecke Stiftung gegeben. Er lernte ein paar Sätze auswendig, überwand seine Hemmungen und rief an. Noch ein Jahrzehnt später kann sich Sergej ganz genau an dieses entscheidende Telefonat erinnern: „Ab dem Punkt ging es aufwärts. Seit diesem Zeitpunkt stehe ich auf eigenen Beinen.“ Die OBS verhalf ihm zum Absprung aus Plön - und von der Familie - nach Hamburg. Hier lernte er rasch „richtig“ Deutsch, und ihm erschloss sich eine neue Welt. Bei der OBS war er unter Menschen, die lernen wollten, die Zeitungen lasen und über Politik diskutierten. Er wusste bald: genau das war seine Welt.

 Auch Rossana Kvint ist ihren Eltern gefolgt, aus Kasachstan ins Aufnahmelager Friedland, auch sie eher widerwillig und voller Sorgen und Zweifel. Auch sie erinnert sich sehr genau an den Tag, an dem ihr Leben eine zweite Wendung nahm, nach dem Umzug in ein fremdes Land. Es war der 26. Mai 2006. Rossana saß einer Mitarbeiterin der OBS gegenüber. „Sie hat mir auf Englisch alle Wege Schritt für Schritt aufgezeichnet, zum Abitur, zum Studium. Wie soll das gehen, fragte ich: Ich spreche doch kein Wort Deutsch! Da hat sie mich so angeschaut und gesagt: Frau Kvint, Sie schaffen das! Andere vor Ihnen haben das auch geschafft. Sie nehmen Schritt für Schritt. Und plötzlich habe ich es geglaubt. Ich war euphorisch.“

 Jetzt studiert Rossana Kvint in München Medizin; im neunten Semester. Sie möchte sich auf Endokrinologie oder Pathologie spezialisieren und am liebsten in der Forschung bleiben. „Die OBS hat mich wie ein Navigationssystem reibungslos ans Ziel geführt. Ich empfinde so viel Dankbarkeit in meinem Herzen.“

 Dankbarkeit. Ein rares Gut. Unter „Kundinnen“ und „Kunden“ der Otto Benecke Stiftung findet man es schier im Überfluss, dieses Gut. Dankbarkeit kann auch schon mal bunte Blüten treiben. Ein Absolvent hat eine von ihm klassifizierte iranische Wassermilbe „Sperchon beneckei“ getauft.

 Für Reporter, die aufgrund professioneller Skepsis gern zu Zynismus neigen, kommt das Erleben ungekünstelter, massiert auftretender Dankbarkeit einer mentalen Fangopackung gleich. Die Teilnehmer der Tagung auf dem Bonner Venusberg reißen sich geradezu darum, dem Reporter warme Worte zum Tun der OBS in den Block zu diktieren.

 Said Essellak brachte der „Arabische Frühling“ aus Marokko zu „Otto Benecke“. So nennen ihre Klienten die Stiftung gern, die eigentlich ein Verein ist; in einer Mischung aus Respekt und Zuneigung. Als wäre sie ein gestrenger, aber gütiger Onkel. Said Essellak  fand dank „Otto“ Kontakt zu anderen jungen Einwanderern, wie er selbst einer ist. Er studiert heute in Konstanz Elektrotechnik und „will als Mensch etwas für diese Welt tun. In meiner Heimat war ich sozial gefangen. Hier sind meine Ideen gefragt.“

 Ist das kein Einwanderungsgrund? Nach geltendem Recht nicht. Da muss, wer Deutscher werden will, andere Gründe vorbringen können. Notfalls erfinden? Wer weiß? Jedenfalls sind es nicht die Dümmsten, denen es gelingt, hier sesshaft zu werden. Die Otto Benecke Stiftung hilft Menschen wie Said, Rossana, Sergej und Ahmad dabei seit fünfzig Jahren. Genau genommen sogar schon etwas länger. Mehr als 400.000 Menschen sind inzwischen dank „Otto Benecke“ in Deutschland angekommen, im umfassenden Sinn dieses Wortes. 1,2 Milliarden Euro hat die OBS dafür insgesamt ausgegeben, in all den Jahren; Geld der deutschen Steuerzahler. Das macht, grob gerechnet, 3000 Euro pro Klient. Da die allermeisten von ihnen inzwischen Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Wissenschaftler oder Unternehmer sind, dürfte sich diese soziale Investition bestens verzinst haben. Denn die OBS, das ist ihr Auftrag, spezialisiert sich auf bildungswillige Ein- (oder Zu-)wanderer. Auf Menschen, die schon in ihrer alten Heimat im „tertiären Bildungssektor“ unterwegs gewesen sind, studiert oder jedenfalls die Hochschulreife erworben haben oder auf dem Weg dorthin waren. Die OBS hilft diesen Menschen, die Bildungsleiter erneut zu erklimmen. Das tut sie, weil „Otto Benecke“ ein Kind der Studentenbewegung ist.

 OBS-Mitarbeiter leisten Menschen Hilfestellung, die turnen wollen, aber vor dem ehrfurchtgebietenden Stufenbarren zurückschrecken, als der ihnen das verästelte, durchdeklinierte deutsche Bildungssystem erscheinen mag. Der erste Griff gilt immer einem effektiven Sprachkurs, einem, der auf die Vorbildung und den Lerneifer ehrgeiziger Einwanderer wie Ahmad, Rossana, Sergej oder Said zugeschnitten ist.

 Unter Deutschen ohne aktuellen Migrationshintergrund ist „Otto Benecke“ wenig bekannt. Dahinter kann man System vermuten. „Bis 1990 hing ein Schild über der Bundesrepublik: `Deutschland ist kein Einwanderungsland’,“ erklärt Ursula Boos-Nünning, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, die zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung: „Es galt, die einheimischen Deutschen nicht zu erschrecken.“ Die Sozialwissenschaftlerin gilt als Erfinderin des Begriffs „Deutsche mit Migrationshintergrund“ – ohne stolz darauf zu sein; schließlich sei das kein schönes Wort und überhaupt nur eine Übersetzung aus dem Amerikanischen („migration background“).

 Schon vor ihrer Gründung haftete der Arbeit der OBS etwas Klandestines an. Während des Algerienkriegs suchten tausende junger Algerier, die in Frankreich studierten, in der Bundesrepublik Schutz vor Anfeindungen. „Die Studenten standen ja praktisch alle auf Seiten der Revolution. Sie waren in Frankreich nicht mehr sicher,“ erinnert sich Uwe Janssen, der von sich sagen kann: „Die Gründungsurkunde der Otto Benecke Stiftung trägt meine Unterschrift.“ Auch wenn das mehr oder weniger ein Zufall gewesen sei. „Ich habe das ganz locker gemacht.“

 Uwe Janssen war seit 1964 als Student der Archäologie in Marburg stellvertretender Vorsitzender des VDS, des Dachverbands der deutschen Studentenschaften, zuständig für „Internationales“. In jenen Zeiten hieß das: für die Solidarität mit Befreiungsbewegungen in aller Welt. 1965 wurde Janssen dann Vorsitzender des VDS. Gleichzeitig gründete der Verband die OBS.

 „Eigentlich war das eine Umgründung,“ so Janssen: „Eine Namensänderung, mehr nicht.“ Ein Versuch, die Arbeit dessen, was ab jetzt „Otto Benecke“ hieß und zuvor „Sozialamt des Bundesstudentenrings“, sichtbarer werden zu lassen. „Wir wollten ein besseres öffentliches Gesicht. Die OBS sollte der Think Tank des VDS werden.“ Daraus allerdings sei „so recht nichts geworden“.

 Der „Tumult“ kam dazwischen, wie Hans-Magnus Enzensberger die Geschehnisse rund um das Jahr 1968 etikettiert hat. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wollte den VDS – und damit auch „Otto Benecke“ – übernehmen und beide zu Instrumenten der Revolution transformieren. Janssen und andere wehrten sich. Aus dem Selbstverwaltungsorgan der Studentenschaften wurde ein eingetragener Verein. Ein Vehikel jener, die nicht die gewaltsame Revolution predigten, sondern den Marsch durch die Institutionen.

 Der ist einigen der Beteiligten zweifellos gelungen. Eberhard Diepgen wurde CDU-Politiker und Regierender Bürgermeister von Berlin. Wolfgang Roth wurde Juso-Vorsitzender und, von 1993 bis 2006, er Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank. Walter Hirche brachte es als FDP-Politiker bis zum Wirtschaftsminister in Niedersachsen. Alle drei gehören sie dem Kuratorium der OBS bis heute an. Dort habe allerdings „Parteipolitik nie eine Rolle gespielt,“ versichert Roth.

Hans-Jürgen Wischnewski, später, in den 1970ern als „Ben Wisch“ und im „Deutschen Herbst“ nach der Entführung der „Landshut“ durch RAF-Terroristen als der Dirigent der „Helden von Mogadischu“ legendär geworden, nahm sich als junger SPD-Bundestagsabgeordneter jener algerischen Studenten an, die in Deutschland Unterschlupf suchten angesichts der rassistischen Anfeindungen, denen sie in Frankreich ausgesetzt waren. Sie wollten und sollten hier weiter studieren - mussten aber zunächst einmal Deutsch lernen.

Wischnewski erreichte, dass der Bundestag Geld für Stipendien bereit stellte. Die Bundesregierung legte allerdings Wert darauf, mit diesem Programm nicht öffentlich in Zusammenhang gebracht zu werden. Die deutsch-französische Freundschaft glich in den späten 1950er Jahren noch einer zarten jungen Pflanze. Es hätte ihr angesichts der aufgewühlten Emotionen, die Algeriens Loslösung von der Kolonialmacht Frankreich begleiteten, wohl nicht gutgetan, hätte Deutschland sich offiziell auf die Seite der Aufständischen geschlagen: so hätte man in Paris ein deutsches Stipendienprogramm für algerische Jungrevolutionäre wohl gedeutet.

 „Es galt zu verstecken, dass Staatsgeld floss,“ sagt Janssen. Geboren ward die Idee: Machen wir das zur Sache der studentischen Selbstverwaltung! Eberhard Diepgen: „Die OBS wurde tätig, wo die Bundesrepublik tätig werden wollte, es aber aus außenpolitischer Rücksichtnahme nicht konnte.“

Die Idee der studentischen Selbstverwaltung wiederum verdankt Deutschland einer anderen Revolution, der deutschen von 1918/19.

 Als das im Ersten Weltkrieg geschlagene, erschütterte, ausgeblutete und nahezu verhungerte deutsche Volk die Herrschaft des Kaisers und der Fürsten abschüttelte, das Allgemeine Wahlrecht durchsetzte, einschließlich des Frauenwahlrechts, die Schulgeldfreiheit und den Achtstundentag, auf das Selbstbestimmungsrecht des Volkes pochend, als sich Arbeiter und Soldaten zu Räten formierten, da hatten engagierte Studenten die Idee, auch sie sollten als Gruppe und souverän ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und den überkommenen Autoritäten der Hochschulhierarchien selbstbewusst entgegentreten. Sie gründeten die Deutsche Studentenschaft, als Zusammenschluss der Studentenvertretungen aller Universitäten. Die treibende Kraft dabei war Otto Benecke. Er wurde der erste Vorsitzende der neuen Organisation. Auch nach 1945, beim erneuten Versuch, Studenten als Bürger im Hörsaal zu begreifen, bei der Wiedergründung der Verfassten Studentenschaften, diesmal in Form des VDS, war Otto Benecke wieder dabei, diesmal als Ideengeber und Inspirator, kraft seiner Erfahrungen und Kontakte als sozialdemokratischer Kulturpolitiker und als Geschäftsführer der Max-Planck-Gesellschaft.

 Ansprechpartner auf Seiten der verfassten Studentenschaft wurde Theo Tupetz (1923-1980), ein bürgerlich-liberaler Studentenfunktionär mit familiären Wurzeln in der Tschechoslowakei. Als Sozialreferent des VDS organisierte er Hilfen für Studenten, die aus der DDR in den Westen flohen, solange das noch möglich war. Wolfgang Roth: „In der ersten Zeit sind ja noch viele abgehauen. Im Westen hatten sie mit rigiden Zulassungsbestimmungen zu kämpfen.“ Tupetz hatte zu Beginn der 1950er Jahre als Hilfsreferent in Ministerien gearbeitet und verfügte über nützliche Kontakte zu Politikern und Beamten.

 Er und seine Mitstreiter bauten das Sozialamt des vom VDS dominierten Bundesjugendrings zur zentralen Hilfsstelle für Flüchtlinge aus, die in der Bundesrepublik studieren wollten. Hilfesuchende strömten bald aus allen Himmelsrichtungen herbei. 1956, nach dem gescheiterten Aufstand dort, aus Ungarn, aber bald auch aus anderen Staaten des Ostblocks – und aus den Apartheid-Ländern des südlichen Afrika.

 Studierenden aus Rhodesien (später Zimbabwe), Südwest- (Namibia) und Südafrika unter die Arme zu greifen war damals die wohl wirkungsvollste subversive Unterstützung des Kampfes gegen Kolonialismus und Rassentrennung. Die offizielle Politik der Bundesrepublik setzte noch lange auf Kooperation mit den Regimes der dortigen weißen Oberschichten. Sie tat das bis tief in die 1980er Jahre hinein. Die Umleitung von Steuergeld über die studentische Selbstverwaltung bot all jenen Deckung, die trotzdem etwas für den Wandel im südlichen Afrika tun wollten.

 Zur Jahrtausendwende flog Eberhard Diepgen mit einer Berliner Delegation nach Namibia. Das Land war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren unabhängig. Es wurde von Sam Nujoma regiert, dem schwarzen „Gründervater der namibischen Nation“. Die Berliner wollten eine Städtepartnerschaft zwischen der deutschen und der namibischen Hauptstadt Windhoek besiegeln. „Wir saßen beim Staatspräsidenten und stellten uns reihum vor,“ schildert Diepgen die Szene, „und ich erwähnte, dass ich Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung bin.“ Da sei ein Raunen durch die Reihen der namibischen Delegation gegangen. „Und ungefähr jeder zweite erzählte, er sei Stipendiat der OBS gewesen.“

 Die OBS (und ihre Vorläuferin) konnte, anders als staatliche Stellen, schnell auf neue Herausforderungen reagieren. Als ein ghanaischer Student 1961 in Moskau unter ungeklärten Umständen den Tod fand, kam es dort zu einem „Walkout der community“, erinnert sich Janssen. Der tote Student hatte eine russische Freundin gehabt. „Sein Leichnam wurde an einem Bahndamm gefunden. Der Mord wurde nie aufgeklärt.“

 Offiziell hatte es in der Sowjetunion, dem selbsternannten „Vaterland aller Werktätigen“, keinen Rassismus zu geben. Die ghanaischen Studenten siedelten fast geschlossen in die Bundesrepublik um. Hier half ihnen der OBS-Vorläufer auf die Beine. Der Bundestag stockte seine Zuschüsse unauffällig auf.

 1964 verteilt das studentische Sozialamt schon 1,4 Millionen DM. Der Bundesrechungshof legt nahe, eine eigenständige Organisation zu gründen – deren Rechnungslegung transparent wäre. Man wählt die Form des eingetragenen Vereins. Im März 1965 erblickt er als „Otto Benecke Stiftung. Sozialamt des Deutschen Bundesstudentenrings e.V.“ das Licht des Vereinsregisters. Der Ideengeber der autonomen Studentenschaft ist im Vorjahr verstorben; auch deshalb bietet sich die Namenswahl wohl an.

 Tupetz und seine Mitstreiter glauben, jetzt ein Instrument in der Hand zu halten, mit dem sich Politik beeinflussen lässt. Doch diese Ambition geht im Lärm der Studentenrevolte unter. Im Vorstand des OBS e.V. wird zwar nach übereinstimmender Berichterstattung Beteiligter nicht gelärmt, aber es prallen doch auch hier zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von studentischer Politik aufeinander. Die eher Linken machen sich für das „allgemeinpolitische Mandat“ der Studentenschaften stark: Sozialdemokraten wie Janssen und Roth liegt das Schicksal Südafrikas und Vietnams kaum weniger am Herzen als die Hilfe für Ostblock-Flüchtlinge. Eberhard Diepgen wiederum steht auf der Seite derer, die das politische Mandat auf studentische Angelegenheiten konzentriert sehen wollen. „Wir wollten selber Wohnheime bauen, nach schwedischem Vorbild. Wir wollten keine Almosenempfänger sein, die von Tutoren im Wohnheim betreut werden. Wir wollten frei und selbstverantwortlich sein.“

 Diepgen ist zur Zeit der Gründung der OBS noch nicht Mitglied der CDU. Das wird er erst nach seiner vom SDS betriebenen Abwahl als ASTA-Vorsitzender. „Er war natürlich beleidigt;“ zeigt SPD-Mann Wolfgang Roth Verständnis für den politischen Gegner. Das revolutionäre Gebaren des SDS war ihm kaum weniger suspekt als Diepgen.

 Als der Versuch gescheitert ist, den Verband der Studentenschaften in eine Speerspitze der Revolution zu verwandeln, betreibt der SDS stattdessen die Zerschlagung des Verbandes. Der Vorstand der OBS und seine staatlichen Geldgeber ziehen daraus die Konsequenz der Loslösung vom VDS. 1969 wird der Verein umbenannt. Er heißt seither nur noch Otto Benecke Stiftung e.V. Roth: „Damit war die Ursprungsidee von Tupetz eigentlich obsolet.“

 Tupetz, der laut Wolfgang Roth den SDS „unappetitlich“ findet, hat Angst, sensible Unterlagen über Flüchtlingsbiografien könnten über den SDS in die Hände östlicher Geheimdienste gelangen. 1968 erlebt die Stadt, in der er zur Schule gegangen ist, den „Prager Frühling“ – der von sowjetischen Panzern niedergewalzt wird. Studenten, die in den Westen fliehen, steht die Otto Benecke Stiftung bei. In Unterlagen der Stiftung dürfte Brisantes zu Fluchtwegen und Fluchthelfern gestanden haben.

Nach einem Versuch revolutionär gestimmter Studenten, die VDS-Büros zu stürmen, nimmt Tupetz Akten der OBS mit zu sich nach Hause. Wohlmeinende sagen: um Geflüchtete und ihre Helfer zu schützen. Böswillige unterstellen anderes. Unklar ist, was für Akten es waren und wo sie schließlich abgeblieben sind. Jedenfalls führen diese Ereignisse zu Tupetz’ Entlassung als Geschäftsführer der OBS. Er zieht zwar vor Gericht, bekommt dort auch Recht, aber er wird nicht wieder eingestellt. Sein „Kind“, als das er die OBS sieht, wächst fortan ohne ihn.

 Und wie es wächst! Bald zählt der Verein, der als Stiftung daherkommt, im Grunde aber „Staatsauftragsverwaltung“ (Diepgen) betreibt, „zu den feineren Adressen in der Republik“ („Die Zeit“ 1992). Tupetz, heißt es, habe seine Abschiebung nie überwunden.

 Nach Tupetz’ Abgang hält Wolfgang Beitz als Geschäftsführer die Fäden in der Hand. Berichten von Weggefährten zufolge ein äußerst gewinnender, kontaktfreudiger Mann. Der Etat des Vereins wächst unaufhörlich, vor allem dank des anschwellenden Ansturms von Spätaussiedlern aus Ländern des Warschauer Pakts. Beitz lagert einen Großteil der Programme aus der OBS aus und wickelt sie über eine „Gesellschaft zur Förderung Berufsspezifischer Ausbildung“ (GFBA) ab. Es entsteht ein Schattenhaushalt, der sich der Kontrolle des Bundesrechnungshofes entzieht. 1990 macht ein Whistleblower, wie man heute sagen würde, den Rechnungshof auf Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr zwischen OBS und GFBA aufmerksam. Eine Prüfung führt zu Beitz’ Entlassung. Die GFBA geht in Konkurs, ihr Geschäftsführer Volker Grellert, dem die Staatsanwaltschaft Frankfurt Veruntreuung vorwirft, setzt sich ins Ausland ab. Auch Beitz lebt heute in Südafrika - wo er als ein Wegbereiter der deutschen Anti-Apartheid-Politik geschätzt wird.

 Seit 1992 unterliegen alle Aktivitäten der OBS wieder der Aufsicht des Bundesrechnungshofes. „Die Zeit“ kann noch im selben Jahr festhalten: „Mittlerweile gehören die Missstände bei der OBS der Vergangenheit an.“

 Ihr Kümmern um Polen, Sowjets, Rumänen oder Bürger der Tschechoslowakei, die deutsche Ahnen vorzuweisen haben und denen deshalb die sonst gut verriegelten Tore zur Bundesrepublik weit offen stehen, prägt das Image der OBS für lange Zeit. Daneben verblasst, dass sie sich nach wie vor auch um Menschen aus vielen anderen Weltgegenden kümmert.

 1974 sind es Chilenen, die nach dem Militärputsch aus ihrer Heimat fliehen müssen. In anderen Jahren kommen vermehrt Palästinenser, Afghanen oder Ugander. Nicht alle wollen Deutsche werden. Vielen dient das Studium in Deutschland als Basis einer Karriere in der Heimat – so ihnen die politische Lage dort eine Rückkehr gestattet, wie jenen Namibiern, denen Eberhard Diepgen 2000 in Windhoek begegnet. Zweck und Ziel der OBS ist es, laut ihrer Satzung, „die internationale Zusammenarbeit zur Überwindung sozialer Barrieren und weltanschaulicher Konflikte zu unterstützen und dazu beizutragen, dass der von ihr geförderte Personenkreis später Verantwortung in den gesellschaftlichen Institutionen übernimmt“.

 Auch als Think Tank betätigt sich die OBS durchaus. Allerdings ist ihr Adressat jetzt weniger die verfasste Studentenschaft, sondern „die Politik“. Früh weisen die Praktiker der OBS auf Defizite der deutschen Gesetze hin. Im jährlichen „Forum Integration“ zeigen Wissenschaftler, Absolventen und Programmverantwortliche sehr früh und immer wieder minutiös auf, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland sei - und gut daran täte, dies anzuerkennen. Schon vor der Jahrhundertwende entwickelt die OBS ein „Kommunales Integrationskonzept“ als Blaupause für den Umgang von Städten und Gemeinden mit Neuankömmlingen. 2003 trainiert sie „Superteams“, die an ostdeutschen Schulen Front machen gegen Rassismus und Rechtsradikalismus. Eine Broschüre zur „Berufswahl mit System“, von der OBS zu Beginn der 1990er entwickelt, sei „immer noch aktuell“, entnimmt Peter Rummel im Herbst 2014 der anhaltenden Nachfrage nach der Broschüre. Sie werde jetzt gerade „smartphonegängig“ gemacht.

 Der Diplompädagoge Peter Rummel arbeitet seit 1983 für „Otto Benecke“. Aus seinem Büro im alten Bonner Regierungsviertel hat er den Petersberg fest im Blick, das einstige Gästehaus der Bundesregierung, wo heute hin und wieder Diplomaten nach Wegen zum Frieden am Hindukusch oder sonst wo suchen. Rummels Erfolge sind in seinem Büro zu sorgfältig abgehefteten Ordnern geronnen – und dem einen oder anderen Souvenir. Nicht ohne Stolz hält er ein großformatiges Foto hoch. Es zeigt deutsche Kinder auf einer vietnamesischen Dschunke.

 „Magdeburg goes Vietnam“: Unter diesem Titel versuchte die Otto Benecke Stiftung 1999 und 2000, Hand in Hand mit der Caritas und örtlichen Medien, die Haltung der Magdeburger gegenüber ihren vietnamesischen Mitbürgern zu ändern. Mit nachhaltigem Erfolg. Die dortigen Vietnamesen, einst von der DDR in die Republik der Bauern und Werktätigen geholt, „wurden in den Neunzigern auf der Straße manchmal bespuckt,“ erzählt Rummel. Es brach sich eine Fremdenfeindlichkeit Bahn, die es zu DDR-Zeiten nicht hatte geben dürfen.

 OBS, Caritas und Medien sorgten dafür, dass die Vietnamesen keine Fremden blieben. Rummel reiste, als Höhepunkt des Projekts, mit 22 Magdeburger Jugendlichen „zweitausend Kilometer durch Vietnam“, mit der Bahn und eben auch auf jener Dschunke. Die Jugendlichen fragten sich jeden Tag und auf jeder Station ihrer Reise: „Wie kommen wir zurecht in einem Land, dessen Sprache und Kultur wir nicht verstehen?“ Und sie sollten beobachten: „Wie reagieren die Vietnamesen auf uns?“ Die Antwort auf diese Frage war oft genug beschämend. Rummel: „Die Leute haben sich auf der Straße vor uns verbeugt, aus Respekt vor fremden Gästen.“

 Der Mitteldeutsche Rundfunk beamte die Erfahrungen der Magdeburger Kids jeden Morgen per Radio an die heimatlichen Frühstückstische. Die Magdeburger „Volksstimme“ betitelte eine große Reportage mit dem Zitat „Jetzt weiß ich, was es heißt, Ausländer zu sein“.

 2002 wurde Magdeburgs vietnam-stämmige Community erstmals aus Anlass ihres traditionellen Tet-Festes ins Rathaus gebeten, seither immer wieder. Rummel findet, so sähen Erfolgsgeschichten aus: „Die Vietnamesen sind Teil des gesellschaftlichen Lebens geworden.“ Aber wer wisse das schon, außerhalb Magdeburgs? Warum, bedrängt er den Reporter bohrend, „focussieren sich die Medien immer auf die schlimmsten Dinge? Warum kann man nicht mal aus der Summe der guten Dinge eine Sensation machen?“

 Als 1992 ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen brannte, eilten die Medien dorthin, wie es sich gehört. Aber über die anschließende Aktion „Mitmischen statt Aufmischen“ der OBS sei überregional kaum berichtet worden, klagt Rummel. „Otto Benecke“ fuhr mit einem Aktionsmobil über das mecklenburgische Land, suchte das Gespräch mit Jugendlichen und ließ Kinder ihre Vorstellungen von Ausländern in den Computer malen. Um anschließend mit ihnen darüber zu sprechen, welche Ausländer sie tatsächlich kennen und was sie von ihnen wissen.

 Die vielen Mit- und Zuarbeiter der Otto Benecke Stiftung wirken seit einem halben Jahrhundert „dem Thekenblick entgegen, der ausdrückt: Die nehmen uns alles weg!“ So formuliert es Jochen Welt, seit Sommer 2014 ehrenamtlicher Geschäftsführer der OBS. Als Beauftragter für Aussiedlerfragen der rot-grünen Bundesregierung, von 1998-2004, hat er die Arbeit des Vereins, den er jetzt führt, bereits gründlich kennen und zu schätzen gelernt. Die OBS habe Einwanderer, woher und aus welchen Gründen auch immer sie nach Deutschland kommen, eben nie als Belastung gesehen, sagt er, „sondern stets als Potenzial“. Als eine brachliegende Ressource, die es zu fördern galt. Welt: „Wir schaffen gesellschaftlichen Mehrwert.“

 Allerdings mit einer stetig schrumpfenden Zahl von Mitarbeitern. Bei einer gleichzeitig anschwellenden Zahl von Programmen mit Titeln wie AQUA, YOUPA oder MIGoVITA. Programme, die nicht selten genau dann wieder auslaufen, wenn sie so richtig auf Touren gekommen sind. Schuld daran sei, so Wolfgang Roth, die Umstellung der deutschen Förderpraxis nach US-amerikanischem Vorbild. Projekte werden ausgeschrieben und jeder kann sich bewerben. Den Zuschlag erhielten nicht unbedingt die Organisationen „mit dem besten Know-how und der größten Erfahrung“ auf dem betreffenden Gebiet, sondern die mit dem größten Geschick im punktgenauen und schnellen Treffen der Förderkriterien.

 Es ist eine Klage, wie sie aus vielen Verbänden und Vereinen zu vernehmen ist, die auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind: ein (zu) großer Teil der Energie und Arbeitszeit gehe heute fürs rechtzeitige Orten finanziell gut bestückter Programme drauf. Man mache dann nicht unbedingt das, was man gut kann, sondern das, was dort gerade Mode sei, wo die Programme formuliert werden.

Als „Projekteritis“ geißelt Eberhard Diepgen diese neuartige Förderpraxis. Er hält sie schlicht für „blödsinnig“. „Bestimmte Programme, gerade in der Integrationsarbeit, können Sie nicht projektorientiert machen.“ Wer Menschen durch Schulen, Ausbildungsgänge und Studien begleite, brauche einen langen Atem: „Es braucht Kontinuität, Know-how und Erfahrung.“

 Wolfgang Roth kommt zu dem gleichen Ergebnis: „Know-how kann man nur schrittweise aufbauen. Man muss erfahrene Leute auch schon mal zwanzig, dreißig Jahre arbeiten lassen, statt immer neue Projektteams zu bilden.“ Hans Georg Hiesserich, bei der OBS für alle Migrations- und Integrationsprojekte zuständig, ist sich sicher, Deutschland stünde heute in der Integrationspolitik „besser da, wenn das Geld statt in immer neue Projekte in den Aufbau von Strukturen geflossen wäre.“

 Theodor Lemper, CDU-Mitglied und Vorstandsvorsitzender der OBS, kann sich angesichts der verbreiteten Rat- und Tatenlosigkeit der deutschen Politik im Umgang mit immer neuen Flüchtlingsströmen, derzeit aus Syrien, geradezu in Rage reden: „Wir sind ein Einwanderungsland. Punkt. Und wir haben hochprofessionelle Organisationen, die wissen damit umzugehen. Es ist auch schon alles gesagt worden. Es muss nichts mehr entdeckt werden. Aber manchmal wird der Eindruck erweckt, es sei noch nicht alles gesagt worden.“ Lemper holt Luft. „Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Bei der Otto Benecke Stiftung dreht es sich seit fünfzig Jahren.“

 Aber es dreht sich immer langsamer. Nach der Einschränkung des Asylrechts 1992 verebbte der Strom der Flüchtlinge rasch. Dafür schwoll der Zustrom der Spätaussiedler an. Seit 2005 gingen auch deren Zahlen zurück. Die Angebote zur Bildungsberatung, Deutschkurse, Seminare und Stipendien schienen nicht mehr gebraucht zu werden. Der Bund kürzte die entsprechenden Etats. Die OBS baute Stellen ab, löste Büros auf. 2013 gab sie zwölf Millionen Euro aus. Das klingt eindrucksvoll. Doch 2007 konnte sie noch über das Doppelte verfügen. Nicht zu reden von 1990; da waren es 105 Millionen Euro.

 Dem Kürzungstrend trotzend kommen seit 2007 wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland, immer mehr. 2007 wurden gut 3.000 in Deutschland aufgenommen, 2014 zehn mal so viele – auch weil „die Aufnahmebehörden heute nicht mehr alle böse sind“, wie es ein erfahrener Bildungsberater mit mildem Sarkasmus formuliert. Er meint damit: Die Behörden dulden heute schon mal, wo sie gestern noch abgeschoben haben. Auch Ursula Boos-Nünning registriert eine Veränderung der Stimmung im Lande: „Sie merken das daran: Alles arbeitet jetzt an der Willkommenskultur.“

 Auch die Zahl der Aussiedler aus Russland und der Ukraine steigt wieder leicht an. Allein: es fehlen der OBS, gerade jetzt, die Gelder für Kurse und Stipendien. Viele Antragsteller müssen auf das nächste Jahr vertröstet werden. Dabei fällt ehrgeizigen „Zuwanderern“ nichts schwerer als Warten. Als Untätigkeit.

 Es fehlt an Geld. Doch woran es nicht fehlt, das sind helfende Hände und Köpfe. Said Essellak, Sergej Prokopkin und Rossana Kvint greifen als OBS-„Betreuerstudierende“ Neuankömmlingen unter die Arme. Sie erklären ihnen den deutschen Paragraphendschungel, die Strukturblüten des deutschen Bildungssystems – und manchmal wohl auch das Deutsche an sich. Rossana Kvint gibt dann stets den Satz weiter, den sie selbst 2006 gehört hat: „Man kann es schaffen!“

 Wer „Betreuerstudierende“ fehlerfrei auszusprechen vermag, hat vielleicht den ersten Schritt schon getan.

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Wir stehen auf den Schultern von Riesen

28/1/2015

 
Und müssen Acht geben, nicht hinunterzufallen

Gedanken zu Islamismus, Pegida und offenen Gräbern

Bis tief ins siebzehnte Jahrhundert hinein schlugen sich Menschen im Abendland gern gegenseitig die Schädel blutig. So stand es heute in der Zeitung zu lesen. Es klang erstaunt. Das zeigt nur, wie weit entrückt uns Heutigen die Epoche der Aufklärung ist. Es wird Zeit, uns zu besinnen.

Dänische Archäologen haben Gräber geöffnet; ganz normale Gräber, von vermutlich ganz normalen Menschen, die in ganz normalen Zeiten lebten, im 12. bis 17. Jahrhundert. In dieser Normalität war es offenkundig üblich, heftig aufeinander einzuschlagen. Jeder zehnte Schädel wies Spuren schlimmer Kopfverletzungen auf. Von Verletzungen, die nicht tödlich waren, aber fast. Es handelte sich dabei nicht um Soldatengräber.

Gut, die Archäologen äußern sich nur über die Schädel von Männern. Aber dass auch Frauen von ihren Mitmenschen nicht immer nur zärtlich behandelt wurden, im 12. bis 17. Jahrhundert, darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Erstaunlich an der Enthüllung dänischer Archäologen ist nicht die Fast-Allgegenwart von Gewalttaten im 12. bis 17. Jahrhundert, in einem für damalige Verhältnisse hoch entwickelten europäischen – abendländischen – Gemeinwesen. Erstaunlich daran ist unser Erstaunen darüber.

Warum wohl mussten mittelalterliche Städte von Wällen und hohen Mauern umgeben sein? Warum errichtete sich, wer es konnte, eine Burg auf steilen Felsen, die nur mühsam zu erklimmen waren? Wieso präsentiert fast jede dieser Burgen heutigen Besuchern Orte wohligen Grauens: Kerker, Waffenkammern, Folterkammern?

Sogenannte Hexen wurden noch in der sogenannten Neuzeit gepiesackt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die durchschnittliche Lebenserwartung war gering.

Dies alles scheint uns weit entrückt. Aber nicht, weil wir in einer anderen Welt als der damaligen leben, auf einem anderen Planeten, jenseits von „Mittelerde“ - sondern weil denkende und mutige Menschen die Welt, wie sie scheinbar schon immer war und zu sein hatte, nicht so gelassen, sondern verändert haben. Und zwar gründlich. Unsere Welt. Die europäische Welt. Das „Abendland“. Sie haben es so gründlich verändert, dass uns heute als normal erscheint, was unseren Vorfahren im 12. bis 17. Jahrhundert als unglaubliche Utopie vorgekommen wäre.

Wir leben in einem Rechtsstaat. Jeder kann laut und deutlich seine Meinung sagen und verbreiten. Niemand muss vor Hüten buckeln. Und auch nicht vor Altären niederknien. Wer will, der darf es; aber das ist seine Sache ganz allein. Jedes Kind geht zur Schule, unbewaffnet. Wir dürfen unseren Geburtsort verlassen und um fast die ganze Erde reisen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wenn wir einen Unfall haben, eilen Helfer herbei. Vor Seuchen sind wir gefeit. Gegen Katastrophenfolgen sind wir versichert. Kriege finden anderswo statt.

Das alles ist nicht normal. Es ist so wenig selbstverständlich wie die Allgegenwart von Steckdosen und Wasserhähnen. Es sind Früchte der Aufklärung.

Im Englischen heißt die Aufklärung Enlightenment: Erleuchtung. Das vermeidet Verwechselungen mit dem eher profanen Tun von Oswald Kolle, der BZgA, also der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, oder dem von Tatort-KomissarInnen.

Erleuchtung haben abendländische Menschen - und sie waren auch darin morgenländischen nicht unähnlich -, allenfalls von himmlischen Mächten erwartet. Die Epoche des Enlightenment, der Aufklärung also, verdankt sich aber keiner göttlichen Fügung - oder falls insgeheim doch, dann jedenfalls keiner kirchlichen Fügung. Sie verdankt sich dem Denken und Tun von Menschen wie Du und ich. Menschen, die sich von Dir und mir allerdings dadurch unterschieden, dass sie härter nachdachten und mutiger handelten als wir. Und dass sie dabei in keiner Weise versichert waren. Sondern sehr bedroht, an Leib, Besitz und Leben.

Bevor wir dorthin kamen, wo wir heute sind, musste die Macht der Kirche und der Throne gebrochen werden. Es war eine höchst reale Macht, die den Zugriff auf Ländereien, auf Burgen, auf Folterkeller und Schulen, auf Hirne und Herzen umfasste. Es war eine Macht, von der die Ideologen des sogenannten Islamischen Staates bislang nur träumen.

Gebrochen werden musste der Glaube der Menschen an die Gottgegebenheit von Unten und Oben, an „Blaues Blut“ und die Unverrückbarkeit von Standesgrenzen. Grafen und Könige wurden gestürzt, Bischöfe wurden enteignet, im Lichte des „Enlightenment“.

Kirchen und Könige setzten sich zur Wehr, natürlich, und zwar massivst; bald unterstützt von vielen, die durch Handel und Industrie zu Reichtum und Privilegien gekommen waren. Das späte 18., das komplette 19. und die Anfänge des 20. Jahrhunderts sind gezeichnet vom Widerstand der Privilegierten gegen die Ideen der Aufklärung und deren politische und wirtschaftliche Konsequenzen. Menschen, die auf den Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit pochten, wurden verlacht, verhaftet, vertrieben, eingesperrt, hingerichtet.

Wir Heutigen sind die Nutznießer dieser Kämpfe. Wir müssten uns eigentlich täglich darüber freuen, dass die Ideen der Aufklärung sich durchgesetzt haben, jedenfalls einstweilen.

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Das ist schnell dahingesagt, flott besungen, allzu leicht abgetan - als handele es ich um einen Wahlkampfslogan aus alten und dabei doch erstaunlich fortschrittlichen Zeiten. Dabei war und ist jeder dieser drei Begriffe revolutionär. Jedem wohnt der Anspruch inne, alltägliches Handeln radikal zu verändern und fortan zu prägen. Dass alle drei gemeinsam daherkommen, mit Kommata einander eng verbunden, als hätten sie sich untergehakt, ist kein Zufall oder der Marotte eines gewitzten altfranzösischen Werbetexters zu verdanken.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bedingen einander. Sie machen einander erst möglich. Den Denkern der Aufklärung war das bewusst. Im politischen Alltag geriet den Akteuren diese Einsicht aber oft aus dem Blick. Im wirtschaftlichen Alltag erst recht. Nicht jeder, der seine Freiheit beim Gründen von Unternehmen, beim Heuern und Feuern sehr zu schätzen weiß, verbrüdert sich gern mit seinen Angestellten oder mit Obdachlosen. Dass die Idee von der allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte, ernst genommen, dazu führen muss, dass „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auch für Sklaven, Arbeiter und Frauen gilt, das mussten auch manche Revolutionäre erst lernen. Einige lernten es nie.

Im selbsterklärten Heimatland der Freiheit, den USA, musste ein blutiger Bürgerkrieg geführt werden, um die Befreiung der Sklaven durchzusetzen. Und selbst das heißt bis heute nicht, dass ihre Ur-Enkel von allen Mitbürgern wie Brüder behandelt werden.

Das gleiche Wahlrecht wie Junker und Unternehmer erhielten deutsche Arbeiter und deutsche Frauen erst in der Weimarer Republik, mehr als hundert Jahre nach der Enteignung der Kirchengüter. Ohne das Entstehen einer machtvollen und schließlich auch gut organisierten Arbeiterbewegung wäre das nicht möglich gewesen.

Das „Entstehen“: welch ein blutleeres, passives Wort! Es verklärt Siege und übertüncht Niederlagen.

Jene Journalisten, die im Zeitalter scharfer Zensur freche Zeilen druckten, jene Gesellen, die adligem Dünkel zum Trotz schließlich in Parlamente einzogen, jene Frauen, die mit patriarchalischen Gewohnheiten radikal brachen und studierten: sie alle mussten tausendmal mehr Mut und Kraft und Ausdauer aufbringen, als sie unsereinem abverlangt werden, um gegen Islamisten respektive Pegida zu demonstrieren oder einen Artikel wie diesen zu „posten“.

Um ein Bild aus der Renaissance wiederzubeleben: wir stehen auf den Schultern von Riesen. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Aber es ist an uns aufzupassen, dass wir nicht hinunterfallen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: diese explosiven, diese höchst anspruchsvollen Begriffe führen wir im Mund, als wären es Drops. Stattdessen sollten wir uns darauf besinnen, was sie bedeuten: für uns, für unser tägliches Leben, für die Art und Weise, wie wir unser öffentlichen Leben organisieren. Welche Parteien wir wählen, wie wir ErzieherInnen und Manager bezahlen, wie wir große Vermögen besteuern, wie wir mit Andersgedenken umgehen. Wie wir Flüchtlinge begrüßen.

Oder wollen wir, dass künftige Archäologen dermaleinst erschrocken staunen, vor offenen Gräbern aus dem späten 21. Jahrhundert?

Ruhrbarone.de 27. Januar 2015

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Lampedusa und die SPD

10/10/2013

 

 Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der Sozialdemokratie. Deshalb kann es nur eine sozialdemokratische Antwort auf die gescheiterte Flüchtlingspolitik der Europäischen Union geben: Wir müssen unsere Arme weit öffnen für Menschen, die ihrer alten Heimat aus Angst und Not den Rücken kehren und  unglaubliche Gefahren auf sich nehmen, um in Europa eine neue Heimat zu finden.

 So einfach ist das. Alles andere – verstärkte Frontex-Einsätze, Programme zur Verbesserung der Lage in den Heimatländern, neue Arbeitsgruppen auf EU-Ebene – ist Augenwischerei. Die Einlassungen unseres Bundesinnenministers laden zum Fremdschämen ein.

Die EU-Flüchtlingspolitik ist unmenschlich, verlogen und feige.

Unmenschlich, denn sie nimmt das Leid und den Tod Tausender von Flüchtlingen in Kauf.

Verlogen, denn sie tut so, als wolle sie das eigentlich nicht, während sie insgeheim auf den Abschreckungseffekt solcher Schiffskatastrophen wie der vor Lampedusa setzt.

Feige, denn sie sie lässt sich dabei leiten von der Angst vor rassistischen und fremdenfeindlichen Stimmungen in den Wählerschaften der EU-Mitgliedsländer.

 Die SPD ist entstanden, weil die Mächtigen des 19. Jahrhunderts den Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur auf sich bezogen. Der selbsterteilte Auftrag der Sozialdemokratie war und ist es, auf die universale Gültigkeit dieser Werte zu pochen. Immer. Sie gelten eben auch für Arbeiter, auch für Frauen, für Juden und Moslems wie für Christen. Und eben auch für Afrikaner, Syrer und Roma.

 

Die europäische Sozialdemokratie hat jetzt die Gelegenheit, diesem Auftrag einmal mehr gerecht zu werden. Indem sie auf eine grundlegende Änderung der EU-Flüchtlingspolitik dringt - und das auch mutig zum Thema der Europawahl 2014 macht.

 

Sozialdemokraten wissen aus ihrer eigenen Geschichte sehr gut, was Verfolgung, Not und Flucht bedeuten. Und wie wichtig es für Fliehende ist, in anderen Ländern auf offene Arme zu treffen. Wie Willy Brandt in Norwegen, wie Ernst Reuter in der Türkei, wie Otto Wels in Paris, wie Tausende in Großbritannien oder in den USA.

 

Eine Flüchtlings- und Asylpolitik, die sich an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, darf nicht zulassen, dass noch ein einziger weiterer Mensch im Mittelmeer oder im Atlantik ertrinkt - weil wir in Europa behaupten, unser Boot sei voll.

Vom Leben in der Mitte

18/7/2013

 
Mit „Mitte“ darf man dem Berliner nicht kommen. Erstens ist da, wo der Berliner ist, sowieso die Mitte. Weshalb die ganze Aufregung um den neuen „Flughafen“ Berliner im Grunde kalt lässt: wer braucht schon ein Flugzeug, um von Wilmersdorf zum Wannsee zu kommen?
Zweitens hat Berlin angeblich selbst eine Mitte. Jedenfalls behaupten das Touristen und die, die dort wohnen. Also Schwaben und Kreative. Menschen, die nicht wissen, dass man Brötchen „Schrippen“ nennt.

Die Mitte ist jener Ortsteil Berlins, den echte Berliner prinzipiell nicht betreten. Erstens (siehe oben), weil dort, wo sie leben - also in Schöneberg, Lichterfelde oder Neukölln - sowieso die wahre Mitte ist.

Zweitens, weil in der Gegend zwischen dem Brandenburger Tor, dem Potsdamer, dem Rosenthaler und dem Alexanderplatz Berliner Subventionsempfänger weder leben können noch wollen. Alles viel zu teuer. Currywurstfritten vierfuffzig: Nee, det gloobste nich! Und dann die vielen Schwaben und Politiker und Touristen! Alles fremdbesetzt. Wie die reden! Englisch, Spanisch, Transnistrisch - jedenfalls weder Türkisch noch Deutsch, wie es sich gehörte. Da fühlste Dir fremd.

Dabei ist der Berliner insgeheim natürlich schon ein bisschen stolz, dass seine Stadt jetzt so ungeheuer angesagt ist, bei Schwaben aus der ganzen Welt.

Junge Amis haben Stars und Stripes in den Augen, wenn sie von Berlin erzählen. Wo man für 4,50 Euro satt wird. Wo man beim Flanieren ungestraft ein Wegbier süppeln kann. Das Schönste, jedenfalls für kreative junge Amis mit betuchten Eltern: für den Preis eines fensterlosen New Yorker Wohnklos sind in Berlin ganze Häuser zu mieten! Und überall wird Englisch getalkt. Also jedenfalls in Mitte.

Berlin ist „open“ rund um die Uhr. Ständig und überall fahren Bahnen und Busse. Für peanuts, man! Cafés, die auf sich halten, bieten Breakfast auch weit nach 16 Uhr noch an. Irgendwelche Geschäfte sind immer geöffnet. Uhren und Gedächtnisse werden überflüssig. Welchen Tag wir haben? Wie spät es ist? Egal. Wer will das wissen? Jung und kreativ, alt und dement: so kommt man sich näher. Alles fließt, da, wo die Mitte ist.

Schöne Grüße
(Brief aus Berlin, für ID55/Juli 2013)

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