Aktualisiert 19. Oktober 1984 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Türkenheim stirbt. Der Duisburger Ortsteil Alt-Hüttenheim, eine geschlossene Siedlung im Eigentum der Mannesmann AG, besteht aus insgesamt 530 Wohnungen. In nur dreizehn davon leben deutsche Familien. Den Rest bewohnen Türken – bewohnten Türken: Knapp dreihundert Wohnungen sind seit dem Sommer unbewohnt. Ihre Fenster sind verrammelt mit hölzernen Läden, die großen Innenhöfe meist menschenleer. Auf den Straßen parken nur wenige Autos. Es ist still. Vereinzelt laufen spielende Kinder ins Bild, buntgekleidet, und wirken, als seien sie auf Expedition in eine Geisterstadt.
Viertausend Türken haben Duisburg verlassen, sind in ihre alte Heimat zurückgekehrt: meist ehemalige Mannesmänner mit ihren Familien. Siedlung und Fabrik trennt nichts als eine breite Autopiste. Natürlich heißt sie Mannesmannstraße.
Das Management von Mannesmann hat die anfängliche Türken-raus-Politik der christlich-liberalen Bundesregierung mit innerbetrieblichen Mitteln unterstützt. So konnten sich Mannesmann-Türken, die in die Heimat zurück wollten, nicht nur ihre gesetzlichen Rentenansprüche kapitalisieren lassen, sondern zusätzlich auch ihre Betriebsrente. Weil Geld allein nicht willig macht, lud das Unternehmen seine ausländischen Mitarbeiter außerdem zu Deutschkursen und machte ihnen klar: Wer nicht besteht, der fliegt – ohne kapitalisierte Rente.
Wenn die ungeliebten Fremden nur endlich dahin gehen, wo sie herkamen, so hoffen noch immer viele Politiker und Bürger an Kabinetts- und Stammtischen, wird es den Deutschen gleich viel besser gehen. Vor allem verschwindet endlich die leidige Arbeitslosigkeit – in Richtung Anatolien, wo sie ohnehin seit langem zu Hause ist. Endlich dürfen dann Deutsche wieder Straßen fegen, sich in Bergwerksstollen krümmen und am Hochofen schwitzen.
Doch solche Rechnungen werden ohne die Türken gemacht. Denn die Ausländer arbeiten und verdienen nicht nur hier. Sie sind zugleich auch Steuer- und Beitragszahler; sie sind Konsumenten, haben große Familien zu kleiden und zu ernähren; sie hinterlegen ihr Erspartes zumeist bei deutschen Banken; sie zahlen Mieten für Wohnungen, die deutsche Behörden ansonsten für unvermietbar halten. Als soziales „Problem“ betrachtet, sichern sie die Arbeitsplätze von Lehrern, Sozialarbeitern und Wissenschaftlern.
Alt-Hüttenheim war noch vor einem Jahr voller Leben. Deutsche und Türken feierten gemeinsam den 70. Geburtstag ihres Ortsteils. Jetzt will Mannesmann in seiner Siedlung vier von sieben Wohnblocks abreißen. Jahrzehntelang wurde hier nicht renoviert, jetzt schätzt der Eigentümer die Modernisierungskosten auf achtzigtausend Mark pro Wohnung. Die dann erforderlichen Mieten würde niemand zahlen wollen – nicht in dieser Wohnlage.
Georg Behrend, beredter Sprecher der Bürgerinitiative „Rettet Hüttenheim – er war selbst 34 Jahre lang Betriebselektriker im Werk jenseits der breiten Straße –, hält dieses Argument seines früheren Arbeitgebers allerdings für „reine Demagogie“: „Wir gucken seit siebzig Jahren auf den Hochofen. Wenn die Wohnungen hier nicht vermietbar sind, müßte man das ganze Ruhrgebiet abreißen.“ Charlie, wie ihn hier alle nennen, verweist in bestem Soziologendeutsch auf die „herrlichen Kommunikationsmöglichkeiten in den Innenhöfen“, auf das reiche Grün in den Straßen, auf das menschliche Maß der Bauten. Charlie ist offenbar alles andere als froh darüber, daß die Türken weg sind. Deren Vertreibung, so scheint ihm zu schwanen, könnte auch ihn seiner Heimat berauben.
Ihr Exodus hat jedenfalls schon manchen anderen um bisher sicher geglaubte Einkünfte beraubt. Ihre Lebensmittel-Großeinkäufe tätigten die Türken bei Aldi in Huckingen. Der verschwiegene Handelsriese gibt Umsatzzahlen nicht preis. Auch die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels hat noch nie ermittelt, was und wieviel die Gastarbeiter-Familien kaufen. Sicher glaubt man dort nur zu wissen, daß sie „gerade im Schlußverkauf eine große Rolle“ spielen.
Für Ismet Tepe dagegen ist die Sache klar. Er besitzt einen Lebensmittelladen in Alt-Hüttenheim – noch. Um sechzig Prozent, so schätzt er, sei sein Umsatz seit dem Sommer gesunken. Auch Hakki Bankaoglu gleich nebenan, der Videos verleiht und Getränke sowie Süßes verkauft, klagt über schlechte Geschäfte. Dem deutschen Bäcker um die Ecke geht es nicht anders, und mittelbar spüren die Umsatzeinbußen der türkischen Kleinhändler auch die deutschen Großhändler.
Der Leiter der Sparkassen-Zweigstelle Hüttenheim weist zwar Gerüchte energisch zurück, seine Filiale solle geschlossen werden. Doch daß der Weggang der Türken auf Spar- und Darlehenskonten durchaus deutliche Spuren hinterlassen hat, räumt er ein. 360 von insgesamt zweitausend Sparkonten, die in seiner Filiale geführt wurden, sind aufgelöst worden. Rund zwei Millionen Mark an Einlagen gingen verloren, knapp zehn Prozent der Gesamteinlage. In etwa gleicher Höhe zahlten die türkischen Ex-Kunden Darlehen vorzeitig zurück. Filialleiter Althans: „Nicht ein einziger Fall mußte der Rechtsabteilung übergeben werden. Das war schon sehr positiv, wie die Leute ihre Sachen erledigt haben.“
Die Universität Duisburg befragte türkische Arbeitnehmer danach, wie groß ihre „Rückkehrneigung“ sei. Nebenbei kam heraus, daß die Befragten nur ein Fünftel ihrer Einkommen in die Heimat überweisen. Der große Rest fließt wieder zurück in die deutsche Volkswirtschaft.
Auch die Schulträger lernen in Duisburg gegenwärtig ein „Ausländerproblem“ ganz neuer Art kennen und fürchten. 1672 türkische Schüler mußten sich im Sommer, manchmal Hals über Kopf, von ihrem Klassenverband trennen. Die beiden Hauptschulen in der Umgebung Alt-Hüttenheims bekamen zum neuen Schuljahr nur jeweils eine fünfte Klasse voll. Insgesamt meldeten sich hier weniger als fünfzig Schüler. Da die nachrückenden deutschen Schüler-Jahrgänge wegen des „Pillenknicks“ ohnehin schwach sind, gerät manche Schule in arge Existenznot, wenn jetzt auch noch die Ausländerkinder wegbleiben. Die Stadt Duisburg denke einstweilen nicht daran, eine Schule zu schließen, beteuert der zuständige Schulrat. Doch seien „für die Zukunft organisatorische Maßnahmen nicht auszuschließen“. Vorerst mußten zwanzig Lehrer versetzt werden, und die Klassen wurden kleiner.
Viele Pädagogen haben sich in den letzten Jahren mit großem Engagement weitergebildet, um den besonderen Schwierigkeiten ihrer türkischen Schüler gerecht zu werden. Viele Universitäten bieten inzwischen spezielle Ausbildungsgänge an. Nicht auszudenken, wie das Heer der arbeitslosen Akademiker weiter wachsen würde, wenn wirklich alle Türken gingen.
Von der Essener Ruhrkohle sind schon zu viele Türken weggegangen. Zeitlich parallel zur Geltungsdauer der Bonner Rückkehrhilfen spendierte das Unternehmen jedem ausländischen Mitarbeiter 2,5 Monatsgehälter plus Weihnachtsgeld, wenn er sich entschloß, vorzeitig auszuscheiden. Im Durchschnitt waren das zehntausend Mark. Das verlockte mehr Türken als geplant. Eigentlich hatten in diesem Jahr dreitausend „in die Anpassung gehen“ sollen. Jetzt werden es voraussichtlich doppelt so viele sein. Die meisten der Ausscheidenden sind erfahrene Bergleute und nicht ohne weiteres zu ersetzen. In einzelnen Abbaustreben kann der Betrieb nicht länger aufrechterhalten werden. An eine Erneuerung des spendablen Angebots, das bis zum 30. Juni befristet war, denkt bei der Ruhrkohle deshalb heute niemand mehr.
Ähnlich die Bundesregierung. Zwar gibt sie ihre Rückkehrhilfe-Aktion offiziell als „vollen Erfolg“ aus. Dennoch heißt es in Norbert Blüms Arbeitsministerium, an eine zweite Auflage werde nicht gedacht. Nicht zuletzt deshalb, weil die freundlichen Hilfeangebote oft als „Abschiebeprämien“ mißverstanden worden seien.
Die Türken haben die deutschen Politiker schon richtig verstanden. In Frankfurt erscheinen vier türkische Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 200 000 Exemplaren. Fast achtzig Prozent der von den Duisburger Wissenschaftlern befragten Türken gaben an, regelmäßig WDR 4 zu hören: Sendungen. in ihrer Muttersprache. Ausländerfeindliche Äußerungen aus Bonn machen in Kreuzberg und Hüttenheim blitzschnell die Runde.
Der Sozialwissenschaftler Faruk Sen ist sich nach vielen Gesprächen mit Landsleuten in Duisburg sicher: „Die meisten von denen, die zur Rückkehr entschlossen sind, hat nicht das Geld dazu bewogen. Der stärkste Beweggrund ist, daß sie sich von ihrer deutschen Umgebung abgelehnt fühlen.“
Obwohl der psychologische Feldzug der Bundesregierung also gelungen scheint: Der Exodus von „Türkenheim“ ist in dieser räumlich konzentrierten Form ein Einzelfall und wird es vorerst bleiben. An anderen Orten ist mit einer so massierten Rückkehr nicht zu rechnen. Denn der verbalen Peitsche ebenso zum Trotz wie dem finanziellen Zuckerbrot deuten alle vorliegenden Umfragen darauf hin, daß die Mehrheit der Türken bleiben will. Wer weiß: Vielleicht wird ihnen eines Tages nicht nur Charlie dafür dankbar sein.
Aber das Beispiel Alt-Hüttenheim macht deutlich, daß eine massive Rückkehr von Gastarbeitern nicht nur Probleme löst, sondern neue schafft.
- Quelle DIE ZEIT, 19.10.1984 Nr. 43