Häuser brannten, die ganze Nacht auf Donnerstag hindurch, Geschäfte wurden geplündert, Autofahrer auf der Straße angehalten, aus ihren Wagen gezogen und blutig geschlagen. Der Bürgermeister von Los Angeles rief den Notstand aus, der Gouverneur setzt die Nationalgarde in Marsch. Amerika erlebte einen Alptraum. All das als Folge eines Urteils.
Zwölf weiße Geschworene hatten vier weiße Polizisten im wesentlichen von der Anklage freigesprochen, einen schwarzen Verkehrssünder mit übermäßig brutaler Gewalt zusammengeschlagen zu haben. Amerikas schwarze öffentlichkeit war schockiert. Und nicht nur sie. Denn die ganze Nation hatte doch mit eigenen Augen gesehen, was damals geschehen war, am 3. März 1991. Ein Anwohner hatte auf Videofilm festgehalten, wie die vier Polizisten auf den 27jährigen Rodney King einprügelten, mit ihren Schlagstöcken, 56 mal, 81 Sekunden lang. Als sie einhielten, war Kings Bein gebrochen, sein Kopf blutig geschlagen.
Auch die Jury hatte den Film gesehen, wieder und wieder. Im Gerichtssaal stand ein Großbildschirm. Die Anklage glaubte gute Karten zu haben. Auch die schwarzen Führer, ohnehin davon überzeugt, daß die Polizei gegen Schwarze viel brutaler vorgeht als gegen Weiße, waren zuversichtlich, nun, endlich, einmal Gerechtigkeit zu erleben - so wie sie es sahen. Zumal selbst Präsident Bush von "beklemmenden" Gefühlen sprach, nachdem er die Videobilder gesehen hatte. Die vier Polizisten wurden vom Dienst suspendiert, der Polizeichef mußte seinen Hut nehmen.
Um so überraschender kam der Freispruch, nach dreitägigen intensiven Beratungen. Selbst die Angeklagen schienen es kaum glauben zu können, klopften sich vor Freude gegenseitig auf die Schulter, umarmten Verwandte. Die Zuhörer im Gerichtssaal hingegen konnten es kaum fassen. Die Menge draußen reagierte empört. Die Geschworenen verließen das Gebäude klammheimlich durch einen Hinterausgang.
Die Nachricht von dem Freispruch machte wie ein Lauffeuer die Runde. Als es Nacht wurde in Los Angeles, brannte es in den Straßen tatsächlich, in Stadtteilen, in denen überwiegend Schwarze leben. Horden von Jugendlichen zogen durch die Straßen, griffen weiße Autofahrer an. Scheiben wurden eingeschlagen. Das Fernsehen zeigte, wie ein Lastwagenfahrer aus seiner Fahrerkabine herausgezerrt wurde, mit Eisenstangen geprügelt, während gleich nebenan ein Spirituosenladen geplündert wurde. Die Schläger schienen sich über die Anwesenheit des Fernsehteams zu freuen, grinsten in die Kameras.
"Das sind keine Demonstranten, das sind Kriminelle," sagte L.A.-Oberstaatsanwalt Ira Reiner. Auch er sei unzufrieden mit dem Urteil, aber: "Wir haben es zu akzeptieren." Präsident Bush reif, beim Abendessen mit Richard von Weizsäcker, seine Mitbürger zu Ruhe und Vernunft auf. In der größten Kirche der Westküstenstadt versammelten sich Tausende schwarzer Gläubiger zu Gebeten und Gesängen. Ein Prediger rief von der Kanzel: "Wir alle sind das Opfer dieser Polizeibrutalität." Das Urteil sei "ein Angriff nicht nur auf die schwarze Rasse, sondern auf die Menschlichkeit an sich." Alle Redner mahnten gleichwohl, keine Gewalt anzuwenden, andere Mittel zu suchen, doch noch Gerechtigkeit zu erfahren. Amerikas wohl prominentester schwarzer Politiker, Jesse Jackson, forderte den Kongreß auf, die Umstände des Urteils zu untersuchen. Das Bundesjustizministerium kündigte an, es werde prüfen, ob die verbrieften Bürgerrechte durch das Urteil verletzt wurden.
Die Straßenunruhen konnten derart schlimme Formen annehmen, weil die Polizei sich zurückhielt. Leitende Beamte sagten, der Anblick Uniformierter hätte die Menge nur weiter gereizt. Auf Feuerwehrleute wurde geschossen, auch auf Polizeihubschrauber.
Sprecher des Gerichts bemühten sich zu versichern, das Urteil habe nichts mit Rassismus zu tun. Die Geschworenen hätten es sich nicht leicht gemacht. Die Verteidigung hatte argumentiert, das Videoband erzähle "nicht die ganze Geschichte." Die Aufnahmen setzten ein, als die Polizisten bereits prügelten.
Sie hatten Rodney King nach einer Verfolgungsjagd gestellt. Er war mit 125 Meilen/Stunde durch die Stadt gerast. Anwalt Michael Stone sagte, die Polizei habe "guten Grund gehabt, den Fahrer zu fürchten." King ist ein Koloß von über hundert Kilo, er war betrunken. Die Beamten, so der Anwalt, hätten zudem annehmen müssen, er stehe unter dem Einfluß der Droge PCP. Der wird nachgesagt, sie setze übermenschliche Kräfte frei. Später wurde festegellt, daß King kein PCP im Blut hatte.
Zudem müsse man die Beamten verstehen, so der Anwalt. Tagtäglich seien sie mit brutaler Gewalt konfrontiert. Stone: "Diese Polizisten werden nicht dafür bezahlt, daß sie Straßenkämpfe verlieren. sie werden nicht dafür bezahlt, sich mit Typen wie Mr. King im Schmutz zu wälzen." Von einer "feinen blauen Linie" sprach der Verteidiger in seinem Plädoyer. einer Linie, die gesetzestreue Bürger von nichtgesetzestreuen trennt. Donnerstagnacht in Los Angeles geriet diese Linie außer Sicht.
Es hätte schöner nicht sein können. Der Himmel über dem Weißen Haus war wolkenlos wie die Beziehungen zwischen Bonn und Washington, das Protokoll zog alle Register, Kinder winkten mit Fähnchen; schwarz-rot-gold und Stars and Stripes. Bundespräsident Richard von Weizsäcker besucht die Vereinigten Staaten.
Am Mittwochmorgen begrüßte ihn Präsident Bush mit allem Pomp und Prunk, den das Protokoll für solche Anlässe hergibt. Und einem Sahnehäubchen obendrauf: Eigens für den deutschen Gast waren Soldaten in Uniformen aus dem Unabhängigkeitskrieg angetreten, in roten Röcken, mit weißen Perücken und Dreispitz. Als Erinnerung an den deutschen Beitrag zur Geburt der amerikanischen Nation.
George Bush war bester Laune. Er hatte soeben die Vorwahlen seiner Republikanischen Partei in Pennsylvania gewonnen. Damit hat er die notwendige Mehrheit zur erneuten Nominierung als Präsidentschaftskandidat in der Tasche: "Es ist wundervoll, offiziell über den Berg zu sein."
Der deutsche Gast gab ihm die Gelegenheit, aus den Niederungen des Vorwahlkampfs gleich wieder hinaufzusteigen auf die Bühne der Weltpolitik. Bush nutzte seine Begrüßungsrede zur Belehrung all jener in Amerika - es sind viele -, die nach dem Ende des Kalten Krieges Abschied nehmen wollen von der amerikanischen Führungsrolle in der Welt. Bush erinnerte daran, daß auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele seiner Landsleute meinten, nun sei es genug. Nun sollten die USA sich wieder ganz auf sich selbst besinnen. Sie taten es nicht: "Das war eine weise Entscheidung." Heute sei Deutschland, der einstige Gegner, fuhr der Präsident fort, zu einem "Modell der Demokratie für die ganze Welt geworden."
Um irgendwann in der Zukunft von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ähnliches sagen zu können, müßten jetzt "Deutschland und Amerika in Partnerschaft in deren demokratische Zukunft investieren."
Bush sagte, er wünsche sich sehr, daß Deutschland nun eine größere Rolle in der Weltpolitik übernehme. Von Geld sprach er nicht, wie auch, an einem solchen Tag. Den amerikanischen Wähler interessiert aber genau das: Wieviele der Kosten, die bisher den amerikanischen Steuerzahler belasten, nimmt ihm künftig der deutsche "Partner in der Führung" ab?
Richard von Weizsäcker wird diese Frage nicht beantworten können. Nicht nur deshalb fällt es den Amerikanern schwer zu begreifen, welche Rolle der Bundespräsident in der deutschen Politik spielt. Daß jemand Bedeutung hat, der zu tagesaktuellen Fragen schweigen muß, ist hier schwer begreiflich zu machen. öber den Auftakt des Staatsbesuchs stand in den Hauptstadtzeitungen denn auch keine Zeile.
Es gab Hummer mit Gurkenmousse und Kaviarsauce, Kalbsfilet und Ananas-Champagnersorbet. Anne Willan fand das beschämend. Den 150 zum Staatsbankett ins Weiße Haus geladenen Gästen schien es hingegen zu schmecken. Präsident Bush gab ein Diner zu Ehren von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, derzeit Staatsgast in Amerika.
Frau Willan ist so etwas wie der weibliche Küchenpapst der amerikanischen Hauptstadt und der Meinung, die Köche der USA hätten Originelleres zu bieten als Hummer und Champagner. Auch die Washington Post machte sich über vermeintliche Haare in des Präsidenten Kaviarsauce her. Was Barbara und George Bush da ihren Gästen vorgesetzt hätten, sei ein typisches Luxusmahl der Schickeria, teuer und geschmacklos, befand das Blatt. Und außerdem das gleiche wie bei den letzten 19 Staatsbanketts.
(Der erste Staatsbesuch eines Präsidenten des ungeteilten Deutschland fand bisher mehr Echo in den bunten Teilen der amerikanischen Blätter als in jenen Spalten, die dort für die Politik reserviert sind. Wie sich aber selbst aus Menükarten ein Scherbengericht bereiten läßt, führte die schon zitierte Zeitung vor. Sie schloß kurzerhand von der Art des US-Präsidenten, seine Gäste zu bewirten, auf seine Politikmethode. Risikoscheu sei die und altbacken.)
Am Donnerstag wurde dem Bundespräsidenten die seltene Ehre zuteil, vor beiden Häusern des Capitols - Senat und Abgeordnetenhaus - sprechen zu dürfen. Richard von Weizsäcker gab eine weitere Probe seiner hohen Kunst, sich aus der Tagespolitik herauszuhalten und dennoch kaum ein heikles Thema auszulassen.
Er dankte den USA für Jahrzehnte der Solidarität mit Deutschland: "Thank you America!" Vor allem aber warb der Präsident um Verständnis für die heutige Situation Deutschlands. Die politische Vereinigung sei geschafft, aber noch liege "ein langer Weg vor uns." Die "abrupte" Einführung der Marktwirtschaft in der einstigen DDR sei "ein Abenteuer ohne Beispiel." Das Staatsoberhaupt fügte hinzu: "Es wird mehr Zeit und Geld kosten, als man ursprünglich dachte oder zugeben wollte." Wen er mit "man" meinte, ließ der Präsident offen.
Um den ohnehin bröckelnden Glauben der Amerikaner an die immerwährende Solidität der deutschen Wirtschaft und Politik nicht noch weiter zu erschüttern, rief Richard von Weizsäcker seinen Zuhörern anschließend aufmunternd zu: "Aber wir werden nicht scheitern!" Die Begründung lautete sinngemäß: Weil wir nicht scheitern dürfen.
Versicherung Eins folgte Versicherung zwei: Das vereinigte Deutschland werde nicht schaukeln noch wanken zwischen Ost und West. Es sei heute eher noch europäischer als die kleinere Bundesrepublik früherer Jahre. Denn: "Wir Deutschen wissen sehr genau, daß wir bei einer Rückkehr zu nationalen Alleingängen selbst die Hauptleidtragenden wären."
(Die USA betrachten mit durchaus gemischten Gefühlen, wie sich Europa zu einer wirtschaftlichen und politischen Union formiert, mit eigenen Sicherheitsinteressen und Bündnissen. Der Bundespräsident sagte, dies registrierend, er freue sich darüber, mit welchen Argusaugen Amerika darüber wache, daß EG, WEU und KSZE der Nato "keinen Abbruch tun". Denn: "Dies deutet auf ein ungebrochenes amerikanisches Interesse an Europa hin." Dieses Interesse sollten die USA sich doch bitte erhalten!
Nebenbei stärkte von Weizsäcker so seinem Gastgeber Bush den Rücken, der sich - mitten im Wahlkampf - Forderungen entgegenstemmt, die weite Welt links liegen zu assen - zuhause sei genug zu tun. Der Bundespräsident, ohne diplomatische Schnörkel: "Die USA müssen weiterhin die Führungsrolle im Team übernehmen, wenn es darum geht, die zugleich befreiende und chaotische Lage nach Auflösung des Sowjetimperiums zu meistern.")
Im Anschluß an seine Rede nahm von Weizsäcker an der alljährlichen Holocaust-Gedenkfeier jüdischer Organisationen im Capitol teil. Er hätte auch kaum anders gekonnt, ohne sich gleichsam aus dem Parlamentsgebäude herausschleichen zu müssen. Geplant war die Teilnahme ursprünglich nicht. Die Veranstalter sprachen von einem zufälligen Zusammentreffen der Termine von Trauerfeier und Staatsbesuch.
Das mag man glauben oder auch nicht. In Amerikas jüdischen Kreisen ist jedenfalls nicht vergessen, wie Bundeskanzler Helmut Kohl den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan zu einer pathetischen Versöhnungsgeste auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg drängte. Dort liegen auch SS-Angehörige begraben. Auch daß und mit welchen Randbemerkungen Kohl sich vor kurzem mit ôsterreichs Präsident Waldheim traf, ist hier sauer aufgestoßen. Waldheim haben die jüdischen Organisationen aufgrund seiner umstrittenen Kriegsvergangenheit mit einer Art Bann belegt.
Zufall oder nicht: Die deutsche Seite entschloß sich schnell, an die offizielle Version zu glauben und das beste draus zu machen. Richard von Weizsäcker besichtigte gar noch, ungeplant, den Rohbau des neuen Museums, das künftig an den deutschen Judenmord erinnern wird - mitten in Amerikas Hauptstadt.
Am Eingang wurden Kopfhörer verteilt. Die meisten griffen zu. Der Gast, so hieß es warnend, werde Deutsch sprechen. Eine respektable Zahl von Kongreßabgeordneten, Beamten und Wirtschaftslobbyisten war dennoch gekommen, um Oskar Lafontaine zu lauschen. Der entschloß sich kurzfristig, Deutsch Deutsch sein zu lassen und sprach Englisch. öber den europäischen Einigungsprozeß und die Rolle Deutschlands und vor allem: über die Kosten der Einheit.
Lafontaines Englisch klang zwar genauso selbstbewußt wie das des Weltökonomen Helmut Schmidt, aber lange nicht so geschliffen. Der Gast erinnerte entschuldigend an seinen harten Arbeitstag; in Deutschland begonnen, in Amerika dank Zeitsprung in die Länge gezogen. Amerikanische Gäste lobten anschließend zwar nicht Lafontaines Englisch, dafür aber seine Courage.
Der volle Saal für den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, das kleiner ist als mancher Vorort von New York, zeigt: Die deutsche Sicht der Dinge interessiert in Washington. Kaum die breite ôffentlichkeit, nicht die populären Fernsehstationen, aber doch die politischen Insider.
Enstsprechend deutscht es am Potomac. Kurz vor Lafontaine war Bundesfinanzminister Theo Waigel erschienen, sein Kabinettkollege und CSU-Parteifreund Carl-Dieter Spranger flog am Dienstag ein, zeitgleich mit dem Bundespräsidenten, und ein Kulturprogramm in der amerikanischen Hauptstadt heißt gar: Tribut an Deutschland.
Richard von Weizsäcker erwidert einen Staatsbesuch des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan.Reagan traf sich mit Kanzler Helmut Kohl über SS-Gräbern in Bitburg. Von Weizsäcker wird an der Holocaust-Gedenkfeier des Kongresses teilnehmen.
Anschließend fliegt er nach Georgia und Texas weiter. In San Antonio wird der Bundespräsident dabei sein, wenn der dortige "Liederkranz" sein hundertjähriges Bestehen feiert. In Washington lud von Weizsäcker als erste Amtshandlung prominente Amerikaner mit deutschen Vorfahren zum Mittagessen ein.
Ins Bild paßt auch, wie das Goethe-Institut sich bemüht, die Amerikaner davon zu überzeugen, um wieviel wichtiger das Deutsche geworden ist - weltweit -, seit der Eiserne Vorhang zu Rost zerfiel. Das Vorhaben gleicht der Lieferung von Eulen nach Athen.
In einer Hinsicht eifern die Amerikaner den Deutschen derzeit geradezu nach, vielleicht sind sie ihnen sogar schon voraus. Sie ergehen sich in leidvoller Selbstbespiegelung. Keep smiling ist out, Weltschmerz ist angesagt und Melancholie. So jedenfalls wirkt es auf einen Neuankömmling als Korrespondent in der Hauptstadt der weltletzten Supermacht.
Die Zeitungen quellen über von tieftraurigen Betrachtungen des amerikanischen Bildungswesens, des Zustands der Städte, der mangelnden Weltgewandtheit amerikanischer Manager. Der sich dahinschleppende Vorwahlkampf - Bleibt George Bush Präsident, oder wer wird es sonst? - wird zu deprimierenden Analysen des politischen Systems genutzt. Quintessenz: unreformierbar, oberflächlich, nach Effekten haschend und sonst nichts, zudem vom großen Geld regiert.
Solche Kritik ist nicht neu. Was verblüfft, ist: Die Lösungsvorschläge fehlen oder gehen unter. Lamento macht sich breit, wo doch einst die Heimat des positiven Denkens war.
Mit einer Ausnahme. Das Washington Post Magazine hat dazu aufgerufen, die Hauptstadt zu verlegen. Blickt auf die Deutschen, macht es ihnen nach!, ruft das Blatt seinen Lesern zu. Schließlich wisse doch jeder: Washington ist an allem schuld. Wenn Bonn eine Hauptstadt aus der Retorte war, dann sei Washington ein Bonn hoch zwei.
Wer Revolution will, meint der Kolumnist, könne sie von den Washingtonians nicht erwarten, denn die leben alle von dem System, so wie es ist; Anwälte und Lobbyisten, Bürokraten und Gastwirte. Die Journalisten hat er zu erwähnen vergessen.
Als bessere Hauptstadt schlägt der Autor New York vor, wahlweise Chicago oder Detroit. Denn: Die Regierung sollte da sein, wo die Menschen sind - wenigstens im Sommer, wenn es am Potomac unerträglich heiß und schwül wird.
Erhard Eppler hat das gesagt, als seine Partei, die SPD, darüber stritt, von wo aus Deutschland künftig regiert werden soll, Berlin oder Bonn. Eppler war für Berlin. Weil dort Geschichte lebendig ist. In Bonn, das ist wahr, schreien die Steine nicht, aber wie soll man es nennen, was das Bonner Brückenmännchen macht?
Es ist nicht auf den ersten Blick zu sehen, kein Schild weist den Weg dorthin, aber die Bonner haben nichts dagegen, wenn man es trotzdem findet. Für diesen Zweck, vermutlich, haben sie den Rheinuferweg angelegt. Dort kann man laufen, dort kann man Fahrrad fahren, nur mit dem Auto kommt man nicht hin, von wenigen Stellen abgesehen. Fast nebenbei ist der Rheinuferweg ganz zweifellos einer der schönsten Radwege Deutschlands. Wer will, kann ihm entlang bis Koblenz strampeln. Oder auch nur bis Mehlem oder Oberwinter. Das sind dann zwischen acht und 15 Kilometern (eine Strecke).
Vom Hauptbahnhof zum Brückenmännchen sind es nur ein paar hundert Meter. Immer Richtung Beuel. Der Weg nach Beuel, heute ein Stadtteil von Bonn, früher die bescheidene Schwester "op de schäl Sick", führt über den Rhein. über eine Brücke, die zu ihrer Entstehungszeit - 1898 - als beispielhaft modern galt. Was aber nicht der Grund dafür war, daß die Bonner ihr an die Unterseite das Brückenmännchen geklebt haben. Das machten sie, weil sie die Brücke ganz allein bezahlen mußten. Die Beueler weigerten sich strikt, einen Teil der Kosten zu tragen. Also befestigten die Bonner auf ihrer Seite, unten am Brückenpfosten am Rhein, ein gebücktes Männlein mit entblößtem Hinterteil. Das streckte es den Beuelern entgegen. Das ist die Bonner Art, Rache zu nehmen.
Heute zeigt das Hinterteil übrigens nicht mehr Richtung Beuel. Schließlich beleidigt man nicht seine eigenen Mitbürger. Seit 1949 streckt das Brückenmännchen seine vier Buchstaben merkwürdig schräg nach Südsüdost. Doch das hängt mit einem anderen Streit zusammen.
(Wenn man schon am Brückenmännchen steht, lohnt es sich, ein paar Schritte rheinabwärts zu tun, Richtung Köln also. Dort finden sich Mauerreste, ungewöhnlich für Bonn, wo man gerne gründlich aufräumt. Es sind Reste der alten Synagoge. Es bedurfte geharnischter Proteste, sie zu erhalten. Da wo einst das jüdische Gotteshaus stand, befindet sich jetzt das Parkdeck eines Hotels.)
(Rheinaufwärts steht das Geburtshaus von Peter Josef Lenné. Der schuf die Gärten von Potsdam. Die Bonner haben ihm - dafür? - ein Denkmal errichtet, direkt am Rheinufer. Neuerdings ist es eingegittert. Manfred van Rey, der Stadtarchivar, beteuert, das habe nichts mit Lennés Engagement für die Residenz bei Berlin zu tun. Das Gitter solle die Büste vielmehr vor Treibgut schützen, wenn der Rhein Hochwasser führt.)
Vorbei am einstigen Preußischen Oberbergamt - von hier aus wurde das Ruhrgebiet unteridisch erschlossen, heute büffeln hier Geschichtsstudenten - und am Alten Zoll, kommt das Hotel Königshof ins Bild. An dessen Stelle stand früher das Hotel Royal, Bonns erste Adresse, Absteige gekrönter Häupter und gerühmter Köpfe. Es fiel wie fast die gesamte alte Bonner Innenstadt einem alliierten Bombenangriff zum Opfer; am 18. Oktober 1944.
Erhalten, weil schon vor der alten Stadt gelegen, blieb das Albertinum, Ausbildungsstätte der Erzdiözese Köln. (Warum nur gilt das Bistum Köln als das aufmüpfigste, freidenkendste der katholischen Christenheit, wo doch Bonn angeblich der Hort der Beharrlichkeit ist, erzkonservativ bis in die Fundamente? Rheinische Merkwürdigkeiten.)
Nur ein paar Meter sind es vom Albertinum zum Sitz der Lesegesellschaft von 1787. Quer durch die damaligen Stände hindurch traf man sich hier zur Lektüre freigeistiger Blätter, zwar vor den Toren der Stadt, aber immerhin.
Der Rheinpavillon schräg gegenüber ist ein Denkmal einer anderen Epoche, die man heuˆte gemeinhin eher mit Bonn verbindet. Er hat Nierenform und steht auf Stelzen, ein Monument der fünfziger Jahre. Heute sieht er wieder seltsam modern und mutig aus. Dort gibt es Sauerbraten.
Es folgt das Beethovengymnasium, neben der Universität Bonns traditionsreichste Bildungsanstalt. Dann das Ernst-Moritz-Arndt-Haus. Laut van Ray hat Arndt es sich im Stil eines vorpommerschen Landhauses errichten lassen. Außerdem - Gelehrte sind seltsam - sei Arndt regelmäßig im Rhein schwimmen gegangen, selbst im November noch. Solches sieht man heute selten, und wenn, dann nur im Sommer, und zehn km weiter rheinaufwärts, wo der Rhein Strand hat und stille Buchten und es nach Basilikum duftet und nach Holzkohlenfeuer.
Es beginnt der lange Komplex des Auswärtigen Amtes. Hier fängt das Regierungsviertel an. AA und Postministerium, 1953/54 errichtet, sind die einzigen echten frühen Hauptstadtbauten in Bonn. Mitte der fünfziger Jahre verbot der Bundestag der Regierung, in Bonn zu bauen. Motto: "Jede Mark für Bonn ist Verrat an Berlin." 1966 wurde der Baustopp allerdings aufgehoben, irgendwo mußte schließlich reˆgiert werden.
Es entstand der "Lange Eugen", das Abgeordnetenhaus neben dem Bundestag, schon von weitem unübersehbar. Nebenbei hält der Turm die Erinnerung wach an den langjährigen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier. In Oberwinter, nahe am Rheinuferweg, liegt er beerdigt.
Erst in den achtziger Jahren entschloß sich die Bundesrepublik, baulich in Bonn so richˆtig etwas hermachen zu wolˆlen. In das Kernstück der neuen Hauptstadtplanung, den Plenarsaal, kann man vom Fahrradsattel aus hineinblicken - so wie die Abgeordneten werden hinausblicken können auf den Rhein. Wenn sie nicht gerade in Berlin sind.
Hinter Bundestag und Langem Eugen beginnt der Rheinauenpark. Es kann sein, daß er nicht ganz so groß ist wie der Central Park in New York. Seine Funktion aber ist ähnlich. An Sommersonntagen, wenn das Regierungsviertel ausgestorben ist, wimmelt es hier von Freizeitsportlern, und Sonnensuchern, Familien und Musikanten.
Hinter dem Rheinauenpark wird Bonn vornehm. Es beginnt das Bad Godesberger Villenviertel. Bevor sich hier Diplomaten niederließen, wußten Großbürger aus ganz Deutschland schon das milde Klima am Rhein zu schätzen; wie vor ihnen die Römer. Mancher versuchte sich die Gunst der Lage bis über den Tod hinaus zu sichern. Das Mausoleum der Famile Carstanjen, eine klassische Rotunde, könnte so auch an der Via Appia stehen oder bei einer venezianischen Villa. Der Zugang zum englischen Garten drumherum ist heute mit einem Vorhängeschloß gesichert. Eigentümer des Geländes ist die Bundesvermögensverwaltung.
Das Hotel Schaumburger Hof gehört hingegen der WestLB. Heinrich Heine hat sich hier einst so wohlgefühlt, daß ihn das Reimen überkam. ähnlich sollte es Gästen des Landes NRW ergehen. Das Traditionshotel sollte staatliches Gästehaus werden. Vorbei. Jetzt wird ein Käufer gesucht.
Wer einen Rheinwein unter Bäumen mit Aussicht auf Petersberg und Drachenfels trinken will, muß deshalb etwas weiter radeln, bis zum Alten Weinhaus Mehlem. Das ist nach wie vor in Privatbesitz, nach wie vor geöffnet und nach wie vor beliebt.
Auch das Rheinhotel Dreeßen gibt es noch. Daß Adolf Hitler sich hier fast so gerne aufhielt wie auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, hat der Hoteliersfamilie niemand übelgenommen. Schließlich gab es das Hotel schon vor des "Führers" Zeiten.
Die Berliner Hohenzollern fanden diesen Rheinabschnitt gar so schön, daß sie sich dort einen eigenen Bahnhof erichten ließen. Heute ist der Bahnhof Rolandseck Galerie und Kulturzentrum. Wer bis hierhin geradelt ist, hat vorher den Rolandsbogen passiert. Von dort aus - allerdings ist er nur zu Fuß zu erklimmen - ist die Aussicht auf das Siebengebirge am eindrucksvollsten. Ferdinand Freiligrath hat sie zuerst gerühmt, Willy Schneider später. Texte sind im Restaurant zu besichtigen.
Wer den Weg zum Brückenmännchen auf der anderen Rheinseite zurückradeln will, kann mit der Fähre übersetzen, entweder in Rolandseck oder schon in Godesberg oder Mehlem, vielleicht gar mit jener Fähre, die einst Konrad Adenauer allabendlich hinüberbrachte zu seinem Wohnhaus in Rhöndorf.
Fast hätte Adenauer es weniger bequem gehabt, fast hätte er weiter fahren müssen bis zum Kanzleramt, fast wäre das weltstädtische Frankfurt in der Geburtsstunde der Bundesrepublik "vorläufiger Sitz der obersten Bundesbehörden" geworden. Es kam anders, wenn die Mehrheit für Bonn auch knapp war.
Seither streckt das Brückenmännchen seinen Po gen Frankfurt. ätsch!
Angst haben wir Menschen zunächst und vor allem, ja fast immer vor dem Unbekannten, vor dem Fremden. Wer Angst machen will, tut sich am leichtesten, mit dem Finger auf Fremde zu zeigen. Auf Zigeuner, auf Moslems, auf "Welschmänner", auf Juden, auf Gelbe, auf Schwarze: Seht her, die apokalyptischen Reiter nahen! Fürchtet Euch!
"Asyl" heißt das Schlagwort der aktuellen Angstdebatte. Hinter der "Asylantenflut" von heute werden schon die Heerscharen geortet, die morgen ihre Krals und Slums verlassen könnten, zwischen Wladiwostok und Kalutta, und dahin drängen, wo die Fleischtöpfe sind. Zu uns.
Für viele scheint ausgemacht, daß diese Gefahr gebannt werden muß. "Das Boot ist voll", heißt ihr Kampfruf.
Was tun, um nicht panisch zu werden? Lesen! Nämlich:
Beate Winkler, Zukunftsangst Einwanderung, Beck‘sche Reihe, 1992, 117 Seiten, 14,80 DM, ein Taschenbuch, oder
Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland, Migration in Geschichte und Gegenwart, Verlag C.H. Beck, 1992, 542 Seiten, 68 DM, gebunden.˙Die erste Botschaft beider Bücher ist: Immer sind Menschen gewandert, ausgewandert, haben ihre Heimat verlassen, auf der Flucht vor Krieg, Not, Katastrophen, Unterdrückung. Es waren regelmäßig die mobileren, die mutigsten, die das Angestammte hinter sich ließen, um ein neues Leben in der Fremde zu beginnen. Das gilt für die Deutschen - "Flandrer", "Teutonen" oder "Sachsen" -, die einst nach Osten zogen oder, später, nach Amerika, millionenfach, ebenso wie für die vietnamesischen "boat people" heutiger Tage.
Die zweite Botschaft: Noch nie ist ein Staat zugrundegegangen, weil viele Ausländer in ihm Bürger werden wollten. Im Gegenteil: Gerade wo Kulturen aufeinandertrafen, Völker sich friedlich mischten, gedieh der Wohlstand vergleichsweise prächtig. Das war im römischen Weltreich so, das galt für Amerika - und auch die Geschichte des Wirtschaftswunderlands Bundesrepublik ist eine Geschichte der Integration von Alteingessenen und Neuen, erst aus dem Osten, dann aus dem Süden, jetzt wieder aus dem Osten.
Beate Winkler will auf die Schnelle noch eine "ganzheitliche" Wanderungs- und Minderheitenpolitik entwerfen. Das ist gut gemeint und wirkt doch, als schriebe Dr. Lieschen Müller über Politik. Macht aber nichts. Denn wer die Fakten aufnimmt, die ihm beide Bücher bieten - knapp und zugespitzt im einen, liebevoll ausgebreitet in dem anderen, für den haben die apokalyptischen Reiter "Asylantenflut" und "neue Völkerwanderung" menschliche Gesichter bekommen. Er wird künftig weniger leicht einzuschüchtern sein, hat also viel gewonnen.
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