Aktualisiert 14. September 1984 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Die Feststellung ist kühl und verblüffend: „Es gibt keine Lehrerarbeitslosigkeit“, sagt Dieter Otten, Professor für Soziologie und Sozialgeschichte in Osnabrück. Dennoch ist ständig von dreißig- oder gar sechzigtausend arbeitslosen jungen Lehrern zu lesen, deren Zahl bis zum Ende des Jahrzehnts auf fast zweihunderttausend wachsen soll. „Das sind“, korrigiert Otten, „arbeitslose Akademiker wie andere auch.“ Lehrer könnten nicht arbeitslos sein, denn Lehrer seien Beamte.
Kaum eine Gruppe unter den Arbeitslosen wird so voller Mitgefühl und Sorge beobachtet, wie die der nicht in den Schuldienst übernommenen Lehramtsanwärter. Davon gibt es derzeit in der Tat genug. Kaum eine Gruppe bekommt so viele gute Ratschläge zu hören, für kaum eine werden mehr – meist staatliche – Hilfen ersonnen.
Die Schülerzahlen nehmen ab, die Kassen sind leer, und die Finanzminister der Länder freuen sich über jede Lehrerstelle, die sie streichen können. Selbst die Kultusminister gestanden nach und nach ein, daß sich nicht länger alle examinierten Lehramtsanwärter im Schuldienst unterbringen lassen. Einen totalen Einstellungsstopp, argumentieren sie quer durch die Parteien, dürfe es aber auch nicht geben.
Schlagzeilen provozieren regelmäßig die Pressekonferenzen des nordrhein-westfäliscnen Kultusministers Hans Schwier. Hartnäckig erneuert er immer wieder einen Vorschlag seines Amtsvorgängers Jürgen Girgensohn, die Arbeitszeit aller Lehrer um eine Unterrichsstunde pro Woche und ihre Gehälter um rund vier Prozent zu kürzen, um so in den Schulen Platz für „junge Lehrer mit neuen Ideen“ zu schaffen. In einigen anderen Bundesländern können etablierte Lehrer solchen Verzicht schon üben – freiwillig allerdings und manchmal ausschließlich zur Freude der Finanzminister, denn Ersatz wird nicht beschafft.
Die Kultusminister wehren sich seit langem, unterschiedlich hartnäckig und mit unterschiedlichem Erfolg, gegen Planstellenstreichungen. Sie möchten gern, daß es keine „kw-Vermerke“ – „künftig wegfallend“ – hinter rechnerisch überzähligen Stellen mehr gibt. Die Finanzminister dagegen verrechnen gern kw-Stellen gegen solche, die frei werden, weil andere Lehrer Teilzeitarbeit praktizieren. Was nutzt der Verzicht auf Unterrichtsstunden und Einkommen, fragen die Lehrer in den Schulen, wenn dadurch nur kw-Vermerke wegfallen, aber niemand neu eingestellt wird?
Einige Bundesländer schrieben immerhin in ihre Beamtengesetze, daß Stellen, die nicht aus familiären, sondern erklärtermaßen „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ freigemacht werden, auf jeden Fall wieder zu besetzen sind – allerdings nicht zwangsläufig an derselben Schule. Stundensammein für einen ganz bestimmten Wunsch-Lehrer führt also nicht immer zum gewünschten Erfolg. Bundestag und Bundesrat haben in diesen Wochen die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ im Beamtenrechtsrahmengesetz beträchtlich erweitert.
Nebenher bemühen sich die Kultusminister, Abiturienten vom Lehrerstudium abzuhalten und Ausbildungskapazitäten zu verringern. Die SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen möchte einige Studiengänge „einfrieren“. Die CDU-Regierung in Stuttgart hat drei pädagogische Hochschulen gegen den erbitterten Widerstand der heimischen SPD-Opposition kurzerhand geschlossen.
An guten Ratschlägen für diejenigen, die dennoch studieren, am Ende aber keine Stelle finden, mangelt es nicht. Manche sind sinnvoll, andere skurril. Der niedersächsische Kultusminister Georg-Bernd Oschatz hat von sich reden gemacht, als er junge Lehrer nach Georgia, USA, exportierte. Das Beispiel soll Schule machen. Deutsche Lehrer gelten als blendend ausgebildet, werden im Ausland aber auch schlechter bezahlt als hierzulande. Der Philologenverband, die Standesorganisation der Gymnasiallehrer, will Kollegen in die Dritte Welt schicken; nach Zimbabwe, Ghana, Togo und auf die Philippinen. Dort herrsche überall noch großer Mangel an Lehrkräften.
Die Johanniter Unfallhilfe in Köln stellt gegenwärtig – innerhalb eines zweijährigen Pilotprojektes – fünfzig arbeitslose Pädagogen ein, die sich für Führungspositionen in karitativen Organisationen qualifizieren sollen. Weiterbildungsinstitute setzen ihre Mitarbeiter auf die Frage an, wie Lehrer in der freien Wirtschaft zu verwenden wären. Die Wirtschaftsakademie in Bad Harzburg etwa bildet Lehrer in Fernstudiengängen zu Direktionsassistenten aus und hofft, so einen „völlig neuen Managertypus“ kreieren zu können: gebildet, lernorientiert und pädagogisch beschlagen. Jeder Lehramtsstudent, das liegt auf der Hand, ist zu einer solchen Zukunft nicht berufen.
Auch in den Schulen gebe es durchaus noch Arbeit genug für alle Lehramtsanwärter, behaupten Pädagogen. Sie argumentieren so: Der Bedarf an neuen Lehrern ergibt sich aus der sogenannten Schüler-Lehrer-Relation. Im Bundesdurchschnitt liegt sie heute bei eins zu 17 bis eins zu 18. Dennoch sitzen in vielen Klassen noch mehr als dreißig Schüler, und beinahe überall fällt Unterricht aus – nicht allein weil es zu wenig Lehnr gibt, sondern weil Lehrer mit der richtigen Fächerkombination fehlen. Eine objektiv richtige, optimale Schüler-Lehrer-Relation gibt es nicht. Die Wunschzahl wird willkürlich festgesetzt. Bekommen die Schulen mehr Lehrer, selbst bei summarisch gleicher Pflichtstundenzahl, werden sie in ihrer Stundenplanung beweglicher.
Die meisten Hoffnungen ruhen deshalb auf der Arbeitszeitverkürzung. Mancherorts bekommen neu eingestellte Lehrer schon von vornherein keine volle Stelle mehr. Die meisten Bundesländer haben den freiwilligen Verzicht etablierter Lehrer auf ein Viertel, ein Drittel oder gar die Hälfte ihrer Stelle erleichtert. In Bayern allein konnten dadurch im vergangenen Schuljahr 530 volle Stellen zusätzlich geschaffen werden. „Einige hindert“ sollen es auch 1984/85 wieder sein. Ähnliche Zahlen sind aus Nordrhein-Westfalen zu hören. Anderswo, etwa in Niedersachsen, hat der Finanzminister der Neubesetzung solcherart freiwerdender Stellen noch bis in dieses Jahr hinein Widerstand entgegengesetzt.
Lothar Späth und sein Minister Gerhard Mayer-Vorfelder in Baden-Württemberg haben zusätzlich das „Reduktionsmodell“ erfunden: Vollzeitlehrer verzichten freiwillig auf eine oder zwei Unterrichtsstunden bei entsprechendem Gehaltsabzug. Dadurch konnten 110 zusätzliche Stellen zum neuen Schuljahr geschaffen werden: „Ein schöner Erfolg“, läßt der Minister verkünden.
In Schleswig-Holstein haben alle fünf Lehrerorganisationen zu Spenden aufgerufen. Die Landesregierung stellte 500 000 Mark bereit, und jeder bestallte Lehrer hätte zwanzig Mark hinzufügen sollen, um so zwanzig Einjahresverträge mit arbeitslosen Anwärtern abschließen zu können. Leider flossen die Lehrerspenden nicht so üppig wie erhofft. Zum Schuljahresbeginn reichte das Geld nur für vierzehn Verträge „im Wert von zwölf vollen Stellen“.
Hessische Gesamtschuldirektoren schlugen jüngst die Gründung einer Art öffentlich-rechtlicher Lehrstellen-Sammel- und Verteilanstalt vor, finanziert durch Gehaltsabtretungen und Zuschüsse des Landes sowie der Bundesanstalt für Arbeit.
Kultusminister Schwier in Nordrhein-Westfalen mag auf Appelle, Spenden und Freiwilligkeit allein nicht bauen. Er will das, was in Baden-Württemberg Reduktionsmodell heißt und freiwillig ist, zwangsweise allen Lehrern aufbrummen. Erforderlich wäre dazu eine Änderung des Beamtenrechtes oder – hilfsweise – eine Verlagerung der Besoldungskompetenzen für Lehrer vom Bund auf die Länder. Der Verzicht aller Lehrer auf eine Pflichtstunde und vier Prozent vom Einkommen, rechnet Schwier vor, brächte allein in Nordrhein-Westfalen sechstausend neue Stellen. Seinen Kabinettskollegen empfiehlt er, mit anderen Beamtengruppen ebenso zu verfahren. Ein Sonderopfer sollen die Lehrer nicht bringen. Sie sollen vielmehr Vorreiter sein für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich im öffentlichen Dienst.
Fest steht, daß keine Beamtengruppe heute so gut besoldet wird wie die der Lehrer. Außerdem werden, gerade in Nordrhein-Westfalen, viele Lehrer für Funktionen bezahlt, die sie gar nicht ausüben. An manchen Gymnasien treten sich zahlreiche Studiendirektoren bei ihrem vergeblichen Bemühen, den Schulleiter in Leitungsfunktionen zu unterstützen oder ihn zu vertreten, gegenseitig auf die Füße. Die Unwucht im Stellenkegel ist Kaum zu beseitigen. Rückstufungen sind selten im Öffentlichen Dienst.
Die Front der Gegner von Arbeitszeitverkürzungen bei Lohnverzicht ist bunt, breit und gut gestaffelt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist dagegen, weil sie Rücksicht nehmen muß auf die Kollegen von der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), die im Herbst um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kämpfen will. Arbeitslose Gewerkschafter hingegen sind sehr oft im Grunde dafür, doch wiederum nur, wenn es alle träfe, nicht nur die Lehrer und auch nicht nur die Beamten.
Zu binnengewerkschaftlichen Rücksichten und Skrupeln aus Prinzipientreue gesellen sich Gruppenegoismus und Besitzstandsdenken. Lehrer, die auf Unterrichtsstunden verzichten sollen, fürchten um Kinderzuschläge und Pensionen. Mahnend und nicht ohne Selbstmitleid erinnern sie den Staat an seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Dienern. Dieses kindlich-vertrauende Verhältnis zum Arbeitgeber, der sich zu kümmern habe wie eine Henne um ihre Küken, haben selbst viele Lehramtsanwärter schon vorab verinnerlicht.
Schließlich scheitern alle Vorschläge zur Neuordnung von Arbeitszeitstruktur und Besoldung an der quasi heiligen Unberührbarkeit des deutschen Beamtenrechts. Ein Beamter habe seine volle Arbeitskraft dem Staate zu widmen, heißt es. Dafür werde er nicht schnöde entlohnt, sondern alimentiert, und zwar – anders als ein Kind – auf Lebenszeit.
Die innovationshemmende Kraft des Beamtenrechts und gleichzeitig die stille Macht seiner Verwalter und Wahrer belegt anschaulich das Schicksal, das dem Vorschlag des vormaligen Hamburger Wissenschaftssenators Hansjörg Sinn widerfuhr. Der parteilose Chemieprofessor dachte sich Anfang 1983 das Modell eines Lehrers auf Zeit aus. Sinn-Lehrer sollten einen Vertrag bekommen, der auf zehn Jahre befristet ist, von denen der Pädagoge acht an der Schule verbringt und die letzten zwei für ein „Umorientierungsstudium“ nutzt. Während der gesamten Dauer des Vertragsverhältnisses hätte er vier Fünftel der tariflichen Bezüge erhalten.
Obwohl der Hamburger Senator sich, wie es heißt, „in Karlsruhe rückversichert“ hatte, obwohl er auch Pläne zur Finanzierung unterbreitete, und Experten noch heute von einer der intelligentesten Lösungen sprechen, ist es um den Sinn-Vorschlag sehr rasch ruhig geworden. Der Hamburger Senat und die Kultusministerkonferenz verhielten sich abwartend. Niemand wollte sich den Mund verbrennen, indem er diesen Angriff auf das Beamtenrecht voreilig begrüßte. Statt dessen wurde beschlossen, die rechtliche Seite prüfen zu lassen – durch Beamte. Die Hamburger Behörden prüften denn auch prompt etwas ganz anderes: warum sich der Vorschlag rechtlich nicht durchsetzen läßt. Und dabei nahmen sie sich soviel Zeit, daß Hansjörg Sinn bei Vorlage des Rechtsgutachtens schon auf dem Weg aus dem Amt war. Sein Nachfolger, Klaus Meyer-Abich, hat noch nicht entschieden, ob er den Sinn-Plan wieder aus der Schublade ziehen will.
Das Lehramt auf Zeit hätte es seinem Inhaber ermöglicht, eine berufliche Fehlentscheidung zu revidieren. Nicht nur, daß mancher begabte Pädagoge heute nicht in den Schuldienst hineinkommt: Viele Unbegabte kommen auch nicht wieder heraus. Die Klagen über Disziplinlosigkeiten von Schülern und Schulstreß der Lehrer häufen sich – insbesondere aus jenen Jahrgängen von Pädagogen, die zu Zeiten dies Lehrermangels nach ihrer Ausbildung ohne allzu genaue Prüfung ihrer Eignung geschlossen übernommen wurden. Die Sicherheit des Beamtendaseins erschwert ihnen nun den Ausstieg aus einem ungeliebten Beruf. Und der Staat kann von sich aus kaum je einen Lehrer wieder loswerden, mag seine Eignung auch noch so zweifelhaft sein.
Der obligate Beamten-Status des Lehrers oder, wie der anfangs zitierte Soziologe Dieter Otten meint, „die Monostruktur des Berufsfeldes der Lehrer“ ist schuld an jener „sinnlosen Vergeudung von Bildungsinvestitionen“, die unzutreffend als Lehrerarbeitslosigkeit in die Diskussion geraten ist. Otten fordert einen „offenen Arbeitsmarkt“ und ein offenes Berufsausbildungssystem für Pädagogen. Das staatliche Monopol auf die Bildung der Bürger sei längst nicht mehr zeitgemäß. Otten skizziert das Bild „niedergelassener Lehrer“ und einer Vermehrung freier Scnulen. Gäbe es ein entsprechendes Angebot, glaubt er, würde sich eine starke Nachfrage nach Lehrerarbeit entwickeln.
- Quelle DIE ZEIT, 14.9.1984 Nr. 38