Aktualisiert 13. Januar 1989 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Rund 250 000 Studienempfänger strömten zu Beginn des Wintersemesters in die heruntergewirtschafteten bundesdeutschen Hochschulen – viel mehr als je zuvor. Das weiß inzwischen jeder, der in Deutschland Zeitung lesen kann, denn alle haben es berichtet – von Bild über Spiegel bis zur ZEIT – bebildert, bestaunt. Und so hat auch jeder Verständnis für die armen Studenten und ihre Professoren, die zusammengepfercht in ihren Hörsälen streiken. Der deutsche Katastrophen-Voyeur hat ihnen ein Kämmerlein in seinem weiten Herzen freigemacht, nahe dem für die Hühner aus den Legebatterien. Er hat ein neues Notstandsgebiet entdeckt, den Campus.
Die Zahl 250 000 ist frei erfunden. Es war im 26. September des alten Jahres, das neue Semester hatte noch nicht begonnen, in Bonn tagte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Den Vorsitz in dieser normalerweise gepflegt gelangweilten Runde aus Bildungsbürokraten und -politikern führte Jürgen W. Möllemann, der Bundesbildungsminister. Da die reguläre Tagesordnung an jenem Tag – wie meist – beim besten Willen keine Schlagzeile versprach, erteilte der Vorsitzende sich selbst das Wort zu einer Philippika gegen alle Abwarter, Abwiegler und Abwäger. Er machte das „Affentheater“ – so stand es am nächsten Tag auch brav in den Zeitungen – nicht länger mit, hier mit den Ländern über irgendwelche Kautelen oder Kompetenzchen zu feilschen, derweilen draußen 250 000 junge Menschen zusätzlich in die Hörsäle drängten, viel mehr als je zuvor. Wer auf diese spektakuläre Zahl nicht spektakulär reagiere, werde bald sein blaues Wunder erleben.
Die versammelten Minister und Staatssekretäre der Wissenschafts- und Kulturressorts in den Ländern wunderten sich zum einen über den Kenntnisstand des Kollegen aus dem Bund, denn verläßliche Studentenzahlen gibt es immer erst etwa zwei Monate nach Studienbeginn. Zum anderen staunten sie über die Art, wie sie angeblafft wurden – an einem Ort, wo Sottisen sonst das Äußerste sind, was man einander zuwirft. Der eine oder andere Dienstherr der Hochschulen machte sich noch die Mühe, auf die Anstrengungen hinzuweisen, die seine Regierung durchaus schon eingeleitet habe, um den vielen Studierenden gerecht zu werden ... Das sei alles Kleinkram, belehrte ihn der Vorsitzende, ein Zwei-Milliarden-Programm müsse her, und er, Möllemann, werde die Hälfte davon schon beschaffen, wenn die Kollegen aus den Ländern vorher die andere Milliarde auf den Tisch legten. Nein, mit dem Kanzler oder Herrn Stoltenberg habe er noch nicht gesprochen, aber, wie gesagt, über Kinkerlitzchen solle man doch bitte schweigen, wo von einer nationalen Aufgabe die Rede sei.
Der „Neue Studentenboom“ war geboren, noch ehe es ihn gab. Pünktlich zum Vorlesungsbeginn schickte jeder Chefredakteur, der sich auf seinen scharfen Themen-Riecher viel zugute hält, Photographen und Reporter in die nächste Alma mater. Fündig zu werden, fiel denen nicht schwer, denn die Anfängervorlesungen quollen tatsächlich über, wie jedes Jahr um diese Zeit und besonders im Modefach der Saison, der Betriebswirtschaftslehre. Und so lachte dem Zeitungsleser am nächsten Morgen allüberall der Student mit dem Klappstuhl gequält entgegen.
Für die Studenten begannen herrliche Wochen. Nach entbehrungsreichen Jahren ohne öffentliche Aufmerksamkeit und Zuneigung war endlich ihre Meinung zur Ausbildungssituation gefragt, und wie. Natürlich wußten sie die richtige Antwort: Katastrophal!
Sie wären nicht die Blüte ihres Jahrgangs, wenn die Studienanfänger nicht sofort begriffen hätten: Jetzt ist action gefragt. Als hellwache Medien-Demokraten formierten sie sich prompt zur „Neuen Studentenbewegung“. Es begann mit vereinzelten Streiks, die kaum anders verliefen als jedes Jahr zu dieser Zeit. Nur mit zwei kleinen Unterschieden: Diesmal wurde die Rektoratsbesetzung in Duisburg, die im vorigen Jahr selbst vom örtlichen Anzeigenblatt verschlafen worden wäre, noch in Hamburg und Frankfurt mit einem wollüstigschaudernden „Na-bitte!“ medienmäßig registriert; und die Akteure wirkten diesmal viel zuversichtlicher und fröhlicher als sonst – und wurden bald auch zahlreicher.
Im Gegensatz zur „Alten Studentenbewegung“ betrat die neue eine bereits gut ausgeleuchtete Bühne vor einem ergriffen wartenden Publikum. Der Auftritt gelang, der Applaus brandete von taz bis FAZ und zurück. Besonders beglückt zeigte sich das Frankfurter Blatt: Endlich eine Studentenbewegung, wie man sich den Schwiegersohn wünscht: zielstrebig und brav, das Machbare stets im Blick, großen Theorien abhold, selbstbewußt und dabei heiter. Und dann noch Hand in Hand mit den Herren Professoren! Herzerquickend. Erst als zu den artigen Forderungen nach mehr Professoren und größeren Hörsälen auch solche nach einer Veränderung der Paritäten in den Gremien kamen, hob die FAZ leitartikelnd ihren Zeigefinger: Kinder, folgt nicht den linken Verführern!
Da fügte es sich gut, daß just in dieser Zeit die Regierungschefs aus Bund und Ländern dem Bundesbildungsminister und den Studenten ein schönes Weihnachtsgeschenk einzupacken versprachen: ein – tatsächlich – Zwei-Milliarden-Programm. Gestreckt auf sieben Jahre. Ordentliches Protestieren sei eben erfolgreich, schrieben einige Kommentatoren flink – und stellten ihr eigenes Licht gehörig unter den Scheffel.
Die Aktivisten unter den Studenten rochen zwar den Braten und forderten flugs zwei Milliarden jährlich. Doch ist noch sehr die Frage, was im neuen Jahr übrig sein wird von der neuen Bewegung der Studenten. Hochschulleitungen, die nun die gerufenen Geister auch gern wieder in der Flasche hätten, haben noch kurz vor Ausrufung der akademischen Weihnachtspause sedierend gedroht, womöglich ein ganzes, im Streik vertanes Semester nicht anerkennen zu können. Das wird auf die angehenden Schwiegersöhne (und -töchter) seine Wirkung doch wohl nicht verfehlen. Denn, mein Gott, wenn es jetzt kein Ende hätte mit dem Protest, wenn es weiterginge: Was dann alles aufbrechen könnte! Zwar tragen deutsche Professoren ihren Talar heute zumeist nur bei Festlichkeiten im Ausland – Muff ist aber immer noch genug darunter.
Daß Geld es ist, was bundesdeutschen Hochschulen noch am wenigsten fehlt, wird jeder Gastdozent aus dem Ausland, jeder Humboldt-Stipendiat bestätigen. Aber vielleicht würde ja, wenn wieder mehr an und über Hochschulen diskutiert würde, darüber gesprochen, warum die meisten akademischen Studienordnungen noch immer so aussehen, als sei es die einzige Aufgabe der Universität, ihre Professoren zu reproduzieren. Wo doch weit mehr als 90 Prozent aller Hochschulabsolventen dermaleinst alles mögliche tun und sein werden, nur das eine nicht: deutscher Professor.
Oder es würde darüber gesprochen, warum Generationen angehender Juristen nach der ersten Orientierungsphase in tatsächlich vollen Hörsälen zu den Repetitoren pilgern. Oder darüber, warum es unter den rund 25 000 Professoren so wenige von Weltruf gibt – und auch nur wenige, die ihre Studenten begeistern können und wollen.
Denn es stimmt schon, daß es die angehimmelte Hochschulautonomie nicht gibt, deren Verlust immer dann besonders elegisch beklagt wird, wenn es über den Staat zu zetern gilt, dessen bürokratische Organe gelegentlich ihrer Pflicht nachkommen, den Fluß der Milliarden Mark an Steuergeldern hinein in die Hochschulen mehr oder weniger penibel zu kontrollieren oder (Pfui Teufel!) in Einzelfällen sogar in Frage zu stellen. Ansonsten gibt es nur die alltägliche Autonomie des Hochschullehrers, insbesondere desjenigen mit dem C4-Gütesiegel. Acht Wochenstunden während des laufenden Semesters (das gottlob nie lange dauert) muß er in der Regel der Lehre widmen. Worüber und auf welche Art, ist fast vollständig ihm überlassen. In der restlichen Zeit forscht er wahrscheinlich.
Hochschulleitungen gelingt es im besten Fall, die zahlreichen Partikularinteressen der Hochschulangehörigen zu bündeln durch Addition und Vorlage der Rechnung beim großen Nährer Staat. Oder sie verkörpern sich in starken Rektoren oder Präsidenten, welche als leicht barocke Figuren die hinter ihnen stehende „öffentliche Körperschaft“ repräsentieren wie konstitutionelle Monarchen. Der akademische Mittelbau darf sich um die Einheit von Forschung und Lehre kümmern und seinen Frust in der Personalvertretung artikulieren. Die Studenten sollen studieren.
Im „Dossier“ der ZEIT war jüngst die originelle Behauptung zu lesen, die Ausrufung des Bildungsnotstandes durch Georg Picht in den sechziger Jahren habe den massiven Ausbau der Natur- und Ingenieurwissenschaften und den damit einhergehenden Verfall der rühmlichen deutschen Geisteswissenschaften zur Folge gehabt. Kann schon sein, daß Verfall das richtige Wort ist. Sollte es ihn geben, hinge er aber sicher nicht damit zusammen, daß es in der Bundesrepublik heute zu wenig Philosophen, Philologen oder Pädagogen – im akademischen Sinne – gäbe. Das Gegenteil ist der Fall: Nie gab es in diesem Lande so viele davon. Die Zeit des gigantischen Ausbaus der Hochschulen war auch die Zeit des großen Lehrerausbildungsschubs – und die der Aufblähung der Philosophischen Fakultäten.
Dennoch kommt kaum einer der Gedanken, die sporadisch die Welt bewegen, wenigstens die bundesdeutsche, aus den Studierstuben der Universitäten. Woran mag es liegen, daß ein einziger Aufsatz von – sagen wir: Hans Magnus Enzensberger – mehr anregende Ideen enthält als zehn geisteswissenschaftliche Dissertationen heute üblicher Art? Auch darüber könnte gesprochen werden, wie über vieles mehr.
Wahrscheinlich wird aber überhaupt nicht gesprochen. Am Ende müßte man sonst womöglich Konsequenzen ziehen. Wahrscheinlich werden „Neuer Bildungsnotstand“ und „Neue Studentenbewegung“ genauso enden wie andere Saison-Phänomene auch: Geld rein, Klappe zu.
Schade wär’s.
- Quelle DIE ZEIT, 13.1.1989 Nr. 03