Aktualisiert 29. November 1985 07:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Wieviel Informatik braucht der Mensch? Ist der Computer im Klassenzimmer die neue große Lernhilfe, die gequälten Pädagogen zu der beglückenden Erfahrung verhilft, daß es doch noch fleißige, begeisterungsfähige, konzentriert lernende Schüler gibt? Oder macht er, im Gegenteil, jede pädagogische Anstrengung zunichte, förderte er die schleichende Digitalisierung des Bewußtseins, produziert er, als Medium der Welterfahrung, Menschen, die, wie der Computer nur zwischen eins und null, ihrerseits nur zwischen schwarz und weiß zu unterscheiden vermögen? Menschen mit Mattscheibe also, die „Dallas“ für die Wirklichkeit nehmen?
Seit gut zwei Jahren wogt dieser Streit in deutschen Klassenzimmern, Seminarsälen und Zeitungsspalten hin und her. Nun, allmählich, legt sich der Rauch, und erkennbar wird: Die Fronten haben sich verschoben, die staatliche Anstalt Schule nimmt ihn an, den Computer.
Als erstes Bundesland hat, jetzt im Herbst, ausgerechnet das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen ein Rahmenkonzept „Neue Informations- und Kommunikationstechnologien in der Schule“ vorgelegt. Danach sollen künftig zwischen Aachen und Paderborn, zwischen Siegen und Münster alle Schüler der Jahrgangsklassen sechs bis acht ein informationstechnisches Grundwissen erwerben, und zwar in den Unterrichtsstunden traditioneller Fächer. Ein eigenes (Wahl-)Fach Informatik wird es erst ab Klasse neun geben. Es kann dann auch Abiturfach sein.
Zunächst sollen 24 ausgewählte Schulen das Rahmenkonzept erproben und mit Erfahrungen füllen. In einigen Grundschulen wird zudem ausprobiert werden, ob der Rechner mit Glotze auch schon für die Kleinsten als Lernmittel taugt.
Daß Nordrhein-Westfalen es plötzlich so eilig hat, mag auf den ersten Blick verwundern. Hatte man sich doch daran gewöhnt, daß die lautesten Chip-chip-Hurra-Rufe aus den Kultusministerien der CDU-regierten Länder schallten, gleichsam als Echo auf Prophezeiungen aus dem Dunstkreis der Industrie, schon 1990 würden 70 Prozent aller Bundesbürger im Alltag mit neuen Informationstechniken zu tun haben. Das Computern werde bald so wichtig sein wie Schreiben, Lesen und Rechnen. Wie die anderen drei müsse die Schule auch diese neue, vierte, „Kulturtechnik“ vermitteln. Warnend wurde vorgerechnet, wie viele Rechner und Terminals bereits in amerikanischen oder britischen Schulen stehen. Offenbar zutiefst besorgt um das Weltniveau des deutschen Bildungswesens überschwemmten die Computer-Hersteller die Schulen mit Sonderangeboten. Ergebnis: Schon jetzt dürfte mindestens jede zweite deutsche Lehranstalt über elektronische Rechner irgendwelcher Art und Güte verfügen.
Am computerfreudigsten sind die Gymnasien. In Nordrhein-Westfalen sollen, nach Berechnungen des Landes-Kultusministeriums, bereits jetzt 85 Prozent aller Schulen dieses Typs mindestens Zugang zu einem Rechner haben. Ziel sei es, daß für je höchstens drei Schüler ein Terminal zur Verfügung steht.
Noch erheblich quicker bei der Anschaffung von Schulrechnern als sein Düsseldorfer Kollege gibt sich der Kultusminister von Niedersachsen. 20 Millionen Mark hat er im Sommer zu diesem Zweck bereitgestellt.
Mancherorts entschieden sich auch Städte als Schulträger oder gar um die Aktualität der Bildung ihrer Sprößlinge besorgte Eltern im Alleingang für den Kauf den Schulen günstig offerierter Hardware.
Nicht selten stellte sich erst anschließend heraus, daß der schönste Computer nichts taugt, wenn es an kindgerechten Programmen, an der Software, mangelt. Und wenn es an Lehrern fehlt, die sich damit auskennen. Der nackte Rechner allein verliert für die meisten rasch den Reiz des Neuen. In der schuleigenen Gerätekammer verstaubt er dann bald Seit an Seit mit dem Bandwurm in Spiritus und der Wandkarte über die geologische Beschaffenheit der Anden.
„Die Innovationen von heute sind die Fossilien von morgen“, teilte der Bremer Didaktik-Professor Hans Brügelmann den Lesern der Süddeutschen Zeitung mit. Noch immer, da besteht kein Zweifel, entwickelt sich die Informationstechnik in rasantem Tempo. Wer eine sichere Wette gewinnen will, sollte darauf setzen, daß heute teuer beschaffte Geräte schneller veralten, als der gebeutelte Schuletat sich von diesem finanziellen Kraftakt wieder erholt.
Nordrhein-Westfalens Kultuminister Hans Schwier legt in seinem Rahmenkonzept denn auch mehr Wert auf die Entwicklung von schüler- und lehrerfreundlichen Aneignungsmethoden der neuen Techniken als auf die eilige Anschaffung zusätzlicher Hardware. Er nimmt – bedauernd? – zur Kenntnis, daß der Umgang mit dem Computer für viele Jugendliche längst so selbstverständlich ist wie der mit einer Mofa oder einem Walkman. Er akzeptiert diese Tatsache als eine „Herausforderung an die Schule“ und versucht, sich die Erfahrungen engagierter Lehrer, die sich eben dieser Herausforderung früher als er, aus eigenem Antrieb, gestellt haben, zunutze zu machen.
Nicht: „Ja, so schnell wie möglich!“, auch nicht: „Um des Buches willen: Nein!“ sei die beste Antwort auf die allen Kultusministern gestellte Frage „Wollt ihr Computer für Eure Schulen?“, meint der Sozialdemokrat Schwier, sondern ein entschiedenes: „Ja, aber ...“
„Reflektieren“ ist eines seiner Lieblingsverben. „Kompetent, vernünftig und verantwortungsbewußt“ sollen Nordrhein-Westfalens Schulabsolventen künftig mit den elektronischen Informationstechniken umgehen können. Dahinter mag man die alte Pädagogen-Erfahrung vermuten, wonach nichts so fasziniert wie das, was verboten ist. Im Umkehrschluß: Das geheimnisvollste Gedicht verliert seinen Liebreiz, der knalligste Comic seinen Pep, wenn sich ein Pädagoge ihrer annimmt.
Stimmt das, verlieren auch Computer und Bildschirm, aus Sicht der Skeptiker, bald an Bedrohlichkeit. Noch freilich scheint ihnen des Schülers Herz zu gehören, scheinen sie ihn blind und taub zu machen für andere wichtige Dinge wie Rechtschreibung, Geschichte und Latein.
Mit seinem „Ja, aber“ zu den „Neuen Technologien“ will Minister Schwier in Wahrheit die gute alte Allgemeinbildung retten. Die Welt von morgen verlange nicht, heißt es in seinem Rahmenkonzept, nach mehr Spezialisten. Sie benötige vor allem „besser gebildete Menschen, also Menschen, die in der Lage sind, in einer Welt, die immer mehr in Einzelinformationen zerfällt, Gesamtzusammenhänge zu erkennen, zu reflektieren, Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend praktisch zu handeln“.
Heim- und Arbeitsplatzcomputer der nächsten und übernächsten Generation, da geben alle Experten dem Minister recht, werden entschieden leichter zu bedienen sein, als die heute käuflichen Geräte. Mit elektronisch gespeicherten Daten zu hantieren wird demnach künftig so selbstverständlich, aber auch so simpel sein, wie heute der Umgang mit der Elektrizität.
Nur eine kleine Minderheit von Spezialisten wird Computer bauen und Programme schreiben, fast alle Bürger aber werden beides anzuwenden haben. Vor diesem Zukunftsbild wäre es ein entscheidender Verlust an Chancengerechtigkeit, wenn der frühzeitige Umgang mit Computern nur Kindern aus begüterten Elternhäusern möglich bliebe, wenn nur Privilegierte die doppelte Chance besäßen, qualifizierte Informatiker oder aber auch nur kundig-nüchterne Benutzer eines Terminals zu werden.
So sieht es momentan aber aus. Noch sind Computer, allen Sonderangeboten zum Trotz, ein teures Spielzeug. In Sozialbauwohnungen sind sie selten zu finden. Hans Schwier dürfte es deshalb nicht sonderlich schwerfallen, auch nostalgisch gestimmte Parteigenossen davon zu überzeugen, daß sein beherztes „Ja, aber“ voll in der Tradition sozialdemokratischer Politik steht.
Mindestens so rar wie Arbeitslosenkinder, die sich fürs Digitale handfest begeistern können, sind Mädchen, die das wollen. In Computer-Camps, an den Vorführgeräten in Kaufhäusern, in schulischen Interessengemeinschaften sind sie hoffnungslos in der Minderheit. Am ersten Bundeswettbewerb Informatik haben sich nur drei Mädchen beteiligt, aber fast 150 Jungen.
Bevor Feministinnen nun aufschreien, glaubend, ihre jungen Geschlechtsgenossinnen verlören den Kontakt zum Schalthebel der Zukunft, sollten sie einen Blick nach Dortmund werfen.
Dort, an der Universität, sitzt das Institut für Schulentwicklungsforschung. Und das hat 1050 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren nach dem Einfluß von Kabelfernsehen und Computern auf ihre Freizeit und ihren Schulalltag befragt. Zwei der Resultate: Erstens: Gute Schüler verbringen weniger Zeit vor dem Bildschirm als schlechte Schüler. Zweitens: Es sind in der Mehrzahl die schlechteren Schüler, die es zum Computer zieht. Wer viel liest, hat die besseren Noten.
- Quelle DIE ZEIT, 29.11.1985 Nr. 49