Natürlich, da steht Ciceros/Heisenbergs gipserne Büste in der Aula des Gymnasiums, oder es überfällt uns die Erinnerung an den weißhaarigen Musiklehrer, der alle Sextaner zum Tonleiterabsingen antreten ließ; zwecks Rekrutierung geeigneter Talente zur Komplettierung des Schulchors. Kultur, so lernten wir daraus, ist etwas Hehres, Ernstes, Getragenes, kurz: ist nicht von dieser Schülerwelt.
Nun begibt es sich aber seit geraumer Zeit immer häufiger, daß Menschen sich, teilnehmend an Ereignissen, die den amtlichen Stempel „Kultur“ tragen dürfen, ganz offensichtlich famos amüsieren. Im Schauspielhaus zu Bochum etwa erklingt frohes Lachen sogar, wenn brandaktuelle Inszenierungen zu sehen sind – ja gerade dann. In einigen Museen sieht man die Bilder oder die geblümten Kaffeetassen kaum vor lauter Kindern. Es ist schon lange wieder chic, die geplante Bebauung eines Stadtplatzes unter ästhetischen mehr als unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten zu diskutieren.
Die Kultur, so schließen wir daraus, ist von ihrem hohen Sockel gestiegen (oder gefallen), und siehe da, jetzt ist sie mitten unter uns.
Davon, meinten die weisen Väter der Stadt Münster in Westfalen, müßte eigentlich auch etwas in den Schulen zu bemerken sein. Und so baten sie schon 1980, und seither alljährlich mit ständig wachsendem Erfolg, die Schüler und die Lehrer ihrer Stadt, doch öffentlich mal vorzuführen, was sie derzeit unter Kultur verstehen. Den gleichen Appell richteten sie jetzt an die 23 anderen nordrhein-westfälischen Großstädte, die, gemeinsam mit Münster und Osnabrück, das „Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit“ mit Sitz in Wuppertal unterhalten.
Von der Resonanz auf ihren Aufruf waren die Initiatoren, so sagen sie, selbst überrascht. Fast 300 Projekte wurden vorgeschlagen. 67 davon werden am 10. November in der Halle Münsterland, wo sonst Bullen versteigert werden, zu sehen und zu hören sein. Fast 1400 Grund-, Haupt-, Sonder-, Realschüler und Gymnasiasten aus allen Teilen des Landes werden dann dort musizieren, Selbstgereimtes rezitieren, parodieren, tanzen oder Ausstellungen, ja gar „Environments“ zeigen.
„Schulkultur NW 85/86“ nennt sich das Ganze. Die Münsteraner Großveranstaltung soll erst der Auftakt sein einer Serie, dann dezentraler Aktionen gleicher Art. Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier hat dazu nicht nur seinen Segen gegeben, sondern auch gleich seine Teilnahme an der Auftaktveranstaltung in Aussicht gestellt. Dort kann er sich dann (wenn er sich beeilt beim Gang durch die Halle) erst türkische Folklore anhören, danach vielleicht eine „Kindersymphonie“, flugs darauf die „8×5×1-Rockband“, als Schmankerl zwischendurch „... es muß nicht immer Marzipan sein“ (eine Revue), bevor er, gegen Abend, erschöpft aber glücklich den satten Sound einer Schüler-Big-Band genießt.
Wer das Programmheft des Tages der schulischen Kultur durchblättert, gewinnt den Eindruck, es gibt nichts, womit sich Lehrer und Schüler (ganz normaler Schulen) heute nicht beschäftigen: Stadtgeschichte, Pantomime, Videos, „Wohnen“, Kabarett, Musical, Märchen – und das alles, da sind sie ganz unbefangen, gilt ihnen als Kultur.
Sollte dem Minister bei seinem Bummel von Bühne zu Bühne der Überblick abhanden kommen, kann er zwischendurch dem Münsteraner Literaturprofessor Gunter Reiß lauschen. Der will über das „Lernziel Kultur?“ – mit Fragezeichen – referieren.
Reiß wurde engagiert, das einjährige Projekt wissenschaftlich zu begleiten. Überbau muß sein; ganz ohne höhere Weihen geht es ja doch nicht. Das ist deutsch. Undeutsch hingegen scheint das Spektakel selber zu sein. Denn in dessen Mittelpunkt stehen Darbietungen mit Titeln wie „Lieder erfinden“ oder „Theater“, an denen jeder Besucher, so er will, teilnehmen kann. Workshops nennt man so etwas, und die Initiatoren schließen sich dem an. Germanist Reiß beteuert: Dem Deutschen fehlen die Worte. Uwe Knüpfer
- Quelle DIE ZEIT, 1.11.1985 Nr. 45