Aktualisiert 9. August 1985 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Iwan ist nicht mehr da. Und sein Nachfolger, der neue „direttore“ des Campingplatzes, weiß noch nicht, welchen Respekt die „Bernhardiner“ erwarten und gewohnt sind. Die Bernhardiner, offiziell als „Adria-Service-Team“ unterwegs, tingeln in jedem Jahr von Anfang Juli bis Ende August über die Campingplätze an der Adria. Der Bernhardiner ist das Markenzeichen ihres Auftraggebers, des „Auto Club Europa“ (ACE), der mit dem ARBÖ die Urlauber betreut. ACE ist der Autoclub des DGB und ARBÖ sein österreichischer Bruderverein. Einst nannte er sich Arbeiter-Radfahrer-Bund Österreichs. Jetzt, zeitgemäß und praktisch, ist das Kürzel geblieben, aber A steht nun für Auto.
Lothar Peter, der hochgewachsene Stuttgarter mit dem Bernhardiner-T-Shirt, kann es immer noch nicht begreifen, daß der neue Campingplatzwächter die Ausweise der Helfer sehen wollte, ja sie sogar warten ließ wie gewöhnliche Gäste, ehe er ihnen Einfahrt gewährte. Dabei kennt ihn doch jeder an der oberen Adria, an der brettflachen Küste zwischen Rovigo und Aquileia. Und jeder kommt, um Rat zu holen.
Denn deshalb ist der Gewerkschaftler hier, jedes Jahr im Sommer, wenn es heiß wird am Strand und eng und sandig in den Waschbaracken auf den Campingplätzen: um zu helfen, wenn Urlauber in und mit der Fremde Probleme haben, etwa so, wie der gutmütig-große Hund Lawinenopfer mit Rum versorgt.
Der ARBÖ hat in diesem Jahr zwei technisch versierte Pannenhelfer geschickt, Heinz Schwab und Josef Hofer. Der Bruderverein ACE stellt Lothar Peter. Der Schwabe ist Fachmann fürs Touristische und, landsmannschaftlich gesehen, in der Minderheit. Wie ja überhaupt die obere Adria sommers ein österreichisches Staatsgewässer zu sein scheint. Überall klingt’s wienerisch, werden Vokale quälend in die Länge gezogen, und der Renner am Freß-Corso von Bibiöne-Pineta ist die „Pizza Wienna“ (mit W).
Selbst aus dem Äther tönt’s nach Wiener Art. Zwei alpenrepublikanische Sender mit Studiositz an der Adria beschallen Sonnenanbeter mit Klängen und Informationen aus der Heimat. Wiens Massenblätter proben hier den Einstieg in den Kabelfunk und erzählen zum Frühstück, wieviele Österreicher im letzten Jahr an Lungenkrebs gestorben sind, daß die ÖVP Steuersenkungen fordert und Piz Buin das Auftragen der Sonnencreme mit dem Schutzfaktor sechs empfiehlt. Und außerdem: „Ob Sonne, Sand, ob Hitze, Bernhardiner, die sind Spitze. Heute finden Sie das hilfreiche Team von ACE und ARBÖ auf dem Campingplatz X in Y.“
Die Bernhardiner bedanken sich, indem sie ihrerseits für die Privatsender a bisserl Reklame machen. Die frechbunten Aufkleber von „Radio Lignano International“ und „Radio Adria“ sind am schnellsten weg, wenn sich die Urlauber um das Team aus Stuttgart und Wien scharen. Abgesehen von gelegentlich auftretenden Naturkatastrophen und Schlagersternchen ist das Strandleben nämlich arm an wirklichen Sensationen. Da nimmt man mit, was kommt. Und sei es Papier. Mancher, der daheim in der Fußgängerzone jedes Flugblatt brüsk zurückweist, greift hier gerne zu.
Auch das Faltblatt „Töchter können mehr als wir denken“, herausgegeben vom Staatssekretariat für Allgemeine Frauenfragen im österreichischem Bundeskanzleramt, findet reißenden Absatz. Die Kinder sammeln Luftballons, Buttons und Autoaufkleben. „Der andere eben hat aber zehn gekriegt“, entrüstet sich ein kleiner Junge, als Lothar Peter ihn mit einem Bernhardiner-Abziehbild abzuspeisen versucht. Im Hintergrund, zwischen Caravandeichseln und Wäscheleinen, blüht das Tauschgeschäft.
Doch die Bernhardiner tragen nicht nur zur Unterhaltung bei, sie schlagen sich auch mit den Nöten der Urlauber herum. Es muß ja nicht gleich ein Unfall sein oder ein Motorschaden. So was kommt nur alle paar Tage vor. Besitzer von altersschwachen Autos nämlich, hat Heinz Schwab herausgefunden, fahren nicht an die Adria, jedenfalls nicht an die italienische; eher trifft man Problemfahrzeuge in Jugoslawien. Die ACE-Helfer kennen ihre Klientel – es sind penible Leute. Ihnen nehmen sich auch objektiv kleine Defekte an Auto, Caravan oder Bötchen nicht selten aus wie Schicksalsschläge.
Zum Beispiel die Familie aus Braunschweig. Zuerst kommt nur der Vater auf den Platz, leise und unauffällig. Vielleicht hat er sich ohne Besucherschein am gestrengen „direttore“ vorbeigemogelt? Aber nein, der wird sich ordentlich angemeldet haben. Zaghaft wendet sich der Kunde an die Berater. Er habe ein Problem. Sein Wagen, ein Opel, sei noch ganz neu, und trotzdem, während der Fahrt fällt doch auf einmal die Tankanzeige aus! Bekümmert blickt er dem Hofer Sepp ins Gesicht. Der sagt nur: „Kommen’S her mit dem Wagen!“
Sepp öffnet den Kofferraum, schiebt den Plastikteppich beiseite und fingert am Tankverschluß. Und dann meint er auch schon: „Probieren Sie mal.“ Der Zweifel, ob dieser junge Mann vom Autoclub wohl auch mit dem rechten Ernst bei der Sache sei, steht dem Opelbesitzer ins Gesicht schrieben. Zögerlich setzt er sich ans Steuer. Ein Dreh am Zündschloß, und die Nadel der Tankanzeige steigt und steigt. Erleichtert ruft der Mann seine Familie herbei, die sich inzwischen auch eingefunden hat, um den fremden Platz zu inspizieren. Das Familienoberhaupt strafft seine Haltung und greift sich ans Gesäß: „Was bin ich schuldig?“ „Nix“, sagt der Sepp.
Das sind die leichten Fälle, die, in denen ein Handgriff wahre Freudenstürme auszulösen vermag. Eine Sicherung ist durchgebrannt, einem Bastler fehlen Schrauben, ein Blinker versagt. Josef Hofer, ganz Zampano, verrät einen Trick: Warnblinker einschalten und gleichzeitig den Blinkerhebel drücken. Groß ist das Staunen.
„Des san Tschapperl“, sagt Heinz Schwab, wenn solche Kundschaft wieder weg ist. Nur Wiener wissen, was er meint. Wir anderen ahnen es.
Wenn am Morgen der Himmel bedeckt ist, das Meer zum Bade noch nicht lockt, ein Ausflug aber auch nicht lohnend scheint, wenn also Langeweile-Wetter herrscht und Unentschlossenheit in allen Waschkabinen nistet, dann bereitet sich das Adria-Service-Team auf ganz besonders harte Arbeit vor. An solchen Tagen sind die campingplatzeigenen Autowaschplätze dauerbelegt, und mißmutigen Autopflegern fallen an ihren Karossen Defekte ins Auge, die sie zu Hause monatelang übersehen. Da erwacht der Reparatureifer, die Bastelwut, da wird im Gedächtnis gekramt, was man denn das Helferteam so alles fragen könnte. An solchen Tagen darf Lothar Peter Reiserouten im Dutzend erläutern, Sachverständiges über die Wassertemperatur des Ossiacher Sees verkünden, fachsimpeln über die Unterschiede zwischen den Campingplätzen in Grado und Caorle.
Doch dann tut’s plötzlich eine Zündung nicht so, wie sie’s sollte, und Sepp liegt stundenlang über der geöffneten Motorhaube, mißt Spannungen, probiert aus, rätselt, probiert erneut und nichts passiert! Längst hat ihn der Ehrgeiz gepackt, und man merkt ihm den Ärger an, wenn er, was selten vorkommt, am Ende doch klein beigeben muß: „Fahren Sie zur Werkstatt.“
Dies ist der Moment, da der Mann auf dem Klapprad deutlich zu verstehen gibt, daß er es schon die ganze Zeit gewußt habe.
Der Mann auf dem Klapprad taucht zuverlässig immer dann auf, wenn die ACE- und ARBÖ-Mannen ganz was Kniffliges zu tun bekommen. Meist ist er mittleren Alters, mager, gern trägt er zur kurzen Trevira-Hose ein geripptes Unterhemd. Er beugt sich, eine Sandale auf der Erde, die andere auf dem Fahrradpedal, über verhexte Motoren, er schaut Sepp Hofer zu, wie der in seinen Werkzeug- und Ersatzteilkisten kramt, beide ahnend, das gesuchte Teil, eben das, werde wohl gerade nicht vorhanden sein. Allgegenwärtig und lästig wie eine Fliege ist er, nur größer. Und er spricht, wenn man den Fehler macht, ihm ins Gesicht zu sehen.
Deshalb macht das Campen ja gerade in der Hochsaison den meisten Spaß: Man hockt eng beieinander und ist doch anonym. Man braucht sich seiner Schwächen wegen nicht wie im Alltag zu genieren, und man kann sich obendrein auch noch an den Macken der anderen ergötzen. Wann sonst ist soviel Gelegenheit zur Schadenfreude gegeben, dieser aufrichtigen Variante menschlicher Heiterkeit?
Natürlich hört man es gern, daß der Zeltplatznachbar Wasser in den Öleinfüllstutzen seines Wagens gegossen hat, weil „da was qualmte“. Natürlich macht es Spaß zuzusehen, wie jemand, weil er den Rat erhielt, seinen arbeitsunwilligen Kühlschrank „um 180 Grad zu drehen“, auf daß die Kühlflüssigkeit wieder in Bewegung komme, sich darangibt, seinen Wohnwagen mühsam um dessen Achse zu schwenken. Natürlich kolportiert man auch alle Witzchen weiter. Beispielsweise jenes von dem Fahrer, der in Triest eine Panne hatte, beim Adria-Service anrief und, als er gefragt wurde, in welcher Straße er denn zu finden sei, einen Blick aus der Telephonzelle warf und dann antwortete: „Senso unico.“
Die Einbahnstraßen freilich sind an der Adria noch nicht zweisprachig ausgeschildert. Sonst aber scheuen die geschäftstüchtigen Einheimischen keine Mühe, den Gästen aus dem Norden entgegenzukommen. Die Pizzen schmecken in Bibione genauso wie in Gütersloh, belegt sind sie mit Wiener Würsteln. Wenn jemand statt eines Bieres ausnahmsweise doch mal ein Glas Weißwein in der Strandbar bestellt, bekommt er ungefragt sirupsüßen Frizzantino.
Kioske und Imbißbuden werden auf Hochglanz poliert, und jeder Hüter von Campingplatzordnungen sorgt für deren peinlichste Einhaltung. Dafür kassieren manche Campingplätze von den Tedeschi mitunter mehr, als die Übernachtung in einer Pension kosten würde.
Doch die Touristen zahlen willig, vielleicht, weil sie immer wieder dem erliegen, was sie für den diskreten Charme des mediterranen Menschen halten. Nicht einmal die ortskundigen ACE-Berater sind dagegen gefeit.
Es ist schon dunkel, die Musik wird lauter im Strandimbiß „Snoopy“. Da beginnt der dicke Wirt, bislang ernst und geschäftig, sich in den Hüften zu wiegen und lauthals einen Schlager mitzuträllern, während er weiter Hot dogs in Papierservietten legt.
Lothar Peter hebt den Kopf, atmet tief durch und strahlt: „Ja, so sind sie, die Italiener.“
- Quelle DIE ZEIT, 9.8.1985 Nr. 33