Aktualisiert 21. September 1984 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Preiswerte Netzkarten wie das Interrail-Ticket haben die alte Bahn vor allem unter jungen Rucksacktouristen wieder sehr beliebt gemacht. Schon existieren auch spezielle Reiseführer, zugeschnitten auf die Bedürfnisse und Fragen jener, die innerhalb von vier kostbaren Wochen Europa mit schmalem Brustbeutel und der Bahn kennenlernen wollen.
Der gleichsam enzyklopädische Anspruch solcher Bücher verleitet die Verlage aber offenbar dazu, derart winzige Druckbuchstaben zu wählen, daß die Lektüre nur Menschen mit scharfen Augen, und auch dann nur bei günstigen Lichtverhältnissen, zuzumuten ist. Das gilt besonders für
Eberhard Fohrer: „Mit der Eisenbahn durch Europa“, 1984 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen im Verlag Michael Müsser, Ebermannstadt, 22,80 Mark.
Auf Seite 16 dieses Fleißwerks von fast 600 Druckseiten wird das so weit getrieben, daß die Legende der bahnüblichen Bildsymbole, die hier erklärt werden sollen, sich selbst unter Zuhilfenahme einer Lupe kaum enträtseln läßt.
Doch wo es lesbar ist, birst das Buch vor Informationen: Wie man von Italien oder Irland aus daheim anrufen kann, wird da beispielsweise beschrieben. Die wichtigsten europäischen Schiffsverbindungen sind aufgelistet, ebenso die zuschlagpflichtigen Bahnstrecken. Den Schienensträngen folgend skizziert Fohrer eine große Anzahl von Landstrichen und Städten, knapp, aber durchaus treffend. Seine Tips zum Essen, Amüsieren und Übernachten entsprechen, so zeigen Stichproben, dem Informationsniveau von Stadtzeitungen und Szeneblättern. Das ist in der Regel hoch.
Mancher Tip ist allerdings reichlich originell. Unter der Kapitelüberschrift „Trampen“ („Kann durchaus lohnenswert sein, ab und zu ruhig mal einen kleinen Ausflug mit dem Daumen einschieben!“) rät der Autor Anhalterinnen: „Falls der Fahrer zudringlich wird, Finger in den Hals und loskotzen!“
Konventionell mutet dagegen Fohrers Auswahl sehenswerter Reiseziel an. Auch Rucksackreisende kommen um Heidelberg und Neuschwanstein offensichtlich nicht herum. Sie unterscheiden sich von Pauschale und Koffertouristen – Originalton Fohrer: „Die Neckermänner“ – zwar in Habitus und Sprache, die Klischeevorstellungen beider Gruppen scheinen sich aber in oft bedrückender Weise zu gleichen: Im römischen Straßenverkehr wird, behauptet Fohrer, wer nicht aufpaßt, „gnadenlos überfahren“. Zur Reise durch das Ruhrgebiet locken angeblich „zahllose Kohlezechen“ und am Abteilfenster vorüberziehende Giftschwaden.
Ob man ihm glaubt oder nicht, jedenfalls schreibt Fohrer ein unverkrampftes, verständliches Deutsch. Dabei greift er zwar oft zurück auf die derzeit gängigen Idiome der Jugendsprache, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, er wolle sich anbiedern.
Genau dieser ärgerliche Eindruck kommt dagegen auf bei der Lektüre von:
Interrail. Handbuch für Bahnreisen in Europa, erschienen 1984 im Unterwegs Verlag Manfred Kiemann, Rielasingen, 12,80 Mark.
Die Autoren heißen Klaus Michael Peter und Manfred Kretz, sind beide Mitte Zwanzig und wurden gesponsert von einer Tabakfirma, die zum Dank (nicht nur) auf dem Buchdeckel für sich Reklame machen darf.
Ihre Karten der wichtigsten und schönsten Strecken der beschriebenen Urlaubsländer haben die Autoren offenbar selbst gezeichnet, locker aus dem Handgelenk. Das mag den Charme des Spontanen ausstrahlen, übersichtlich wirkt es nicht. Die Beschreibungen politischer und geographischer Landschaften wirken wie aus dem Lexikon abgeschrieben; nur daß sich dabei orthographische Fehler eingeschlichen haben.
Auch beim Ausdenken ihrer Tips, etwa jener kulinarischer Art, haben sich Peter und Kretz wenig Mühe gegeben und/oder verraten mangelnde Kennerschaft.
Ganz anders, wenn sie über Eisenbahnen an sich schreiben. Für globetrottende Schienenfreaks, denen die Bahn mehr bedeutet als ein schnödes Transportmittel, ist das Buch sicher eine Fundgrube. Nicht nur, daß die „Biographien“ der nationalen Eisenbahngesellschaften weit ausführlicher ausgefallen sind als alle anderen Info-Teile: Peter und Kretz machen den Inter-Railer auf grandiose und noch heute sichtbare Ingenieurleistungen aufmerksam, und sie führen ihn zu Zugraritäten wie dem „kleinen Krokodil“ in der Schweiz oder auch in das „Tal der rostenden Dampfrösser“ (an der Strecke von Tripolis nach Korinth gelegen). Auch beschreiben sie liebevoll die zahlreichen europäischen Eisenbahnmuseen.
- Quelle DIE ZEIT, 21.9.1984 Nr. 39