Ganz gleich, warum Jugendliche massenhaft kriminell werden, ob sie arbeits- und perspektivlos oder schlicht gelangweilt sind und Fun – Spaß – haben wollen: ganz offensichtlich fühlen sich diese jungen Menschen nicht als Teil der sie umgebenden Gesellschaft. Und die Gesellschaft schert sich nicht drum. Weder in Gestalt von Eltern oder Geschwistern oder Freunden, noch institutionell als Schule, Jugendamt, Medien und Politik.
Mitten in London und Birmingham, so scheint es, sind schwarze Löcher in der Gesellschaft entstanden. Das lässt sich deshalb auch von Berlin aus so diagnostizieren, weil Ähnliches in Ansätzen auch in deutschen Großstädten zu beobachten ist. Im Schutze der metropolitanen Anonymität entstehen Schattenzonen, in denen Menschen leben, die von der Gesellschaft nichts, vom Staat allenfalls „Hartz IV“ erwarten – und von denen auch die sie umgebende Gesellschaft nichts mehr erwartet – außer dass sie sich ruhig verhalten und nicht randalieren. Dafür wirft sie ihnen Geld hin und schickt den einen oder anderen Sozialarbeiter los. Es sind Menschen, die keine Autorität akzeptieren. Warum nicht? Weil sie zu selten oder nie Autoritäten erlebt haben, an denen sie sich aufrichten und anlehnen konnten.
Für Heranwachsende sollten Eltern, Erzieher, Lehrer, auch Nachbarn, Vereinsvorsitzende, Pfarrer, Ausbilder und Arbeitgeber solche Autoritäten sein - lange vor der ersten Begegnung mit der Polizei.
Wie reagiert ein Staat auf solche Krawalle wie die in englischen Städten? Natürlich muss er zunächst für Sicherheit sorgen, die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Aber dann? Auf diese Frage gibt es nur drei mögliche Antworten: die repressive, die feige und die demokratische.
Die repressive, man könnte sie aktuell auch die chinesisch-russische nennen, das heißt: die Polizeipräsenz erhöhen, das Internet stärker kontrollieren, innerstädtische Grenzen ziehen und auf Abschreckung durch hartes Durchgreifen und drastische Strafen setzen.
Die feige: sich ein bisschen erregen, die Polizeipräsenz zumindest zeitweise erhöhen, mit härteren Strafen drohen, wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag geben - gleichsam als Expeditionen ins schwarze Loch der Gesellschaft - und hoffen, dass sich „alles“ bald wieder beruhigen werde.
Die demokratische: Dem Erschrecken und der Wiederherstellung von ziviler Ruhe würde die gründliche Reparatur der Zivilgesellschaft folgen, sprich der Grundlagen jeder funktionierenden Demokratie: des sozialen Gefüges, der politischen Institutionen und der organisierten Öffentlichkeit.
Eine demokratische Gesellschaft gleicht einem dichten Gewebe. In ihrem Mittelpunkt steht der Staatsbürger; jeder einzelne, ohne Ansehen von Herkunft, Einkommen, Geschlecht etcetera. Jeder einzelne muss eine Chance haben sich zu entfalten, muss sich ernst- und angenommen und – ja – auch geliebt fühlen können. Eine demokratische Gesellschaft lebt von funktionierenden Institutionen auf jeder Ebene. Das fängt in den Familien an und setzt sich in Gemeinden, Stadtteilen, Vereinen, Kirchen und Verbänden fort. Sie bedarf der aufklärenden und debattierenden Öffentlichkeit. Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen der boulevardeske Verwahrlosung der britischen Presse und der mentalen Verwahrlosung britischer Jugendlicher.
Es ist mehr als interessant zu beobachten, welche Antwort britische Politiker auf die Krawalle geben werden: die repressive, die feige oder eine demokratisch-mutige. England ist zwar eine Insel, aber Teil Europas. Was dort geschieht, geht auch uns in Deutschland sehr direkt etwas an.
Wir hier haben die Chance, nach Rissen und Löchern im Gewebe unserer Zivilgesellschaft zu suchen. Sie zu flicken, wo es geht. Oder neu zu weben, wo es notwendig ist – bevor auch in Berlin oder Frankfurt oder Hamburg eines Tages zu unser aller Überraschung Häuser brennen werden.
(vorwärts.de 10. August 2011)