Uwe Knüpfer
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Der Mond über Herne Zwo

1/1/1990

 
Auf der Suche nach Wanne-Eickels diskretem Charme von Uwe Knüpfer

Aktualisiert 28. Juni 1985  08:00 Uhr  Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel.“ Und weiter? „Die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai. Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.“

Für Hohn kann das nur halten, wer von Wanne-Eickel keine Ahnung hat. Die Einheimischen sehen in dem Schlager, mit dem Friedel Hensch und die Cypris den Ort 1961 berühmt machten, ihre Nationalhymne, die witzigste der Welt. Auch wenn sie verlegen schmunzeln – das Mondlied spricht den Menschen in Bickern und Wanne aus der Seele, und wenn sie was getrunken haben, im Bayernzelt der Cranger Kirmes vielleicht, singen sie alle, alle mit. Drei junge Frauen, Wannes reger Musikszene verhaftet, brachten es zu lokaler Berühmtheit im letzten Jahr auf der Kirmes. Sie nannten sich „Luna Sisters“, und besorgten dem Liedchen vom Mond ein grandioses Comeback. Die Wanner waren aus dem Häuschen.

Ganz laut mitgesungen, dafür gibt es Zeugen, hat Helmut Hellwig, Wanner von Geburt, gelernter Postler und seit Jahren direkt gewähltes Mitglied des Landtags. Die politischen Finessen hat er, nicht untypisch für Wanne, bei den „Falken“ erlernt, der sozialdemokratischen Kinder- und Jugendorganisation. Das Mondlied gefällt ihm: „Wer schon mal am Kanal poussiert hat, so wie ich, kann das nur positiv empfinden.“

Ihr rotverklinkertes Einfamilienhaus haben Helmut Hellwig, Enkel eines Bergmanns, und seine Frau, Tochter eines Bergmanns, ganz nahe der Gegend gebaut, in der beide aufgewachsen sind. Warum ist einer wie Hellwig, der gewiß auch anderswo Karriere hätte machen können, Wanne-Eickel immer treu geblieben? „Woanders hätten wir Heimweh.“ Und dann, das ist für ihn das Größte, hat er doch neulich bei einem Spaziergang zum erstenmal seit vielen Jahren wieder eine Nachtigall singen gehört! Daß sie die Nestwärme einer Kleinstadt spüren dürfen, inmitten der toleranten Riesenstadt Ruhrgebiet, das vor allem anderen mag es sein, was Wanne-Eickeler in Wanne-Eickel hält. Andere kleben aus dem gleichen Grund an Castrop-Rauxel oder Gelsenkirchen-Schalke.

Nein, Wanne-Eickel ist gewiß nicht auf die Weise schön, wie es Würzburg oder Bamberg ist. Nicht einmal das kommunale Werbeamt behauptet das. Schüchtern-trotzig setzt man dort auf die stille Einsicht des Fremden, daß kein Ort in Wahrheit so schaurig sein kann, wie der Name „Wanne-Eickel“ klingt.

Dem Fremden fällt hier vor allem auf, wie leicht er einen Parkplatz findet. Eine schmale Seitenstraße des Haupteinkaufsboulevards, nach Mozart benannt, trug einst ein sehenswertes Glasdach. Schon seit einem halben Jahrhundert ist es nur noch auf Ansichtskarten zu bewundern. Heute, da Einkaufspassagen eine Renaissance erleben, trauern die Wanner ihrer demontierten nach.

Wie zum Trost haben sie die Mozartstraße wenigstens vom Autoverkehr befreit. So hat auch der kleine kreisrunde Platz in ihrer Mitte seine Ruhe zurück. Er erinnert an ein intimes Theater, in dem gerade nichts gegeben wird. Der Passant steht auf der Bühne, die Balkone in den eingewölbten Jugendstilfassaden links und rechts könnten Logen sein. In einem Haus eine Kneipe – sie heißt „Zauberflöte“. Gegenüber, hinter vergilbten Plakaten, residiert die DKP.

Lieblos wirkt der Rest der City, ausgestorben nach Geschäftsschluß. Das Leben der Wanne-Eickeler spielt sich hier nicht ab. Da lohnt schon eher ein Bummel durch die Zechen-Kolonie in Röhlinghausen. Winzige Armeleutehäuschen inmitten großer Gärten, gegenüber Villen, einst gebaut für das höhere Bergbaupersonal. Die Holzläden der Häuschen sind dunkelgrün, ihre Türen international: Hier scheint ein Dali-Fan zu wohnen, nebenan ein Western-Freund, dort ein Kakteenzüchter. Welch tiefe Wahrheit ruht im deutschen Schlager: „Ich kenn’ die ganze Welt, von Rio bis Port Said, ich kenn die Côte d’Azur, die Rosen von Athen ...“

Der Rentner auf dem Küchenstuhl vor seiner weinumrankten Laube sitzt dort schon die ganze Zeit, ohne irgendwas zu tun. Es sieht nicht so aus, als würde sich daran bis zum Mittagessen etwas ändern. Warum mäht er nicht wenigstens den Rasen oder liest die Zeitung?

Sein Nachbar bosselt am Taubenschlag herum, einem umfunktionierten Bauwagen. Er tut das mit jener bedächtigen Ausdauer, die dem Bergmann unter Tage anerzogen wird.

Jahrhundertelang gab es hier nichts als Ackerland und Sumpfgelände. Darauf dämmerten Dörfchen wie Eickel, Bickern, Wanne und Crange. Daß zwei von ihnen, per Bindestrich verbunden, einmal Großstadt spielen sollten, erscheint rückblickend wie ein Irrtum der Geschichte. Crange, immerhin, war schon im späten Mittelalter zu regionalem Ruhm gelangt. Es hatte ihn den „Emscherbrücher Dickköppen“ zu verdanken, Wildpferden, die in den von Menschen gemiedenen Auwäldern des einst idyllischen Emschertales lebten. Sie waren, gefangen und gezähmt, als willige und ausdauernde Arbeitstiere weithin geschätzt. In Crange wurden sie verkauft.

Aus dem Pferdemarkt, alljährlich abgehalten am Laurentiustag, dem 10. August, wurde die „Cranger Kirmes“, das Oktoberfest des Ruhrgebiets. Niemand zweifelt daran, daß die inzwischen 550. Kirmes auch in diesem Jahr wieder über 400 Schausteller und mehr als drei Millionen Besucher nach Herne locken wird.

Nach Herne, ja, denn die Stadt Wanne-Eickel gibt es nicht mehr. 1974, während der großen nordrhein-westfälischen Gebietsreform, ging sie, um eine Eingemeindung nach Bochum zu vermeiden, mit der nur wenig größeren Nachbarin eine „Städteehe“ ein. Herne stellte den Namen und das Rathaus, Wanne-Eickel den Oberbürgermeister und das Wappentier. Inzwischen ist ein neuer OB im Amt, einer, der aus Herne stammt.

Wanne-Eickel, die selbständige Stadt, war das Kunstprodukt einer anderen Gebietsreform gewesen, der von 1926. Damals lebten in Röhlinghausen, Bickern, Eickel, Crange, Holsterhausen und Wanne rund hunderttausend Menschen, mehr als zehnmal soviel wie nur fünfzig Jahre zuvor. Die Zechengesellschaften waren von der Ruhr aus nordwärts gewandert und hatten die Emscherdörfer anschwellen lassen. Rund um die Gruben entstanden Bergmannssiedlungen. Rasch überwucherten sie die Überbleibsel feudaler Vergangenheit. Die Bauern machten Kohle. Ihre Namen verschwanden aus den Grundbüchern und tauchten auf Straßenschildern wieder auf.

Den Abbau der echten Kohle besorgten Gastarbeiter. Angeworbene Malocher strömten an die Emscher. Zuerst aus Thüringen und Hessen, seit den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus den „deutschen Ostgebieten“. 1918 gab hier bald jeder dritte „Polnisch“ als Muttersprache an.

Die Werber der Zechengesellschaft lockten mit Arbeit und guten Wohnbedingungen. Mietskasernen wie in englischen Industrierevieren wurden nicht benötigt. An Baugrund war kein Mangel. Das ist heute noch zu spüren. Die „dichtbesiedeltste Stadt Europas“ stellt man sich anders vor. „Verdichtete Bebauung“, eine der architektonischen Totschlag-Parolen der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts, ist selten zu finden in Wanne-Eickel. Zumindest im Sommer wirken weite Teile der Stadt durch und durch grün.

Im Ortsteil Röhlinghausen, einst beherrscht von Mannesmann und der Zeche Königsgrube, ist es ruhig geworden. Eigentlich hatte die Stadt, wie vom Bergbau gewünscht, das Zechengelände in eine Abraumdeponie verwandeln wollen. Eine Bürgerinitiative aber verlangte nach Ruhe und Grün, „und zwar sofort“, und sammelte dafür fast so viele Unterschriften, wie der Stadtteil Bürger hat. Das gab dem SPD-Ortsverein, traditionell allem Neuen gegenüber skeptisch und der IG Bergbau hörig, denn doch zu denken. Er schwenkte um. Auch die Genossen im Rathaus, erst pikiert, folgten bald dem neuen Kurs.

Aus dem Zechengelände wird jetzt eine Grünanlage, und zusätzlich gab die Landesregierung viel Geld für „Maßnahmen der Wohnumfeldverbesserung“ her. Aus Hinterhöfen wurden Plätze, Fassaden bekamen neue Anstriche. Noch nie seit den Zeiten der Zechenwerber hatten die Röhlinghauser soviel öffentliche Zuwendung erfahren.

Als die Zechen starben – 1976 machte der letzte Pütt von Wanne-Eickel dicht blieben die Zechengesellschaften und ihre Rechtsnachfolger doch die größten Grundstücksherren der Gemeinde. Jahrzehntelang war hier ohne sie nichts gelaufen. Hier wurde gebaut, was der Bergbau brauchte und wie er es wünschte. Und was er nicht brauchte, das wurde nicht gebaut.

Erst in den sechziger Jahren begann die Stadt ein Eigenleben zu führen. Sie kaufte Grundstück auf Grundstück und begann zu bauen; der Kumpel würde sagen, „auf Deibel komm raus“. Vor allem Schulen, vierzehn an der Zahl. Aber auch Kindergärten, Jugendheime und eine der ersten Fußgängerzonen der Republik.

Heute ist der Baurausch längst verflogen. Geblieben sind die Schulden, ist aber, bei den Stadtvätern, auch das Gefühl, die Eile sei vonnöten gewesen. Es galt, Zuschüsse von Bund und Land zu ergattern, solange deren Säckel prall gefüllt und die Finanzminister freigebig waren.

Wenn etwas auffällt bei einer Fahrt durch Wanne-Eickel, dann ist es die ungewöhnlich hohe Zahl von Schienen und Schranken. Sie erinnern an Wannes glanzvolle Zeiten als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Doch auch das ist passé. Intercity-Züge halten hier nicht, auch wenn Wanne-Eickel als wohl einziger Stadtteil der Bundesrepublik noch immer einen eigenen Hauptbahnhof besitzt. Der Bundesbahn scheint es zu mühsam, aus ihren Streckenplänen den „Hbf Wanne-Eickel“ zu streichen und ihre Züge nur noch nach Herne 1 rollen zu lassen. Und die „Alt-Herner“ denken natürlich nicht im Traum daran, auf ihren eigenen Hauptbahnhof zugunsten des größeren im Vorort zu verzichten. Uwe Knüpfer

  • Quelle DIE ZEIT, 28.6.1985 Nr. 27

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