Aktualisiert 2. Mai 1986 08:00 Uhr Von Uwe Knüpfer
Zunächst mutet es paradox an: Noch stöhnen Professoren allerorten, ihre Seminare seien überlaufen, ihre Sprechstunden ausgebucht und sie fanden vor lauter Lehrverpflichtungen kaum Zeit und Muße zur Forschung. Da mehren sich die Lockrufe aus bundesdeutschen Hochschulen, die einer neuen Studentengeneration gelten – den Senioren, den Älteren, den Alten, den Frührentnern, den Jungen Alten oder wie immer jene wachsende Gruppe von Menschen genannt wird, die von bezahlter Arbeit zwar „freigestellt“, geistig aber noch lange nicht eingerostet ist. Rund zwanzig Universitäten bieten in diesem Sommersemester schon Seniorenstudiengänge an oder doch wenigstens spezielle Vorlesungsverzeichnisse für ältere Gasthörer. Acht bis zehn weitere Hochschulen planen konkret, ähnliches demnächst zu beginnen, und noch ein halbes Dutzend zieht es zumindest in Erwägung.
Die Universität Dortmund kann sich rühmen, nebst Oldenburg und Kassel, die Alten für die Unis „entdeckt“ zu haben. Von 1980 bis 1985 wurde hier – finanziert von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung – in einem Modellversuch erprobt, wovon sich jetzt so viele inspirieren lassen: Münster und Hamburg etwa, Schwäbisch Gmünd und Trier, Freiburg und Berlin. Im Sommer 1985 ist daraus eine feste Einrichtung der Dortmunder Uni geworden.
Schon während der Versuchsphase erwarben 116 Dortmunder Senior-Studenten das eigens für sie entworfene Abschlußzertifikat. Eine Art Ehrenurkunde, die erfolgreiches Teilnehmen bestätigt und dem Inhaber bescheinigt, er sei nun in besonderer Weise dazu qualifiziert, ehrenamtliche Aufgaben in Vereinen, Verbänden und Institutionen zu übernehmen.
Viele Beobachter des Dortmunder Modells haben sich darüber lange belustigt, inzwischen sind die Kritiker leiser geworden. Mag sein, das anhaltende öffentliche Interesse an der Arbeit der Dortmunder Pioniere hat ihnen die Sprache verschlagen, oder auch nur deren selbsterstellte Erfolgsstatistik.
Nur einer von zehn Teilnehmern des Dortmunder Modellversuchs hatte schon als junger Mensch akademische Erfahrungen gesammelt. 70 Prozent hatten kein Abitur, 15 Prozent waren, bevor sie in Rente oder in die „Anpassung“ des Ruhrbergbaus gingen, Arbeiter. Die Abbrecher-Quote war dennoch außerordentlich gering, und dies, obwohl die Dortmunder Wert darauf legen, auch mit ihren angegrauten Studenten wissenschaftlich zu arbeiten. Eine Art elfenbeinerne Volkshochschule wollen sie nicht sein.
Allerdings haben sich die meisten Teilnehmer, gibt Ludger Veelken, Professor für soziale Gerontologie und Geragogik, zu, „ihr ganzes Leben mit Weiterbildung beschäftigt“. Oder anders: Wer sich nicht schon immer geistig frisch gehalten hat, wird es im Alter auch durch angestrengtestes Studieren nicht wieder werden. Es sind Aktivisten, quirlige, neugierige Menschen, die sich für das Seniorenstudium interessieren. Es sind Männer, die früh, zu früh, wie sie finden, aus dem Beruf ausscheiden mußten und die sich wieder gefordert sehen möchten. Und es sind (zu zwei Dritteln) Frauen, die ihren erlernten Beruf vor langem zugunsten der Familie aufgegeben haben, aber nun – die Kinder haben das Nest Verlassen – auch als Hausfrau und Mutter nur noch am Rande gefragt sind.
Frauen wie Erika Lutowski. Während der letzten beiden Kriegsjahre hat sie Medizin studiert, dann war sie ein Jahrzehnt lang Hebamme, heute, mit 63, hilft sie in der Seniorenberatung der Uni Als Absolventin (mit Zertifikat) weiß sie, was neue Bewerber ängstigt und unsicher macht. Das Studium, sagt Erika Lutowski, habe sie „munterer gemacht und aufgerüttelt“.
Willi Christofzik (62) hatte vierzig Berufsjahre im Bergbau hinter sich, als er zu studieren begann. Schon das Erlebnis, als Älterer in der Uni von jungen Menschen akzeptiert, ernst genommen zu werden, ist ihm noch heute lieb und teuer: „Das war ’ne schöne Zeit.“ Zu Hause, deutet er an, war das nicht immer so. Er traue sich jetzt auch viel mehr zu; geistig, aber auch körperlich, In ihrem Bochumer Ortsteil haben seine Frau und er jetzt eine bildungshungrige „Gruppe von Frühpensionären“ gegründet. Zu 35 sind sie schon. Am Ende des Seniorenstudiums gaben 84 Prozent der Dortmunder Absolventen zu Protokoll, ihr Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl habe sich verändert. 46 Prozent fühlen sich subjektiv gesünder als zuvor.
Teilgenommen haben sie an ganz normalen Univeranstaltungen, ergänzt durch Begleitseminare und intensive Gruppenarbeit. Numerus-clausus-Fächer sind ausgespart. Meist sind es die Geisteswissenschaften, sind es Soziologie und Psychologie, für die sich die Senioren interessieren.
Eine fürwahr glückliche Fügung. Denn gerade die Lehramtsstudiengänge leiden unter den Folgen des legendären „Pillenknicks“. Es gibt immer weniger Schüler, also, behaupten die herrschenden Finanzpolitiker, brauchen wir auch immer weniger Lehrer (und Erzieher und Sozialpädagoginnen). Die Abiturienten richten sich längst darauf ein. Sie studieren, wenn überhaupt, lieber anderes.
Wir sehen: Es kann, muß aber nicht der reine Altruismus sein, der Pädagogen zu Geragogen, Jugenderzieher zu Seniorenbildnern werden läßt. Die Jugend der Menschen ist weitgehend ausgeforscht, die Zahl der Studien zu diesem Thema ist Legion. Über den „dritten Lebensabschnitt“ aber, jene zwanzig, dreißig Jahre, die der Berufstätigkeit heute meist noch folgen, behaupten die Wissenschaftler, noch viel zu wenig zu wissen. Konsequent rufen sie nach neuen (oder umgewidmeten) Lehrstühlen und nach Forschungsmitteln. Nicht mehr lange, meint Ludger Veelken, und jeder dritte Deutsche zählt zu den Jungen Alten.
Was bedeutet das für eine Gesellschaft, die Leistung und Erfolg immer noch höher bewertet als Zufriedenheit, Hilfsbereitschaft oder Bildung? Was bedeutet es für die Stadtplaner, die Architekten, für die Krankenkassen, für die Freizeitindustrie? Für die Wissenschaft bedeutet das: Es gibt reichlich zu tun. Ludger Veelken: „Die Hochschulen müssen sich fragen: Können wir es uns leisten, an dieser wachsenden Schicht vorbeizugehen?“ Von ihnen hänge es weitgehend ab, wie viele Menschen ihren dritten Lebensabschnitt künftig „in selbstbestimmter Freiheit organisieren“ und wieviele „einfach dahinleben“.
An der Universität Marburg läuft soeben ein neuer Modellversuch an. Diesmal soll erprobt werden, welche Studiengänge sich für Senioren noch anbieten könnten – neben der in Dortmund praktizierten Ausbildung zum, sozusagen, professionellen Ehrenamtlichen. (Für Sprachwächter: Unsinnig ist nicht der Begriff, sondern der gesellschaftliche Zustand, der ihn entstehen läßt.) Begonnen haben die Marburger mit vier Studiengängen: Gesellschafts-, Literaturwissenschaften, Pädagogik und Geschichte. Im nächsten Wintersemester bieten sie erstmals auch ein interdisziplinäres naturwissenschaftliches Studium an. Unter Einbeziehung von Theologie und Philosophie sollen die Senior-Studenten dann alle Aspekte der Ökologie und des Umweltschutzes ausforschen können.
Jeder Hochschullehrer kennt die KMK-Prognose, wonach im Jahr 2000 fast nur noch halb so viele junge Menschen studieren werden wie heute. Statt darüber zu frohlocken, da also endlich eine Normalisierung der Hörerzahlen in Sicht wäre, schwant ihnen – wohl nicht zu Unrecht –, daß die Steuermittelverteiler jeden Rückgang der Studentenzahlen zum Anlaß nehmen werden, den Hochschulen Gelder zu streichen. Also gilt es für jeden Ordinarius, für jeden Rektor, der auf sich hält, neue Argumente zu finden, warum sein Etat gehalten (wenn nicht erhöht) werden muß. Da kommt der lange überlesene Weiterbildungsauftrag des Hochschulrahmengesetzes gerade recht.
Nicht nur die Jungen Alten werden jetzt zu „Kunden“ der Unis, auch Berufstätige, die der rasche Wandel der Technik zu immerwährender Fortbildung verpflichtet. Oder Hausfrauen und Mütter, denen die Uni bei ihren Emanzipationsbestrebungen behilflich ist.
Noch allerdings preisen die meisten Hochschulen lieber die Qualität ihrer High-Tech-Studiengänge, mit Computerwissenschaften und Technologiezentren, mit engen Banden zur regionalen Wirtschaft, summa summarum: mit ihrer Nützlichkeit beim großen wirtschaftlichen Sprung nach vorn; dorthin, wo Japan und das amerikanische „Silicon Valley“ vermutet werden. Doch wer weiß, vielleicht reiben sich die Rektoren und Regionalpolitiker, die zur Zeit nur Informatik, die Ingenieurkunst und die anwendungsbezogene Physik für Wissenschaften halten, demnächst ja vor Freude die Hände, weil „ihre“ Soziologen und Pädagogen in den für sie so harten Zeiten einfallsreich gewesen sind.
- Quelle DIE ZEIT, 2.5.1986 Nr. 19