Am 1. Januar 1993 werden sich viele Amerikaner erstaunt die Augen reiben, wenn sie hören: Der Europäische Binnenmarkt ist Wirklichkeit. Europa machte reichlich Schlagzeilen während der letzten Monate, aber es waren Schlagzeilen, die von Stillstand berichteten, von Enttäuschungen, von Rückschlägen.
(Eher bemitleidenswert schien Europa denn ein ernstlicher Konkurrent: Auf dem Balkan tobt ein Bürgerkrieg, in Deutschland marschieren wieder Nazis, die Dänen lehnten den Vertrag von Maastricht ab, die Franzosen beinahe - da wirken die USA geradezu wie ein Hort des Optimismus und der Sicherheit. Mit anderen Worten: Es bot sich das altgewohnte Bild.)
Noch vor einem halben Jahr hatte das ganz anders ausgesehen: Da zweifelten die Amerikaner an sich selber, sahen ihre Führungsrolle mit dem Kalten Krieg beendet, da blickten sie voller Sorge auf ein Europa, daß sich anschickte, Muskeln zu zeigen.
Doch für die US-Wirtschaft ist der Binnenmarkt im Grunde eine größere Herausforderung als ein politisch geeintes Europa. Politisch mag Europa vorerst ein tönerner Riese bleiben, doch ökonomisch geraten die USA ins Hintertreffen, und viele hier wissen es.
Ab Januar werden die USA nicht mehr der größte Markt der Welt sein. Sie verlieren damit eine wesentliche Säule für ihren Anspruch, Führungsmacht zu sein, für ihr Selbstwertgefühl. Sie bleiben die größte Militärmacht, aber was bedeutet das in einer Welt, in der nicht mehr täglich Raketen gezählt werden, sondern Exporterfolge und Jobs? Diese besorgte Frage beflügelt den neugewählten Präsidenten Clinton zur Reform von Banken-, Gesundheits- und Bildungssystem - oft nach europäischem Muster.
Und Noch-Präsident George Bush hat als amerikanische Antwort auf den EG-Binnenmarkt mit Kanada und Mexiko das Nordamerikanische Freihandelsabkommen geschlossen: NAFTA. Der nordamerikanische Binnenmarkt wäre noch größer als der europäische:
- In den USA, Kanada und Mexiko leben derzeit rund 363 Mio Menschen, mehr als in den Grenzen der EG,
- die Bruttoinlandsprodukte addiert machen eine ähnliche, geringfügig größere Summe aus als in Europa,
- die umfaßte Landmasse ist allemal gewaltiger; dafür sorgt allein schon Kanada. Um hier mitzuhalten, müßte sich Rußland mit seinen sibirischen Weiten der EG und dem Binnenmarkt anschließen dürfen.
Doch das will in Westeuropa vorerst kaum jemand. Aus vergleichbaren Gründen heraus, aus denen in den USA viele vor offenen Marktgrenzen hin zu Mexiko warnen.
Zwar scheint Mexiko derzeit politisch und wirtschaftlich stabiler als Rußland, aber noch sieht seine Wirtschaftsstruktur mehr nach Dritter Welt aus als nach Industriegesellschaft. Die US-Gewerkschaften fürchten die Konkurrenz unterbezahlter mexikanischer Arbeiter. NAFTA-Befürworter halten dagegen, daß Mexikaner weiterhin in die USA strömen werden, wenn der nordamerikanische Lebensstandard nicht zu ihnen kommt - ein Argument, das besonders in deutschen Ohren vertraut klingt.
Doch während die innerdeutsche Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR von heute auf morgen Wirklichkeit wurde und der 1. Januar 1993 für den Europäischen Binnenmarkt Stichtag ist, steht NAFTA noch in den Sternen. Noch sind die Verträge nicht ratifiziert. Clinton will sie „nachbessern“. Aber selbst wenn sie, was allgemein erwartet wird, in Kraft treten, sorgen Übergangsfristen von fünfzehn Jahren dafür, daß Europa über die Jahrtausendwende hinaus der größte Markt der Welt bleiben wird.
In der Theorie verspricht NAFTA den ungehinderten Strom von Arbeitnehmern, Waren, Kapital und Dienstleistungen über die Grenzen hinweg. In Wahrheit dürfte der Vertrag ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Anwälte sein. Das Kleingedruckte steckt voller Schutzklauseln für Industrien hüben und drüben.
Noch haben auch nur wenige US-Amerikaner wahrgenommen, welche Opfer ihnen NAFTA abverlangt. Amerikaner gelten gemeinhin als Fortschrittsenthusiasten. Doch wo sie Traditionen haben, pflegen sie diese liebevoll und hartnäckig. Entfernungen zwischen Städten werden in Meilen gemessen, Benzin wird nicht literweise verkauft, sondern per Gallone (3,78 Liter), ein halbes Kilo Steakfleisch wiegt knapp achtzehn Unzen. In Kanada und Mexiko aber gilt das Dezimalsystem. Mancher Politiker in Washington fürchtet sich schon heute vor dem Sturm der Entrüstung, der einsetzen wird, wenn die Amerikaner erst merken, daß NAFTA ihnen Meile, Unze und Gallone nehmen wird.
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