Uwe Knüpfer
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Feature zum Simpson-Urteil: die Jury hatte das Wort - Experten verblüfft - US-Medien spielten verrückt

3/10/1995

 
Die Experten hatten unrecht, und wie. Die Jury hat gesprochen, Volkes Stimme, und das Urteil, es kam schnell. Hundertschaften von Experten hatten vorausgesagt, die Geschworenen würden tage-, womöglich wochenlang beraten - und sich am Ende doch nicht einigen. Nun ging der Simpson-Prozeß schneller zuende, als befürchtet - oder erhofft, je nach Standpunkt.

Anklage und Verteidigung wurden kalt erwischt und ebenso die Fernsehsender. Anwälte und Komentatoren hatte sich auf eine Pause eingerichtet. Simpson-Verteidiger Johnnie Cochran erfuhr im Flughafen von San Francisco, daß er zurückzukommen hatte in jenen Gerichtssaal in Los Angeles, wo - dem Medienauftrieb zufolge - nicht Simpsons Schicksal auf der Kippe stand, sondern das der Freien Welt. Mindestens.

Eigentlich hatte Cochran am Dienstag einen öffentlichen Vortrag halten, seine Popularität vermarkten wollen.

Am Freitag letzter Woche hatten Verteidigung und Anklage ihre Plädoyers beendet, mehr als ein Jahr nach Prozeßbeginn, nach Anhörung von mehr als 120 Zeugen, nach Anhäufung von 40000 Seiten protokollierter Aussagen. Neun Monate lang hatten die zwölf Geschworenen nur stumm dabeisitzen können, zuhören, sich Notizen machen. Die Kameras im Gerichtsaal durften nicht in ihre Richtung schwenken. Die Geschworenen waren in einem Hotel untergebracht, durften nur selten Verwandte sehen und sprechen, durften keine Zeitungen lesen, keine Fernsehprogramme verfolgen, in denen der O.J.-Prozeß Erwähnung fand. Sprich: so gut wie nichts.

Am Freitag erklärte Richter Lance Ito den Geschworenen, wie sie zu beraten hätten. Daß sie drei Möglichkeiten hatten: O.J.Simpson, das einstige Fußballidol, entweder freizusprechen oder ihn a) des Mordes, b) des Totschlags schuldig zu finden.

Die Anklage hatte auf Mord plädiert, die Verteidigung auf Unschuld. Die allermeisten Experten rechneten damit, die Jury werde sich nicht einigen können. Eine "hung jruy", das hätte geheißen: Das ganze Verfahren hätte von vorn zu beginnen gehabt.

Am 12. Juni 1995 wurden Simpsons geschiedene Frau, Nicole Brown, und ein Freund von ihr, Ron Goldman, förmlich abgeschlachtet; im beschatteten Pfad, der zu Nicoles Haus führt, am Bundy Drive in Beverly Hills. Die Tatwaffe wurde nie gefunden, niemand hat den Mord beobachtet.

Die Anklage häufte monatelang Indizien auf Indizien: Da war Simpsons Blut am Tatort, sein Fußabdruck, Blut der Opfer auf Simpsons Socke, gefunden im Schlafzimmer seiner Villa, die nur fünf Autominuten von Nicoles Haus entfernt steht, Blut in Simpsons Wagen. Da waren Haare. Stoffasern. Und die Kläger beschrieben Simpsons Motiv: Mehrfach hat er seine Frau geschlagen und bedroht. Jahre brauchte Nicole, sich aus Simpsons Umklammerung zu lösen, die Scheidung zu erwirken. Mehrfach hat sie bei der Polizei Hilfe gesucht, ja, sie hat vorausgesagt, Simpson werde sie umbringen. Und er werde davonkommen, weil sich niemand an einem reichen Idol wie ihm vergreift.

Die Verteidigung hatte dem in der Sache wenig entgegenzuhalten. Einen anderen Verdächtigen hatte auch sie nicht beizubringen. Nur vage angedeutet blieb die Idee, es könnten Drogendealer gewesen sein, die es auf Ron Goldman abgesehen hatten. Doch Goldmans Lebenswandel gab für diese Theorie wenig her. Er erschien als schlichtweg sympathischer junger Mann, der gerne aushalf. Am 12. Juni brachte er Nicole Brown eine Sonnenbrille nach Haus, die sie im Restaurant hatte liegen lassen, im Restaurant, in dem Goldman als Kellner arbeitete, nur wenige Gehminuten vom Bundy Drive entfernt. Wo Nicole mit ihren zwei Kindern und Feunden zu abend gegessen hatte, ohne Simpson. Der Anklage zufolge kam Goldman dem Täter in die Quere, mußte er sterben, weil er ein Zeuge war. Der Anklage zufolge hatte Simpson sich am Nachmittag entschlossen , "sein Problem", die Frau, die er liebte und haßte, aus dem Weg zu schaffen. Zeugen schilderten ihn als seltsam gelöst. Ankläger Darden, ein Schwarzer, sprach von einer Lunte, die seit Jahren brannte. An diesem Abend habe die Glut den Sprengsatz erreicht.

In Ermangelung eines Alibis und entlastender Beweise spielte die Verteidigung, ein "Dream Team" der teuersten Strafverteidiger der USA, die "Rassenkarte" aus. Simpson ist schwarz. Nicole war weiß und blond. Die USA waren in ihrer Meinung über Simpsons Schuld entlang der Rassengerenze gespalten: Eine Mehrheit der Weißen hielt ihn für schuldig, eine ebenso große Mehrheit der Schwarzen für unschuldig.

Neun der zwölf Geschworenen waren Schwarze, zumeist ohne höheren Bildungsabschluß. Zur Grunderfahrung von Schwarzen aus Los Angeles' Mittel- und Unterschicht gehört es, daß die Polizei Vorurteile gegenüber ihnen hat. Die Verteidigung behauptete, Polizei und Staatsanwaltschaft hätten sich verschworen, Simpson zu nageln. Sie hätten gar nicht erst nach anderen Verdächtigen Ausschau gehalten.

Und in der Tat wies sie einem der Detektive, die am Tatort waren, nach, daß er ein Rassist ist. Detektiv Fuhrman hatte vor Gericht beschworen, seit zehn Jahren habe er das Wort Nigger nicht mehr in den Mund genommen. Die Verteidigung legte Tonbänder vor, auf denen Fuhrman das "N-Wort" gleich ein paar dutzend mal in von sich gibt. Fuhrman hatte sich als Quelle für eine, wie das in Hollywood heißt, "aufstrebende Drehbuchschreiberin" zur Verfügung gestellt. Ein Drehbuch hat die Dame bisher nicht geschrieben. Aber nun konnte sie ihre Tonbänder teuer vermarkten.

Der Prozeß war ein Bombengeschäft, nicht nur für die "Drehbuchautorin" oder für die T-Shirt- und Button-Verkäufer vor dem Courthaus. Mehrere Bücher wurden geschrieben, von Simpson selbst, von einer Freundin der Ermordeten, von Kato Kaelin, einem tumben, aber blonden Hausgast Simpsons, der zwar wenig gesehen hat und vor Gericht noch weniger zu sagen wußte, der inzwischen aber bekannter ist als der Vizepräsident der Vereinigten Staaten.

Und natürlich haben die Medien an dem Prozeß verdient. Auflagen stiegen, Einschaltquoten schossen in die Höhe. Für den Nachrichtensender CNN gibt es seit einem Jahr nichts wichtigeres als den Simpson-Prozeß. Nun dürfte er sich trösten, daß es eine Berufungsverhandlung geben wird. Im Dienst der Verteidigung hat sich der Bostoner Anwalt Alan Dershowitz von Anbeginn Notizen gemacht. Zu dem einzigen Zweck, Anhaltspunkte für Verfahrensfehler zu finden.

Jetzt, endlich, werden auch die Geschworenen absahnen können. Kaum hatten sie ihre Pflicht getan, kaum waren sie entlassen, durfte ihre Identität offenbart werden, stürzten sich die Agenten von Sendern und Verlagen auf sie (wenn nicht schon heimlich zuvor Kontakte angebahnt worden waren; rechtswidrig). In der Jury beim "Prozeß des Jahrhunderts" gesessen zu haben, das ist  besser als ein Lottogewinn.

Es war, als hätten die Geschworenen es nicht mehr abwarten können, endlich das Wort zu haben. Seit Freitag abend lag der Fall in ihren Händen, doch erst ab Montag durften sie untereinander beraten. Richter Ito hatte sie angewiesen, übers Wochenende hinweg nicht miteinander über den Fall zu diskutieren. Am Montag um neun Uhr morgens erhielten sie weitere Instruktionen, dann wurden sie in einen Konferenzraum unweit des Gerichtssaales entlassen. Dort saßen sie, endlich unter sich, im Kreis um einen vieleckigen Tisch. Eine 50jährige Schwarze hatten sie zur ihrem "Vormann" gewählt. Kein gutes Omen für Simpson: Die offenbar willenstarke Frau hatte sich von emotionalen Appellen, von Cochrans flammendem Plädoyer gegen den Rassismus der Polizei, allzu sichtlich unbeeindruckt gezeigt.

Cochran hatte unverhohlen davon gesprochen, der Ausgang des Prozesses werde Auswirkungen auch außerhalb des Gerichtssaales haben... Die Polizei bereitete sich vorsichtshalber auf Unruhen vor. Vor drei Jahren brannten Teile der Stadt, nach einem Freispruch für Polizisten, die einen schwarzen Autofahrer brutal zusammengeschlagen hatten.

Aber jene Jury damals, im Rodney-King-Prozeß, bestand nur aus Weißen.  Im Ernst rechnete niemand mit Unruhen, diesmal: Mit King konnten sich Unterschicht-Schwarze identifizieren. Mit dem Millionär und Aufsteiger, mit der Hollywoood-Berühmtheit  Simpson schwerlich. Den King-Prozeß empfanden sie als Teil ihres Lebens, das Urteil damals als ein Urteil von "denen" gegen "uns". Den O.J.-Prozeß empfanden sie als TV-Geflimmer - im Grunde ununterscheidbar von den Seifenopern, die sonst die Programme beherrschen.

Aber die Polizei wollte sich nicht erneut vorwerfen lassen, unvorbereitet gewesen zu sein.

Die Jury war sich schnell im Grunde einig. Nur die Aussage eines einzigen Zeugen wollte sie noch einmal hören. Dafür kehrte sie in den Gerichtssaal zurück. Die Aussage von Allan Park. Jene Aussage, die von zentraler Bedeutung für Simpsons Alibi war. Von zentraler Bedeutung dafür, daß er keines hatte.

Limousinenchauffeur Park hatte am Abend des 12. Juni den Auftrag, Simpson von dessen Villa abzuholen und zum Flughafen zu bringen. Er sagte aus, um 22.22 Uhr geläutet zu haben. Niemand habe geöffnet, die Fenster des Hauses seien dunkel gewesen. Von Simpsons weißem Geländewagen keine Spur. Um 22.56 Uhr will Park gesehen haben, wie eine große, dunkle Gestalt durch einen Nebeneingang in das Haus hineinhuschte. Minuten später gingen Lichter an, Simpson kam zur Tür, behauptete, verschlafen zu haben. Er hatte, neben anderen Gepäckstücken, eine Tasche dabei, die er nicht aus der Hand geben wollte. Die Tasche tauchte später nie wieder auf. Die Anklage vermutet, Simpson habe sie am Flughafen in den Abfall geworfen. Seine blutbeschmierte Kleidung sei darin gewesen und womöglich auch das Messer.

Der Anklage zufolge wurde der Doppelmord zwischen 22.15 und gegen 22.45 Uhr verübt.

Auch im zweistündigen Kreuzverhör war Park stur bei seiner Aussage geblieben. Protokollierte Telefongespräche, die er aus der Limousine heraus geführt hatte, belegten seine Zeitangaben. Als Teil einer Polizeiverschwörung gab er sich nicht her.

Anderes wolte die Jury nicht mehr hören, nicht mehr wissen. Keine Stunde später bat sie Richter Ito um ein Urteilsformular.

Zurück im Verhandlungsraum übernahm ein Gerichtsdiener den Umschlag mit dem Urteil. Die wenigsten Anwälte waren zugegen und kaum noch Zuschauer. Auch die Familien der Opfer, sonst stets dabei,  hatten das Gebäude verlassen. O.J. Simpson starrte erstaunt und aufgeregt in Richtung der Geschworenen. Die mieden jeden Blickkontakt mit ihm. Ein Anwalt mußte Simpson auf die Schulter klopfen, als es Zeit war, zu gehen. Zurück ins Gefängnis.

Ito hatte der Verteidigung und der Anklage  - und den Fernsehsendern - versprochen, sie vier Stunden vor einer Urteilsverkündung zu informieren. Also mußten die Geschworenen sich ein allerletztes mal gedulden. Erst am Dienstagmorgen gab Ito der Jury-Vorsitzenden den Umschlag zurück. Sie sollte überprüfen, ob alles in Ordnung war. Dann ging der Umschlag wieder zurück an Ito. Der Richter verlas den Urteilsspruch.

Jetzt waren die Anwälte und die Angehörigen zugegen. Auch Simpsons greise Mutter war dabei. Und die Medien waren in Divisionsstärke in Stellung gegangen. Neun TV-Sender übertrugen das Urteil live und landesweit. NBC und ABC hatten schon den ganzen Morgen über nichts anderes berichtet, als darüber, daß es aus Los Angeles im Moment nichts zu berichten gab. Der ganze Fall wurde noch einmal aufgerollt, und am Nachmittag wieder. Experten durften wieder und wieder sagen, wie verblüfft, wie erschlagen sie von der Schnelligkeit des Urteils waren. Wer auch immer den Hunderten von Reportern rund um das Gerichtsgebäude in die Quere kam, wurde interviewt. Die Einschaltquoten zur Zeit der Verkündung des Urteils dürften alles bisher Dagewesene übertroffen  haben.

Einen ganzen letzten Tag lang hatte Amerika kein anderes Thema.


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