Uwe Knüpfer
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Rolle der Geschworenen im Simpson-Prozeß: wie Geiseln gehalten

4/10/1995

 
Die zwölf Geschworenen des O.J. Simpson-Prozesses haben auch sich selber freigesprochen. Neun Monate lang lebten sie wie inhaftiert, getrennt von ihren Familien, isoliert in Hotelzimmern. "Dem Himmel sei Dank, daß es Telefone gibt," schreibt einer der Ex-Juroren in einem Buch  über den "Prozeß des Jahrhunderts": Ohne Telefone "trügen wir alle Zwangsjacken."

Bis Dienstagmittag wurden die Namen der Geschworenen geheimgehalten. Manche hatten Bekannten nur gesagt, sie gingen auf eine Reise. Oft  wußten die Nachbarn nicht, daß die Person jenseits des Gartenzauns im Begriff war, Geschichte zu machen. All das änderte sich nach dem Freispruch schlagartig.

Auf die Vorsitzende der Jury, eine fünfzigjährige geschiedene Schwarze, warteten daheim zwei Dutzend langstieliger roter Rosen. Und: fünf Polizeibeamte. Um Armanda Cooley, so heißt die Geschworene, vor dem Andrang der Reporter zu schützen.

Anderen Jury-Mitgliedern bereiteten Nachbarn und Verwandte Parties. Eine Geschworene, die erst kurz vor Prozeßbeginn geheiratet hat, entschwand mit ihrem Mann in, wie es hieß, "einen anderen Staat". Für zweite Flitterwochen.

Dienst in einer Jury zu tun zählt zu den Bürgerpflichten jedes Amerikaners. Wer einen Führerschein besitzt oder als Wähler registriert ist, den kann es "erwischen". (Die USA haben keine Meldepflicht.) Ablehnen kann man nur mit triftigem Grund. Die Aufwandsentschädigung für den Jury-Dienst variiert von Staat zu Staat; von einer Handvoll Dollar pro Tag bis zu vollem Verdienstausgleich. Kalifornien zählt zu den großzügigeren Staaten. Gut zweieinhalb Mio Dollar ließ sich  die Staatskasse die Dienste und Leiden der Simpson-Geschworenen kosten.

266 Tage lebten die Jury-Mitglieder in einem Luxus-Hotel, dem Intercontinental. Ein Bus brachte sie zum Gerichtsgebäude und zurück. Keine Jury in der US-Geschichte war je zuvor für so lange Zeit isoliert. Bisher stand der Rekord bei 225 Tagen; im Prozeß gegen Charles Manson, wegen des brutalen Mordes an der hochschwangeren Schauspielerin Sharon Tate.

Zehn der Geschworenen im Simpson-Prozeß sind Frauen. Nur zwei haben einen Hochschulabschluß. Neun sind schwarz, einer ist lateinamerikanischer Herkunft. Ihr Alter variiert von 22 bis 72 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von 43. Beobachter sagen, diese Zusammensetzung sei nicht untypisch für Juries in Los Angeles. Die Wohnbevölkerung der Innenstadt ist überwiegend schwarz  und "Middle Class" bis arm.

Für diese Geschworenen galten noch strengere Regeln als normalerweise üblich. Richter Lance Ito hatte ihnen verboten, ihre Hotelzimmer zu verriegeln, Alkohol zu trinken und sich in kleinen Gruppen zu unterhalten; mit Außenstehenden sowieso nicht. Nur gelegentliche Besuche von Ehepartnern waren gestattet. Von allen TV-Programmen und Zeitungen, die sich mit dem Simpson-Prozeß beschäftigten, wurden die Geschworenen ferngehalten. Juries in einer solchen Situation, sagen Experten, neigen entweder dazu, sich zu verzanken oder eng zusammenzurücken. Diese rückte offenkundig zusammen. Und hatte am Ende nur noch einen Wunsch: So schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Freilich nicht ohne voneinander und vom Hotelpersonal Abschied zu feiern.

Die Schnelligkeit der Urteilsfindung - die Jury beriet weniger als vier  Stunden, Experten hatten mit Tagen, gar Wochen gerechnet - erklärte eine Geschworene so: "Wir waren neun Monate lang dabei. Wir brauchten keine weiteren neun Monate."

"Geschworene urteilen mit dem Herzen und nutzen ihren Verstand, die Entscheidung zu rechtfertigen," weiß die Autorin des Buches "What Juries Make Listen", Sonya Hemlin. Erfahrung lehre, daß Geschworene sich ihre Meinung sehr früh im Prozeß bilden und dann nur noch auf Indizien und Aussagen warten, die ihre Meinung untermauern.

Manche Prozeßbeobachter werfen der Anklage vor, voreingenommene Geschworene nicht abgelehnt zu haben (wie es ihr Recht gewesen wäre). Armanda Cooley etwa hatte in jener Befragung, die ihrer Ernennung zur Geschworenen vorausging, angegeben, sie betrachte häusliche Auseinandersetzungen als "persönliche Probleme". Das machte sie, wie man nun weiß, nicht aufgeschlossen für die Argumentation der Anklage, Simpson habe seine Frau über Jahre hinweg mit Drohungen und Schlägen verfolgt, und der Mord sei nur die Konsequenz einer langen Geschichte häuslicher Gewalt.

Psychologen empfahlen den Jury-Mitgliedern, professionellen Rat zu suchen. Als Jury eingesperrt zu sein, gleiche der Lage von Geiseln, sagt Professor Roger Bell: "Sie haben ein Wiedereintrittsproblem ." Die Hierarchien in den Familien könnten sich verschoben haben, am Arbeitsplatz habe womöglich längst jemand die Lücke gefüllt. Oft seien Scheidungen die Langzeitfolge des Dienstes in einer Jury.

Bilder aus dem Prozeß verfolgen Geschworene oft noch lange. Wie auch die Frage, ob ihr Urteil korrekt war. Einige der Geschworenen im Simpson-Prozeß beteuern nun, geradezu demonstrativ: "Wir haben das Richtige getan." Andere zeigen Zweifel. Eine 60jährige weiße Frau ließ ihre Tochter den rudelweiße angetretenen Reportern berichten: "Sie hat gesagt: Ich denke, wahrscheinlich war er's, aber die Beweise fehlten."

Die Jury in einem Mordporzeß kann den Angeklagten nur schuldig sprechen, wenn seine Schuld als "jenseits vernünftigen Zweifels" erwiesen scheint. In diesem Fall blieben offenbar Zweifel.

Aber die Familien der Opfer haben bereits Zivilprozesse gegen Simpson angestrengt. Sie verlangen die Zahlung von Schadensersatz aufgrund "rechtswidrigen Todes" von Nicole Brown und Ron Goldman. ("wrongful death"). Auch hierüber werden nach amerikanischem Recht Geschworene entscheiden. Auch sie müssen befinden, ob Simpson des Mordes schuldig ist. Aber in einem Zivilprozeß werden sie nicht gefragt, ob "vernünftige Zweifel" bleiben, sondern ob die Beweislast erdrückend ist ("preponderance of the evidence"). Das macht einen Schuldspruch wahrscheinlicher. Die Höhe des Schadensersatzes würde sich nach Simpsons Vermögen richten.

Der könnte arm darüber werden.

Erneut strafrechtlich belangt werden kann Simpson aber wegen des Mordes an Nicole Brown und Ron Goldman nicht. Das verbietet der fünfte Zusatz zur US-Verfassung.

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