Amerikaner sind die besten Verkäufer der Welt. Sie verkaufen, was ihnen in die Finger gerät. Jetzt ist es Schnee.
Die nüchternen Daten: Es schneit seit der Nacht auf Sonntag. Vor dem Fenster des Korrespondenten sind seither rund sechzig Zentimenter wunderbar lockeren Pulverschnees gefallen. Es ist minus sechs Grad Celsius kalt und wunderbar still.
Aber was besagt das schon? Was macht das her? Wie wär`s damit: Alle Schulen, Universitäten, alle Behörden sind geschlossen. Besorgt blickende Gouverneure rufen den Notstand aus. Auf den Flughäfen zwischen Boston und Washington bewegen sich nur noch Schneeräummobile. Die Nationalgarde steht in Bereitschaft.
Nachrichtensprecher empfehlen, hellwach und tiefernst: "Bleiben Sie, wo Sie sind!" Auf der achtspurigen Ringautobahn rund um die US-Hauptstadt sind Autos so selten geworden wie Nacktbader im Januar auf Sylt. Wie wirklich ernst die Situation ist, zeigt dies: Selbst manche Supermärkte waren am Sonntag geschlossen.
Sie hätten ohnehin nicht viel zu verkaufen gehabt. Die Regale waren Samstagabend schon geplündert. Den ganzen Tag über hatten Radiostationen vor dem Heranziehen eines "wirklich schweren Schneesturms" gewarnt, und alerte Hörer zogen Konsequenzen: Sie hamsterten - Lebensmittel, Bier, Feuerholz, Kerzen, Videos; alles, was man so zum überleben braucht. Videos vor allem. Der Sturm konnte kommen.
In amerikanischen Adern fließt das Blut von Pionieren. Leider bietet der moderne Alltag wenig Chancen, Pioniergeist zu beweisen. Wie gut, daß es das Wetter gibt. Am Sonntag fuhr so manches uns unbekannte Auto durch unsere Straße. Was deshalb bemerkenswert ist, weil es sich um eine Sackgasse handelt und Räumfahrzeuge sich nicht blicken ließen. Die Autos waren allradgetriebene Geländewagen. Nichts am Automarkt hat sich in den letzten Jahren so gut verkauft wie allradgetriebene Geländewagen. Seht alle her, riefen uns deren stolze Besitzer nun zu; wortlos, schlichtweg fahrend: Wir waren gescheit!
Dutzende von Vierradfahrern meldeten sich bei den örtlichen Krankenhäusern - auch das ist Amerika -, um ihre Hilfe anzubieten: Die Hospitäler suchten verzweifelt nach Fahrzeugen und Fahrern, eingeschneite érzte und Patienten zu transportieren oder Medikamente auszuliefern. In Zeiten der Not rücken Pioniere zusammen, bauen eine Wagenburg.
Wetterexperten raten Eltern dringend, ihre Kinder im Haus zu behalten: Die Kälte sei gefährlich. In unserer Nachbarschaft ist nicht zu beobachten, daß dieser Aufruf erhört worden wäre. Auch amerikanische Kids lieben die Herausforderung. Und wozu hat man Schlitten.
Die Prachtstraße Pennsylvania Avenue - sie verbindet Kapitol und Weißes Haus - gehörte bis Montagfrüh Menschen auf Langlaufskiern. Sie genossen die Katastrophe sichtlich. Auch die Familie Clinton schien es zu genießen, von der Kirche zum Weißen Haus zurück zu Fuß stapfen zu können, in dicke Wintermäntel gehüllt. Bei Normalwetter wäre das unmöglich und der Secret Service davor.
Zu einer wahren Katastrophe gehören, naturgemäß, Tote. Hätte im Sommer nicht ein cleverer Leichenbeschauer in Chicago jeden Verstorbenen der Großstadt flugs zum "Hitzetoten" erklärt, wäre der Welt womöglich die Meldung von der "Killerhitze" entgangen, die den Norden der USA überzog, damals.
In Chicago können sie über sechzig Zentimeter Schnee nur lachen. Schneestürme und eisige Kälte gehören dort zum Alltag. Doch im winterlich lauwarmen, sommerlich treibhaushaft schwülen Washington minichten. Dort gehört die Angst vorm Schnee zum Alltag. Die Schulen schließen hier schon, wenn nur drei Flocken fallen. Wer von überlebbaren Katastrophen nicht verwöhnt ist, genießt sie, wie sie kommen.
Die schlechte Nachricht ist: Montagmittag hörte es auf zu schneien, ja: Blauer Himmel, Sonnenschein waren vorhergesagt. Die gute Nachricht: Der nächste Schnee soll schon am Wochenende nahen. Und der Korrespondent ist zwar kein Kap Hoorner, kann aber seinen Enkeln und Lesern erzählen: Ich habe den "Blizzard of '96" überlebt.