Uwe Knüpfer
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Amerika blickt auf Deutschland: Weltschmerz hat Konjunktur

28/4/1992

 
Am Eingang wurden Kopfhörer verteilt. Die meisten griffen zu. Der Gast, so hieß es warnend, werde Deutsch sprechen. Eine respektable Zahl von Kongreßabgeordneten, Beamten und Wirtschaftslobbyisten war dennoch gekommen, um Oskar Lafontaine zu lauschen. Der entschloß sich kurzfristig, Deutsch Deutsch sein zu lassen und sprach Englisch. öber den europäischen Einigungsprozeß und die Rolle Deutschlands und vor allem: über die Kosten der Einheit.
Lafontaines Englisch klang zwar genauso selbstbewußt wie das des Weltökonomen Helmut Schmidt, aber lange nicht so geschliffen. Der Gast erinnerte entschuldigend an seinen harten Arbeitstag; in Deutschland begonnen, in Amerika dank Zeitsprung in die Länge gezogen. Amerikanische Gäste lobten anschließend zwar nicht Lafontaines Englisch, dafür aber seine Courage.
Der volle Saal für den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, das kleiner ist als mancher Vorort von New York, zeigt: Die deutsche Sicht der Dinge interessiert in Washington. Kaum die breite ôffentlichkeit, nicht die populären Fernsehstationen, aber doch die politischen Insider.
Enstsprechend deutscht es am Potomac. Kurz vor Lafontaine war Bundesfinanzminister Theo Waigel erschienen, sein Kabinettkollege und CSU-Parteifreund Carl-Dieter Spranger flog am Dienstag ein, zeitgleich mit dem Bundespräsidenten, und ein Kulturprogramm in der amerikanischen Hauptstadt heißt gar: Tribut an Deutschland.
Richard von Weizsäcker erwidert einen Staatsbesuch des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan.Reagan traf sich mit Kanzler Helmut Kohl über SS-Gräbern in Bitburg. Von Weizsäcker wird an der Holocaust-Gedenkfeier des Kongresses teilnehmen.
Anschließend fliegt er nach Georgia und Texas weiter. In San Antonio wird der Bundespräsident dabei sein, wenn der dortige "Liederkranz" sein hundertjähriges Bestehen feiert. In Washington lud von Weizsäcker als erste Amtshandlung prominente Amerikaner mit deutschen Vorfahren zum Mittagessen ein.
Ins Bild paßt auch, wie das Goethe-Institut sich bemüht, die Amerikaner davon zu überzeugen, um wieviel wichtiger das Deutsche geworden ist - weltweit -, seit der Eiserne Vorhang zu Rost zerfiel. Das Vorhaben gleicht der Lieferung von Eulen nach Athen.
 In einer Hinsicht eifern die Amerikaner den Deutschen derzeit geradezu nach, vielleicht sind sie ihnen sogar schon voraus. Sie ergehen sich in leidvoller Selbstbespiegelung. Keep smiling ist out, Weltschmerz ist angesagt und Melancholie. So jedenfalls wirkt es auf einen Neuankömmling als Korrespondent in der Hauptstadt der weltletzten Supermacht.
Die Zeitungen quellen über von tieftraurigen Betrachtungen des amerikanischen Bildungswesens, des Zustands der Städte, der mangelnden Weltgewandtheit amerikanischer Manager. Der sich dahinschleppende Vorwahlkampf - Bleibt George Bush Präsident, oder wer wird es sonst? - wird zu deprimierenden Analysen des politischen Systems genutzt. Quintessenz: unreformierbar, oberflächlich, nach Effekten haschend und sonst nichts, zudem vom großen Geld regiert.
Solche Kritik ist nicht neu. Was verblüfft, ist: Die Lösungsvorschläge fehlen oder gehen unter. Lamento macht sich breit, wo doch einst die Heimat des positiven Denkens war.
Mit einer Ausnahme. Das Washington Post Magazine hat dazu aufgerufen, die Hauptstadt zu verlegen. Blickt auf die Deutschen, macht es ihnen nach!, ruft das Blatt seinen Lesern zu. Schließlich wisse doch jeder: Washington ist an allem schuld. Wenn Bonn eine Hauptstadt aus der Retorte war, dann sei Washington ein Bonn hoch zwei.
Wer Revolution will, meint der Kolumnist, könne sie von den Washingtonians nicht erwarten, denn die leben alle von dem System, so wie es ist; Anwälte und Lobbyisten, Bürokraten und Gastwirte. Die Journalisten hat er zu erwähnen vergessen.
Als bessere Hauptstadt schlägt der Autor New York vor, wahlweise Chicago oder Detroit. Denn: Die Regierung sollte da sein, wo die Menschen sind - wenigstens im Sommer, wenn es am Potomac unerträglich heiß und schwül wird.

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