Eine Posse. Beteiligt sind: die Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, Hans Schwier also, Hans Maier und Gerhard Meyer-Vorfelder. Zudem der Philologenverband. Gegenstand der Erregung: die 22 nordrhein-westfälischen Kollegschulen. Oder genauer: Die Tatsache, daß an diesen, wie man sie nennen könnte, Schulen mit gymnasialer Oberstufe, neben anderen Abschlüssen auch die allgemeine Hochschulreife erworben wird. Oder, noch genauer: daß Hans Schwier einen versprochenen Bericht angeblich nicht abgeliefert hat. Oder doch, aber den falschen. Oder den richtigen zu früh.
Starke Worte. „Billig-Abitur!“ wettert der Philologenverband und zitiert einen Bericht, den, so sein nordrhein-westfälischer Pressesprecher, „niemand kennt“.
Aus München kommen dunkle Drohungen. Es sei höchst fraglich, ob das Kollegschul-Abitur weiterhin anerkannt werden könne. Man erwarte gespannt den längst zugesagten Zwischenbericht aus Düsseldorf. Eine Schlamperei, klingt es zwischen den Zeilen durch, eine unverantwortliche noch dazu. Denn was soll man davon halten, wenn das Land Nordrhein-Westfalen einen Schulversuch startet, sich dazu die Zustimmung der anderen Länder-Kultusminister einholt, sich dabei auf eine Frist einläßt und dann diese Frist verstreichen läßt, ohne den zugesagten Bericht zu erstatten, ja, ohne sich bei den anderen Ländern zu erkundigen, ob die denn bereit sind, auch weiterhin Abiturienten aus Kollegschulen in ihren Universitäten studieren zu lassen?
Wer wollte da nicht dem Sprecher des Stuttgarter Kultusministers zustimmen, der ein solches Vorgehen dreist findet und von einer „Geheimdiplomatie“ der Düsseldorfer spricht, von einer „Kollegschul-Komödie“, in der mitzuspielen man nicht länger bereit sei – „so bedauerlich das für die Schüler sein mag“.
Billig-Abiturienten vom Kolleg? Bedauerlich, in der Tat. 50 000 Schülerinnen und Schüler besuchen derzeit eine Kollegschule. Rund 900 von ihnen gehen Jahr für Jahr in die Abiturprüfung. Sie alle, ihre Eltern, ihre Freunde, haben in den letzten Wochen reichlich Anlaß gehabt, sich über Zeitungsschlagzeilen aufzuregen. Wer hält sich schon gern für einen Billig-Abiturienten? Und schlimmer noch: Lebensplanungen scheinen über Nacht in Frage gestellt, Wer 1986 das Abitur machen will, ist verunsichert, weiß nicht mehr, ob er noch studieren kann, wo er will und wo er glaubt, in dem von ihm gewählten Fach am besten lernen zu können. Eine Posse?
Bis vor kurzem noch haben außer den betroffenen Schülern, Eltern, Lehrern nur ein paar Insider, meist Ministerialbeamte oder Pädagogik-Professoren, vielleicht noch zwei oder drei Journalisten mit ausgeprägtem Langzeitgedächtnis, gewußt, was Kollegschulen eigentlich sind. Das ist auch kein Wunder. Das Wort Kolleg, abgeleitet vom englischen College, erfreute sich bei den Bildungsplanern der 70er Jahre einer ausgesprochenen Beliebtheit (möglicherweise, weil jedermann dabei sofort an grünen Rasen und adrette, freundliche Studenten denkt).
Was nennt sich heute nicht alles Kolleg. In Nordrhein-Westfalen heißen Schulen so, auf denen Erwachsene das Abitur nachholen können. Mit den Kollegschulen, um die es hier geht, haben sie ebensowenig zu tun wie mit Hartmut von Hentigs berühmten Kolleg-Studien-Versuch in Bielefeld. Oder etwa mit der Kollegstufe an bayerischen Gymnasien.
Die Idee der Kollegschule geht zurück auf Überlegungen des Bildungsrates aus den frühen 70er Jahren, auf damals wohl in der gesamten Republik angestellte Überlegungen, wie sich berufliche und allgemeine Bildung zusammenfügen ließen. Anderswo und standen technische oder berufliche Gymnasien, „Fachgymnasien Technik“ oder „Hauswirtschaftswissenschaftlichen Typs“, und wie sie alle heißen. Gustav Grüner hat (in: „Die berufsbildende Schule“, Heft 33, 1981) 66 verschiedene Bezeichnungen für diese Schulform aufgezählt.
Das Kollegschul-Modell entwarf eine Kommission mit dem inzwischen verstorbenen Münsteraner Professor Herwig Blankertz. Wer diese Schule verläßt, soll eine „Doppel-Qualifikation“ in der Tasche haben. Er soll einen Beruf erlernt und gleichzeitig, je nach Fortbildung, Talent und Eifer, einen Hauptschulabschluß, die Fachoberschulreife oder gar das Abitur erworben haben. In den ersten drei Jahren funktioniert die Kollegschule wie eine normale Berufsschule: Ausbildung im Betrieb und Unterricht laufen nebeneinander her. Nur daß Kollegschüler sechzehn Wochenstunden lang die Schulbank drücken müssen, „normale“ Berufsschüler nur zwölf Stunden lang.
1976 schlossen die Kultusminister der Länder eine Sondervereinbarung, sie verpflichteten sich, bis zum 31. Juli 1985 die von Kollegschulen ausgestellten Zeugnisse der Hochschulreife überall anzuerkennen. Im Mai 1983 teilte der Düsseldorfer Kultusminister seinen Kollegen mit, der Schulversuch solle verlängert werden. Daher sei nun „die Anerkennung dieser Abschlußzeugnisse nach dem 31. Juli 1985 sicherzustellen“. Dem Schreiben beigefügt wurde ein Zwischenbericht, ergänzt um statistisches Material. Der Minister bot an, in der 215. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz zusätzlich Auskunft zu geben, „falls dies gewünscht wird“.
Es wurde nicht gewünscht. Der Minister gab seinen Zwischenbericht nebst Schreiben pünktlich vor jenem Zeitpunkt ab, zu dem Schüler in die Jahrgangsklassen zwölf eintraten, die das Abitur frühestens 1986 würden erwerben können. Eine Schlamperei?
Diese Schüler haben Namen. Sie heißen, zum Beispiel, Bernd Stallmann und Engelbert Kramer. Beide gehen in die dreizehnte Klasse der Städtischen Kollegschule und Fachschule für Technik Duisburg-Nord. Die Schule, ein 52 Jahre alter Backsteinbau, ergänzt um einen Neubauteil, steht zwischen den Duisburger Stadtteilen Marxloh und Hamborn, in einer Gegend, in der es nach Stahl und Arbeit förmlich riecht. August-Thyssen-Straße 45 lautet ihre Adresse. Und das ist kein Zufall. Die rund 3500 Schüler, die diese Schule besuchen, haben oder hatten allesamt Ausbildungsverträge mit Stahlunternehmen. Die meisten kommen von Thyssen. Das Unternehmen unterstützt den Schulversuch. Wer bei ihnen „Azubi“ wird, muß zur Kollegschule. Das ist Bedingung.
Die Schüler der dreizehnten Klasse haben ihre betriebliche Ausbildung inzwischen längst hinter sich; sie sind Oberprimaner und Facharbeiter zugleich. Angst vor drohender Arbeitslosigkeit scheinen sie allesamt nicht zu haben. Der Ausbildungsbeauftragte von Thyssen bestätigt: Natürlich werde man später bevorzugt Diplomingenieure einstellen, die schon bei Thyssen gelernt haben.
Die meisten der vierzehn Schüler wollen ein technisches Fach studieren. Hütten- und Datentechnik sind ihre Favoriten.
Zusatzstunden für Schöngeister Der Lehrplan der Kollegschulen wie auch die Abiturprüfungen entsprechen den jeweils geltenden Länderübereinkünften für Lehrpläne und Prüfungen der Gymnasien. Und doch, dies bestätigen auch erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen, kommen die musischen Fächer oft zu kurz. Absolventenbefragungen zeigten, zwar würden die meisten wieder zur Kollegschule gehen und auch anderen diese Schulform unbedingt empfehlen, aber viele hätten, im Rückblick, doch etwas mehr „über den Bauch“ lernen wollen.
Die meisten Kollegschulen sind fortentwickelte Berufsschulen. Da haben es Kunst- und Musiklehrer, Freunde des Schöngeistigen überhaupt, oft schwer, sich im Kollegium zu behaupten. Das Düsseldorfer Kultusministerium versucht dem jetzt entgegenzusteuern. Etwa mit einem Projekt, genannt „Lernort Studio“, einem freiwilligen Zusatzunterricht.
Jede Kollegschule hat andere Schwerpunkte der beruflichen Bildung. Gemeinsam ist allen das didaktische Konzept. Es sieht einen durchgehenden, fächerübergreifenden Projektunterricht vor. So beschäftigt sich die Klasse 11.2 der Kollegschule Duisburg-Nord in diesem Jahr mit „Arbeit und Freizeit Im Religionsunterricht durchforstet sie die Bibel auf der Suche nach passenden Aussagen. In Deutsch geht es, zum Beispiel, um die Analyse und kritische Beurteilung facnsprachlicher Texte. In Gesellschaftslehre um die „Technisierung als Motor des beruflichen Wandels“ oder um die Berufsausbildung in der DDR. Die ständige Verbindung von Praxis und Theorie, das zeigt auch die schon zitierte Befragung, kommt an bei den Schülern. Wird Kritik laut, dann stets in dem Sinne: „Es könnte noch mehr Praxis sein.“
Als ausgesprochen angenehm empfanden die Befragten auch den Klassenverband. Er bleibt bis zum Abitur bestehen. Klage dagegen führten sie über die Arbeitsbelastung, vor allem wenn sie Geschwister haben, die zum Gymnasium oder zur Gesamtschule gehen. Die Wahl –, aber eben auch die Abwahlmöglichkeiten von Fächern sind auf Kollegschulen viel begrenzter als bei der allgemein-bildenden Konkurrenz.
Die wissenschaftliche Begleituntersuchung kommt in ihrem Zwischenresümee zu einer überwiegend positiven Beurteilung der Kollegschulen, insbesondere der projektbezogenen Verbindung von Theorie und Praxis und des Grundsatzes der „Doppelqualifikation“.
Woran denkt der Philologenverband, wäre zu fragen, wenn er die Befürchtung äußert, an den Kollegschulen könnten Jugendliche sozusagen durch die Hintertür die Universität betreten, die dort eigentlich nicht hingehören? Schüler etwa, die auf dem Gymnasium nicht mitkamen, abgingen, und aus denen auf den Kollegschulen nun doch noch etwas wird. Spricht das für oder gegen die Kollegschulen, für oder gegen das Gymnasium?
Die Schüler der Duisburger Klasse dreizehn scheinen die Drohungen aus Stuttgart und München nicht zu treffen. Bernd Stallmann – er will Diplomingenieur werden – meint trotzig: „Es gibt genug Unis in Nordrhein-Westfalen.“
Die Wahl der richtigen Hochschule ist für ihn und die meisten seiner Mitschüler im übrigen nicht nur eine Frage des Fächerangebotes und der Landschaft, auch die Kosten spielen eine Rolle.
Dennoch muß Hans Schwier bestrebt sein, die Anerkennung des Kollegschulabiturs in den anderen Bundesländern auch für die Zukunft zu sichern. Doch wie? Auf den 1983 vorgelegten Zwischenbericht nebst Bitte um fortgesetzte Anerkennung zu verweisen, nutzt ihm nichts.
Die Kultusministerkonferenz ist ein politisches Gremium, einklagbar ist nichts von dem, was die Herren (und wenigen Damen) dort unter sich verabreden. Daß die anderen Länder dem Kollegschulabitur ihre Zustimmung tatsächlich versagen, hält man in Düsseldorf aber auch für unwahrscheinlich. Denn das, glaubt man dort, liefe ja zwangsläufig auf eine Art von „Krieg“ hinaus. Ungewöhnliche Schulversuche gäbe es auch in anderen Ländern zuhauf, da ließe sich, als Retourkutsche, manches überprüfen und in Frage stellen. Einen solchen „Krieg“ werde doch am Ende kein Kultusminister wirklich wollen.
SPD-Missetat Schulreform Vielleicht ja doch. Die erste Regung zum Thema Kollegscnule kam aus Bayern, zu einem Zeitpunkt, der stutzen läßt. Das war im März dieses Jahres zur Wahlkampfzeit an Rhein und Ruhr und fast zwei Jahre nach der Vorlage des Düsseldorfer Zwischenberichts.
Hans Maier schrieb einen Brief, Hans Schwier antwortete. Man gab sich entschieden und kämpferisch. Maier stellte kritische Fragen, Schwier lobte seine Kollegschulen über den grünen Klee. Dann kam der Wahltag und alles schien wieder vergessen. Der 31. Juli verstrich, und niemand regte sich auf.
Bis der Philologenverband Wind machte. Nun, auf einmal, klingt es so, als sei die Kollegschule Teil einer umfassenden Strategie der Sozialdemokraten mit dem Ziel, das gegliederte Schulsystem endlich doch zu zerschlagen. Inhaltliche Einwände gegen die Kollegschule äußert, auch wenn man bohrend nachfragt, keiner ihrer Kritiker. Statt dessen hört man viel von anderen SPD-„Missetaten“: von der angeblich geplanten Zerstörung des Gymnasiums in Bremen, von den pädagogischen Fanfarenstößen, die im Saarland erschallen und von der höheren Berufsfachschule in Nordrhein-Westfalen.
Hans Schwier, der nette Ministerkollege von einst, wird jetzt als Wolf im Schafspelz dargestellt, dem man nichts mehr durchgehen lassen darf. Die bisherige, fast traute, Eintracht der Kultusminister, denen schließlich allen das Leid gemein ist, über sich einen knauserigen Finanzminister zu haben, scheint gestört. Wer weiß, vielleicht ist letztlich Johannes Rau an allem Schuld, der aus seiner Düsseldorfer Idylle partout in Richtung des Bonner Minenfelds abmarschieren will?
Und so sehen Engelbert Kramer, Bernd Stallmann und all die anderen auf einmal keineswegs mehr aus wie Komparsen in einem Possenspiel, sondern eher wie Bauern in einem Schachspiel um die Macht in Bonn. Wie hatte der Sprecher des Stuttgarter Ministers gesagt? „... So Bedauerlich das für die Schüler sein mag.“
- Quelle DIE ZEIT, 3.1.1986 Nr. 02