Warum gibt es Feiertage? Aus zwei Gründen. Erstens, weil es gut tut, von Zeit zu Zeit „auf andere Gedanken zu kommen“, als es die alltäglichen sind. Und zweitens, aus Sicht derer, die sie verkünden und gewähren: Feiertage stiften oder bekräftigen Identität. Doch welche Identität wollen wir an Feiertagen feiern? Wir, die Bürger einer offenen, demokratischen, friedlichen, Gesellschaft? Ganz einfach: Die Freiheit sollten wir feiern, die Freiheit des Denkens und Reisens und Handelns. Und die Demokratie sollten wir pflegen - indem wir sie ehren, und auch den Frieden - und deshalb Europa.
Doch mit den Feiertagen, die wir haben, kann das nicht gelingen. Neue Feiertage braucht das Land!
Feiertage geben dem Jahreslauf einen Rhythmus. Sie erinnern an Erzählungen. An Erzählungen, deren Präsenz wir uns kaum entziehen können. Denn auch, wenn wir sie nicht mehr hören wollen und ihr Sinn uns schleierhaft erscheint, achten wir doch ihre Bedeutung – schon indem wir den Feiertag als freien Tag genießen, als freie Zeit, die wir vergeuden dürfen, wie es uns gefällt. Feiertage sind ein Geschenk an uns selbst.
Jedenfalls gilt das für Republiken. In anderen Staats- und Gesellschaftsformen dürfen sich die Untertanen bei der Obrigkeit bedanken, wenn die ihnen die Gunst eines Feiertags gewährt, etwa zu Kaisers Geburtstag. Sie tut das niemals uneigennützig.
Diese Obrigkeit war im „christlichen Abendland“ seit Menschengedenken die Kirche, lange Zeit nur die katholische, nachdem sie ihr Verkündungsmonopol gegenüber allen als Herätikern und Ketzern abgetanen Konkurrenten durchgesetzt hatte. Seit 500 Jahren sind es, in Deutschland jedenfalls, die beiden großen christlichen Kirchen. Sie nutzten und nutzen den im Kalender abgebildeten Lauf des Jahres zur Dauer-Erzählung der stilisierten Lebensgeschichte Jesu - und damit zugleich oder vor allem zur Legitimierung ihrer eigenen Existenz, Bedeutung und Macht. Die, kein Wunder, im gleichen Maß schwindet wie die Begeisterung für diese Erzählung verblasst.
Diese Erzählung - denglisch: dieses Narrativ - lässt das christliche Jahr beginnen mit der Feier von Marias angeblich unbefleckter Empfängnis (am 8. Dezember), der darauf erstaunlich rasch folgenden Geburt des Christuskindes (24. Dezember ff) und dem ebenso überraschend zügigen Eintreffen der Heiligen Drei Könige (6. Januar). Im März/April folgen Christi Kreuzigung (Karfreitag), seine rasche Wieder-Auferstehung (Ostern), seine (erneute?) Himmelfahrt und das ersatzweise Erscheinen des Heiligen Geistes (Pfingsten).
Damit der Rest des Jahres nicht frei von Besinnung auf die frohe Botschaft und die strengen Regeln der Kirche bleibt, folgen Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen und der Buß- und Bettag, mindestens. 2017 ist es den Lutheranern gelungen, im Kanon der staatlich sanktionierten Feiertage am 31. Oktober noch den Reformationstag dazwischenzuschieben.
Dieser Festkalender erinnert uns daran, dass die Macht der Kirche hierzulande jahrhundertelang - eben „seit Menschengedenken“ - alle Lebensbereiche prägte und durchdrang, vom Privatesten wie Partnerwahl und Erziehung bis zur Wahl und Krönung von Königen und Kaisern. Hinter uns gelassen haben wir dieses Joch der fürsorglichen Bevormundung erst dank Aufklärung, Revolution und Säkularisation.
Die Säkularisation bedeutete eine gewaltige Umverteilung von Eigentum und Macht und zugleich die Trennung von Staat und Kirche. Doch sie ist in Deutschland unvollständig geblieben. Davon zeugen kirchlich beglaubigte Ehen, Kirchensteuer, Konkordate – und fast alle Feiertage.
Gut, einige Feiertage haben sich im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche in den Kalender einschleichen können: der Tag der Arbeit am 1. Mai und der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, auch der Volkstrauertag. Neujahr kann man sehen als ein Relikt vorchristlicher Zeiten, Zeiten, in denen sich der Rhythmus des Kalenders noch an den der Natur anlehnte.
Identität wird nicht angeboren.
Identität entsteht durch das Hineinwachsen in Traditionen, in Familien, Völker, Firmen und Vereine. Dabei spielen neben Sprache und Kleidung auch Rituale eine große Rolle, wie das gemeinsame Singen vertrauter Lieder oder das Feiern von Festen. Indem wir so reden, uns so kleiden, uns so ernähren wie die Menschen um uns herum, mit ihnen gemeinsam, fügen wir unser Ich in ein Wir. Feiertage bieten die Gelegenheit, dies bewusster und konsequenter zu tun, als es im grauen Alltag möglich ist.
Feiertage können also nicht nur dem Weitererzählen alter, vertrauter Geschichten dienen, sie stiften Identität in Gemeinschaft, sie dienen, gerade auch indem sie das Eigene abgrenzen vom Anderen, der mal bewussten, mal stillschweigenden Herstellung von Übereinkunft, von Gemeinsamkeit, von einer Gewissheit der Geborgenheit des Ichs im Wir.
Genau daran fehlt es unserer Republik. Allerorten wird das Auseinandergefallensein der Gesellschaft beklagt, nicht nur in Deutschland, aber eben auch hier, die sinkende Beteiligung an Wahlen, das mangelnde Engagement in Parteien, Gemeinderäten, Parlamenten. Wann haben die Menschen das Vertrauen in die Demokratie verloren, fragen Leitartikler und Buchautoren. Mit Blick auf Teile der einstigen Deutschen „Demokratischen“ „Republik“ konstatieren kluge Beobachter von Westen her, allzu viele Menschen dort hätten nie gelernt, geschweige denn begriffen, was Demokratie bedeutet: Gewaltenteilung, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, friedlicher Interessenausgleich, die mühsame Suche nach Kompromissen, eigenes Engagement. Wurde an DDR-Schulen darüber gesprochen, welch ungeheuerlichen Bruch mit jahrhundealten Gewohnheiten und Machtverhältnissen die Ausrufung allgemeiner Menschenrechte bedeutet hat? Nein, natürlich nicht; es hätten ja kritische Fragen zur DDR-Realität oder gar zu Lenins und Stalins Massenmorden gestellt werden können. Aber: Wird an sächsischen Schulen heute darüber gesprochen?
Wenn wahr ist, dass es nicht reicht, Gutes zu tun, man müsse darüber auch reden, ist nicht weniger wahr, dass es nicht reicht, eine Republik auszurufen, eine Verfassung zu verabschieden, Institutionen zu gründen und alle paar Jahre Wahlurnen aufzustellen, um sicherzustellen, dass die Güte, die Kostbarkeit, die Verletzlichkeit einer Demokratie auch von denen, die sie mit Leben erfüllen müssen, weil sie sonst erstürbe, allgemein und dauerhaft geschätzt wird.
Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich selbst so ernst nehmen, dass sie sich, ihr Wesen, ihre Geschichte, ihre Vorgeschichte, ihren Wert ihren Anteilseignern, ergo: Bürgern immer wieder bewusst macht. Sie kann dafür nur - und sollte es dann auch - die Mittel nutzen, die sie hat: Schulen, Hochschulen, Straßen und Plätze, Feiertage. Noch immer rufen zu viele deutsche Straßen die Erinnerung an Schlachten und Generäle wach, viele zu wenige die an mutige Demokraten wie Robert Blum, Otto Wels, Walther Rathenau oder Elisabeth Selbert.
Und warum nicht von der Kirche lernen?
Mit dem Blick darauf, wie es ihr gelungen ist, ihre Erzählung zur „abendländischen“ zu machen, mindestens wolkig präsent selbst in atheistischen Hirnen?
Ähnlich, wie die katholische Kirche ihre Märtyrer als Heilige verehrt, so sollte unsere Republik jene Demokraten ehren und immer wieder in Erinnerung bringen, die sie erst möglich werden ließen, diese Republik. Viele von ihnen haben, Märtyrer der Demokratie, ihr Leben dafür gegeben, dass wir heute wählen gehen dürfen, immer mal wieder. Schenken wir ihnen dafür, als Garant des Nichtvergessens, Tage im Kalender, jedem und jeder einen eigenen!
Gelegentlich wird darüber debattiert, den christlichen Feiertagen auch noch islamische zuzugesellen, dann konsequenterweise auch jüdische, irgendwann wohl hinduistische. Schon im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen. Nein! Richtiger ist es, auch im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen, die Feiertage zu säkularisieren, alle.
Niemand soll daran gehindert sein, Mariä Himmelfahrt, Pfingsten, den Ramadan oder das Pessachfest zu feiern. Aber: privat. So, wie es sich in einer säkularen Gesellschaft geziemt.
Allgemeine, gesetzliche Feiertage sollten wir, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, dazu nutzen, die Geschichte der Demokratie, unserer Demokratie zu erzählen, uns ihres Wesens und ihres Wertes zu vergewissern, rituell, immer wieder, auf dass die Erinnerung eine kollektive werde. Anlässe dafür gibt es genug, das ganze Jahr hindurch und alle Jahre wieder:
Der 19. Januar könnte der Tag des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sein. Am 19. Januar 1919 haben erstmals auch die Frauen in Deutschland wählen dürfen.
Am 6. März 1525 waren süddeutsche Bauern so mutig, auf dem Marktplatz von Memmingen in zwölf Artikeln die Grundsätze einer Gesellschaft vor Gott und dem Gesetz gleicher Menschen zu beschreiben und einzufordern. „Ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen“, fragten sie und wollten künftig ihren Pfarrer selbst erwählen. Bestaunt und vieltausendfach gedruckt und kopiert wurden diese zwölf Artikel, anderswo um weitere ergänzt. Brutalstmöglich niedergeschlagen wurde der Aufstand der Bauern, auf dass sich nie wieder jemand traue, den eigenen Kopf zu erheben und das angebliche Gottesgnadentum der Mächtigen in Frage zu stellen. Der obrigkeitsstaatliche Terror tat seine Wirkung, doch die Idee verbriefter Menschen- und Freiheitsrechte ist seither in der deutschsprachigen Welt. Wie wäre es mit einem Feiertag der Eidgenossenschaft am 6. März?
Bald danach könnten wir uns der Menschen erinnern, vor denen sich Preußens König verbeugte, am 18. März 1848, nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, aber immerhin. Bürger Berlins, reichere und ärmere, forderten an diesem Tag die Schaffung einer deutschen Republik. Es waren so viele, dass des Königs Soldaten ihrer nicht mehr Herr werden konnten, trotz Waffengebrauchs, jedenfalls nicht sofort. Sie glimmt damals auf, die Idee der Republik, der Demokratie.
Den Tag der Arbeit am 1. Mai sollten wir beibehalten. Er wurde geschaffen, nicht damit ein kleiner, frierend zusammenrückender Haufen von Gewerkschaftsfunktionären die Legitimität aktueller Tarifforderungen floskelhaft aufs Neue beschwört, sondern um einfordernd zu bekunden, dass Menschen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, ihr Talent und ihre Tüchtigkeit, die gleichen Rechte haben wie Junker oder, sagen wir, Hedge Fonds Manager und reiche Erben.
Der 23. Mai müsste längst ein Feiertag sein, mit einer Bedeutung für uns Deutsche und alle, die es werden oder werden wollen, mindestens, wie der Vierte Tag des Juli eine Bedeutung hat für die USA oder der 14. Juli für die Franzosen. Er ist der Tag des Grundgesetzes. Allein schon dessen erster Satz ist es wert, von jedem Deutschen, sobald er oder sie sprechen kann, rezitiert werden zu können, selbst im Schlafe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Am 23. Mai 1949 wurde es „erlassen“, das Grundgesetz, am 24. Tag darauf trat es in Kraft, das ideelle Fundament der bisher mit großem Abstand besten und festesten staatlichen Ordnung in der Weltgegend, die wir heute Deutschland nennen.
Wir könnten dann gleich durchfeiern bis zum 27. Denn der 27. Mai gäbe einen schönen Tag der Pressefreiheit ab. Zum Thema Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ließe sich in geselliger Runde viel erzählen und bedauern und leider jedes Jahr Neues, zunächst aber ließe sich erinnernd feiern, nämlich wie 1832, als Fest getarnt, eine Ruine in der Pfalz zum Schauplatz der ersten Massendemonstration auf deutschem Boden wurde, zu einer Demonstration gegen die Zensur, also für die freie Presse und dann folgerichtig gleich für freie Gesellschaften gleicher Bürger in allen deutschen Ländern, ja in ganz Europa. Das Schloss, damals Ruine, der Ort des Hambacher Festes, der zwischenzeitlichen Vergessenheit und adligem Eigentum glücklicherweise, aber keineswegs zufällig, wieder entrungen, existiert immerhin schon als klug und unterhaltsam ausstaffierter Erinnerungsort.
Schon beim Fest in Hambach wurde die Vision der Vereinigten Staaten von Europa beschworen, zu einer Zeit mithin, als diese noch in sehr, sehr weiter Ferne lagen, nicht nur in weiter, wie heute wieder. Abermillionen Menschen starben seither in immer brutaler werdenden Kriegen, für irgendwelche „Vaterländer“, für Könige und Führer, Volk oder auch La Patrie, bevor, im buchstäblich ausgebluteten Europa, am 23. Juli 1952 mit dem Inkrafttreten des EGKS- Vertrages der Grundstein dessen gelegt wurde, was heute Europäische Union heißt - und wieder einsturzgefährdet ist. Der 23. Juli könnte der Tag Europas sein oder wenigstens der Europäischen Idee. Auf dass sie strahle und niemals erlischt!
Im traurigen Monat November hat der säkulare Staat, immerhin, sich schon seine Variante zu Allerheiligen, Allerseelen und Totensonntag geschaffen. Der Volkstrauertag war ursprünglich als Tag der Erinnerung an „gefallene“ deutsche Soldaten gedacht, seit 1952 dient er dem Gedenken an den Tod aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft, ja Gewaltbereitschaft, damit also auch von Terror und Unterdrückung. Aber so tapfer und selbstbewusst, aus diesem einstigen Tag der heldenkultischen Verklärung von Nationalismus und Kriegen einen offiziellen deutschlandweiten Feiertag zu machen, so tapfer und selbstbewusst war unsere Republik bis heute nicht. Es ist auch dafür höchste Zeit.
Natürlich muss der 9. November ein Feiertag werden. Als Tag des Volkes, als Tag der Demokratie. Ob neben dem oder anstelle des 3. Oktober, als Tag der deutschen Einheit, sei munteren Debatten überlassen. An einem neunten November wurde die erste gesamtdeutsche Republik ausgerufen, 1918. An einem neunten November ließen Bürger der DDR die Mauer Mauer sein, 1989. Der ostdeutsche Demos enttarnte des SED-Kaisers neue Kleider: nackt und machtlos stand die bis dato allgewaltige Partei da in ihrer jämmerlichen Mickrigkeit. Der Eiserne Vorhang, der Menschen ja nicht nur am Reisen und Verwandtebesuchen gehindert hatte, sondern auch an freiem Denken und selbstbewusstem Handeln in eigener Verantwortung, brach vor dem Ansturm des unbewaffneten Volkes zusammen. Was hinzukam und auf ewig kaum minder bestaunenswert bleibt: Bewaffnete Russen und Deutsche, die dies alles hätten verhindern können, an diesem Tag und einigen Montagen zuvor, ließen ihre Waffen ruhen. Warum feiern wir das nicht, warum?
Wenn es dann Zeit ist für Glühwein, Lebkuchen und Adventssterne - denn natürlich sollten wir auf die ihres ursprünglichen Sinnes zwar entleerten, aber dennoch auf heimelige Weise Gemeinschaft stiftenden Rituale, wie sie uns Advent, Weihnachten und auch Ostern längst religionsübergreifend bescheren, nicht verzichten, warum auch? - wenn es dann also Zeit ist für Gespräche bei Glühwein und Bratwurst, dann sollten wir darüber sprechen und uns gemeinsam daran erinnern, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu uns gefunden hat, durchaus ohne das Mysterium einer jungfräulichen Empfängnis, aber auf vergleichbar zauberhafte Weise. Am 10. Dezember 1948, noch schwelten, jedenfalls gedanklich, die Trümmerhaufen des weltumspannenden Krieges, stimmten Vertreter von 48 Staaten in Paris für die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Acht Staaten, auch das sollte nicht vergessen werden, stimmten dagegen. Es gleicht ohnehin einem Wunder, dass es nur acht gewesen sind. Heute wären es womöglich mehr, deren Autokraten und sonstige Machteliten mit einem Satz wie diesem nichts, aber auch rein gar nichts anzufangen wissen:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Den Memminger Bauern hätte der Satz wohl gefallen.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sollten selbstbewusst genug sein, vielleicht auch jenen mutigen Memminger Bauern, ganz sicher aber allen Demokraten, lebenden wie toten, heutigen wie künftigen - und damit sich selbst und uns allen, den Bürgern der deutschen Bundesrepublik - eine Freude zu machen, ein Geschenk: eine neue Feiertagsordnung.
Uwe Knüpfer