Gedanken zu Islamismus, Pegida und offenen Gräbern
Bis tief ins siebzehnte Jahrhundert hinein schlugen sich Menschen im Abendland gern gegenseitig die Schädel blutig. So stand es heute in der Zeitung zu lesen. Es klang erstaunt. Das zeigt nur, wie weit entrückt uns Heutigen die Epoche der Aufklärung ist. Es wird Zeit, uns zu besinnen.
Dänische Archäologen haben Gräber geöffnet; ganz normale Gräber, von vermutlich ganz normalen Menschen, die in ganz normalen Zeiten lebten, im 12. bis 17. Jahrhundert. In dieser Normalität war es offenkundig üblich, heftig aufeinander einzuschlagen. Jeder zehnte Schädel wies Spuren schlimmer Kopfverletzungen auf. Von Verletzungen, die nicht tödlich waren, aber fast. Es handelte sich dabei nicht um Soldatengräber.
Gut, die Archäologen äußern sich nur über die Schädel von Männern. Aber dass auch Frauen von ihren Mitmenschen nicht immer nur zärtlich behandelt wurden, im 12. bis 17. Jahrhundert, darf als bekannt vorausgesetzt werden.
Erstaunlich an der Enthüllung dänischer Archäologen ist nicht die Fast-Allgegenwart von Gewalttaten im 12. bis 17. Jahrhundert, in einem für damalige Verhältnisse hoch entwickelten europäischen – abendländischen – Gemeinwesen. Erstaunlich daran ist unser Erstaunen darüber.
Warum wohl mussten mittelalterliche Städte von Wällen und hohen Mauern umgeben sein? Warum errichtete sich, wer es konnte, eine Burg auf steilen Felsen, die nur mühsam zu erklimmen waren? Wieso präsentiert fast jede dieser Burgen heutigen Besuchern Orte wohligen Grauens: Kerker, Waffenkammern, Folterkammern?
Sogenannte Hexen wurden noch in der sogenannten Neuzeit gepiesackt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die durchschnittliche Lebenserwartung war gering.
Dies alles scheint uns weit entrückt. Aber nicht, weil wir in einer anderen Welt als der damaligen leben, auf einem anderen Planeten, jenseits von „Mittelerde“ - sondern weil denkende und mutige Menschen die Welt, wie sie scheinbar schon immer war und zu sein hatte, nicht so gelassen, sondern verändert haben. Und zwar gründlich. Unsere Welt. Die europäische Welt. Das „Abendland“. Sie haben es so gründlich verändert, dass uns heute als normal erscheint, was unseren Vorfahren im 12. bis 17. Jahrhundert als unglaubliche Utopie vorgekommen wäre.
Wir leben in einem Rechtsstaat. Jeder kann laut und deutlich seine Meinung sagen und verbreiten. Niemand muss vor Hüten buckeln. Und auch nicht vor Altären niederknien. Wer will, der darf es; aber das ist seine Sache ganz allein. Jedes Kind geht zur Schule, unbewaffnet. Wir dürfen unseren Geburtsort verlassen und um fast die ganze Erde reisen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wenn wir einen Unfall haben, eilen Helfer herbei. Vor Seuchen sind wir gefeit. Gegen Katastrophenfolgen sind wir versichert. Kriege finden anderswo statt.
Das alles ist nicht normal. Es ist so wenig selbstverständlich wie die Allgegenwart von Steckdosen und Wasserhähnen. Es sind Früchte der Aufklärung.
Im Englischen heißt die Aufklärung Enlightenment: Erleuchtung. Das vermeidet Verwechselungen mit dem eher profanen Tun von Oswald Kolle, der BZgA, also der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, oder dem von Tatort-KomissarInnen.
Erleuchtung haben abendländische Menschen - und sie waren auch darin morgenländischen nicht unähnlich -, allenfalls von himmlischen Mächten erwartet. Die Epoche des Enlightenment, der Aufklärung also, verdankt sich aber keiner göttlichen Fügung - oder falls insgeheim doch, dann jedenfalls keiner kirchlichen Fügung. Sie verdankt sich dem Denken und Tun von Menschen wie Du und ich. Menschen, die sich von Dir und mir allerdings dadurch unterschieden, dass sie härter nachdachten und mutiger handelten als wir. Und dass sie dabei in keiner Weise versichert waren. Sondern sehr bedroht, an Leib, Besitz und Leben.
Bevor wir dorthin kamen, wo wir heute sind, musste die Macht der Kirche und der Throne gebrochen werden. Es war eine höchst reale Macht, die den Zugriff auf Ländereien, auf Burgen, auf Folterkeller und Schulen, auf Hirne und Herzen umfasste. Es war eine Macht, von der die Ideologen des sogenannten Islamischen Staates bislang nur träumen.
Gebrochen werden musste der Glaube der Menschen an die Gottgegebenheit von Unten und Oben, an „Blaues Blut“ und die Unverrückbarkeit von Standesgrenzen. Grafen und Könige wurden gestürzt, Bischöfe wurden enteignet, im Lichte des „Enlightenment“.
Kirchen und Könige setzten sich zur Wehr, natürlich, und zwar massivst; bald unterstützt von vielen, die durch Handel und Industrie zu Reichtum und Privilegien gekommen waren. Das späte 18., das komplette 19. und die Anfänge des 20. Jahrhunderts sind gezeichnet vom Widerstand der Privilegierten gegen die Ideen der Aufklärung und deren politische und wirtschaftliche Konsequenzen. Menschen, die auf den Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit pochten, wurden verlacht, verhaftet, vertrieben, eingesperrt, hingerichtet.
Wir Heutigen sind die Nutznießer dieser Kämpfe. Wir müssten uns eigentlich täglich darüber freuen, dass die Ideen der Aufklärung sich durchgesetzt haben, jedenfalls einstweilen.
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Das ist schnell dahingesagt, flott besungen, allzu leicht abgetan - als handele es ich um einen Wahlkampfslogan aus alten und dabei doch erstaunlich fortschrittlichen Zeiten. Dabei war und ist jeder dieser drei Begriffe revolutionär. Jedem wohnt der Anspruch inne, alltägliches Handeln radikal zu verändern und fortan zu prägen. Dass alle drei gemeinsam daherkommen, mit Kommata einander eng verbunden, als hätten sie sich untergehakt, ist kein Zufall oder der Marotte eines gewitzten altfranzösischen Werbetexters zu verdanken.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bedingen einander. Sie machen einander erst möglich. Den Denkern der Aufklärung war das bewusst. Im politischen Alltag geriet den Akteuren diese Einsicht aber oft aus dem Blick. Im wirtschaftlichen Alltag erst recht. Nicht jeder, der seine Freiheit beim Gründen von Unternehmen, beim Heuern und Feuern sehr zu schätzen weiß, verbrüdert sich gern mit seinen Angestellten oder mit Obdachlosen. Dass die Idee von der allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte, ernst genommen, dazu führen muss, dass „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auch für Sklaven, Arbeiter und Frauen gilt, das mussten auch manche Revolutionäre erst lernen. Einige lernten es nie.
Im selbsterklärten Heimatland der Freiheit, den USA, musste ein blutiger Bürgerkrieg geführt werden, um die Befreiung der Sklaven durchzusetzen. Und selbst das heißt bis heute nicht, dass ihre Ur-Enkel von allen Mitbürgern wie Brüder behandelt werden.
Das gleiche Wahlrecht wie Junker und Unternehmer erhielten deutsche Arbeiter und deutsche Frauen erst in der Weimarer Republik, mehr als hundert Jahre nach der Enteignung der Kirchengüter. Ohne das Entstehen einer machtvollen und schließlich auch gut organisierten Arbeiterbewegung wäre das nicht möglich gewesen.
Das „Entstehen“: welch ein blutleeres, passives Wort! Es verklärt Siege und übertüncht Niederlagen.
Jene Journalisten, die im Zeitalter scharfer Zensur freche Zeilen druckten, jene Gesellen, die adligem Dünkel zum Trotz schließlich in Parlamente einzogen, jene Frauen, die mit patriarchalischen Gewohnheiten radikal brachen und studierten: sie alle mussten tausendmal mehr Mut und Kraft und Ausdauer aufbringen, als sie unsereinem abverlangt werden, um gegen Islamisten respektive Pegida zu demonstrieren oder einen Artikel wie diesen zu „posten“.
Um ein Bild aus der Renaissance wiederzubeleben: wir stehen auf den Schultern von Riesen. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Aber es ist an uns aufzupassen, dass wir nicht hinunterfallen.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: diese explosiven, diese höchst anspruchsvollen Begriffe führen wir im Mund, als wären es Drops. Stattdessen sollten wir uns darauf besinnen, was sie bedeuten: für uns, für unser tägliches Leben, für die Art und Weise, wie wir unser öffentlichen Leben organisieren. Welche Parteien wir wählen, wie wir ErzieherInnen und Manager bezahlen, wie wir große Vermögen besteuern, wie wir mit Andersgedenken umgehen. Wie wir Flüchtlinge begrüßen.
Oder wollen wir, dass künftige Archäologen dermaleinst erschrocken staunen, vor offenen Gräbern aus dem späten 21. Jahrhundert?
Ruhrbarone.de 27. Januar 2015
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