Die Talare sind mit Samt besetzt, in den Farben der Fakultäten. Die Schultern des Rektors bedeckt ein Stück Fell, das aussieht wie Hermelin. Vom Renaissancebau des Collegium maius zum neugotischen Collegium novum sind es nur wenige hundert Meter, dennoch dauert das feierliche Ereignis eine gute halbe Stunde. Es nehmen nur jene Professoren teil, die sich einen Talar leisten konnten. Es ist die Minderheit.
Die Jagiellonische Universität in Krakau ist 623 Jahre alt. Sie hat viele Staaten überdauert. Die Inaugurationsfeier jährlich zum Beginn des akademischen Jahres Anfang Oktober, die würdevolle Aufnahme neuer Studentinnen und Studenten in die universitas, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, ist ein Ritual mit strengen Regeln, an dessen Ende das Gelöbnis von zwölf Studentinnen und Studenten steht.
Schöne Hoffnungen Weihnachtlich glänzen die Augen jener zwölf Studentinnen und Studenten, die geloben, tüchtig studieren zu wollen – zum Wohle des Sozialismus.
Doch welchem Sozialismus die jungen Studenten sich da verpflichten, das mag innen selbst kaum klar sein. Denn seit Polen auf den Spuren der sowjetischen perestrojka in die zweite Etappe der Wirtschaftsreform ging, sind die alten Maßstäbe verloren gegangen und neue noch nicht gefunden, eine Orientierungslosigkeit, die alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfaßt hat.
Seit dem Frühjahr war in Warschau darüber gemunkelt und gemutmaßt worden, was diese zweite Etappe der Wirtschaftsreform wohl mit sich bringen würde. Es stiegen Hoffnungen auf, schön und kurzlebig wie Seifenblasen. Als dann Anfang Oktober, erst durch ein Papier zunächst unklarer Herkunft mit dem Titel ,,Thesen zum 5. Plenum des ZK der PVAP“, dann durch eine Rede von General Wojciech Jaruzelski vor dem polnischen Journalistenverband und schließlich in Form eines durch Premierminister Zbigniew Messner vorgelegten Gesetzespaketes, immer deutlicher wurde, worum es gehen sollte, hatte die polnische perestrojka in den Köpfen der polnischen Politikbeobachter schon stark an Faszination verloren.
Dabei kündigte Messner doch an, was viele Oppositionelle sich seit langem sehnlichst gewünscht hatten: eine weitere Stärkung des privaten Sektors der Wirtschaft, leistungsgerechte Entlohnung, mehr Markt, mehr Selbstverwaltung, eine radikale Straffung des Regierungsapparates, ein neues Vereinsrecht. So sensationell dies alles klang, kaum war es als das wirkliche Wollen der Parteiführung und der Regierung offizell bekannt, machte sich in Polens nichtoffizieller Öffentlichkeit großes Desinteresse breit. Die Volksrepublik Polen bleibt vorerst, was sie ist: ein sozialistisches Land, in dem der Sozialismus im realen Alltag oft potemkinsche Züge trägt. Da ist einerseits der postulierte Allmachtsanspruch des Staates, spürbar vor allem als bürokratische Bosheit, als politische Willkür einflußreicher Parteifunktionäre und als institutionalisiertes Versagen der staatlichen Wirtschaft. Und da ist andererseits die überall zu spürende Ohnmacht des Staates, die sich vor allem im Desinteresse der Bürger an ihrem Staat dokumentiert. Hinter der sozialistischen Tünche trägt dieses Polen im Herbst 1987 anarchische Züge. Im Streit zwischen Staats- und Frühkapitalismus um die Vorherrschaft zeigt das Pendel derzeit Richtung Frühkapitalismus.
Premierminister Messner hat in seiner Rede Mitte Oktober schon einen neuen Maßstab genannt: Das „Geld sei das beste Regulativ zur Befriedung gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse“. Es soll sich „wieder lohnen, maximalen Gewinn zu erzielen“.
Offiziell herrscht Mangel, Fleisch, bessere Kleidung, Autos und gehobene Konsumgüter sind nur schwer zu haben. Aber inoffiziell ist nichts unmöglich. In den Foyers der großen Hotels geben sich die Devisenschwarzhändler nicht die geringste Mühe, ihre illegalen Geschäfte zu kaschieren.
In einem Sportpark in Warschau pulsiert Sonntag für Sonntag das geschäftliche Leben. Ungehindert von Ladenschlußzeiten, Restriktionen des Finanzamtes oder sonstigen Behörden handelt einen Vormittag lang jeder mit jedem und mit beinahe allem. Von weit her kommen Familien, zahlen hundert Zloty Eintritt und breiten Plastikplanen aus. Darauf bieten sie feil, was der Keller des Großvaters, was Urlaubsreisen, Verwandtenbesuche oder Schiebergeschäfte hergegeben haben. Schrauben aller Größen, Ersatzteile für westliche Autos, Rasierpinsel chinesischer Herkunft, alte zerlesene Exemplare von Spiegel oder sunt, von Newsweek oder Time, Hochglanzbroschüren von Philips, Toshiba, Sony oder Datsun, Computerprogramme von Atari, Videocassetten, komplette Stereoanlagen, Jeans, Pullover und modische Schuhe. Doch was an Flohmärkte, Basare oder Hamburger Fischmarkt erinnert, das ist kein Volksvergnügen oder gar ein Spektakel für Touristen. Eher brodelt hier eine Art ökonomischer Ursuppe.
In seltsamem Kontrast zum engen Angebot der staatlichen Lebensmittel- und Textilgeschäfte sind die nicht wenigen Edelrestaurants in und um Warschau, wenigstens am Wochenende, bis auf den letzten Platz besetzt. Ein mehrgängiges Menü kostet für zwei Personen das halbe Monatsgehalt eines Professors. Auffallend viele junge, modisch gekleidete Menschen finden sich ein. Sie tragen ihre Konsumfreude offen zur Schau.
Früher, erzählt ein Hochschullehrer, war das begehrteste Statussymbol ein Auto, egal welchen Fabrikats, dann mußte es ein Fiat oder Volkswagen sein, und heute, heute zählten nur noch Mercedes oder Volvo.
Wohlstand aus dem Schatten Woher kommt das Geld dafür? Die beliebteste Erklärung lautet: aus den Erlösen privater Gemüseanbaubetriebe und aus Import-Export-Geschäften. Ein Journalist erzählt: „Man fährt zum Urlaub an die bulgarische Schwarzmeerküste und verkauft dort seine Jeans, Blusen, Pullover und Schuhe gegen Dollar. Dann geht es weiter in die Türkei, wo man für Dollar einkauft, was die Basare hergeben; am liebsten Elektronisches und Haushaltsgeräte. Damit lassen sich in Polen traumhafte Zlotypreise erzielen. Die Zloty werden auf dem Schwarzmarkt in Dollar verwandelt, und für die Dollar kauft man westliche Kleidung. Die nimmt man dann wieder mit nach Bulgarien.“
Doch weil diese Geschichte als Erklärung für den Wohlstand aus dem Schatten nicht so ganz herhalten, kann, soll die Hochschule für Planung und Statistik in Warschau dem Phänomen „Schattenwirtschaft“ gemeinsam mit der Universität Duisburg auf den Grund gehen. Das Prinzip aller Orthodoxien, wonach nicht erforscht werden kann, was es gar nicht geben darf, hat offensichtlich ausgedient. Die Hochschule für Planung und Statistik ist eine Kaderschmiede: Aus ihr gehen die wichtigsten Führungskräfte der – noch – staatlich gelenkten polnischen Wirtschaft hervor.
Vor fünf Jahren war die erste Etappe der Wirtschaftsreform verkündet worden. Sie folgte in vielem dem Vorbild der ungarischen Wirtschaftsliberalisierung. Damals war von den „Drei S“ die Rede: Selbständigkeit, Selbstfinanzierung, Selbstverwaltung. Aus all dem, klagt ein Hochschullehrer, sei nicht viel geworden: „Wirtschaftlich stehen wir heute da, wo wir auch schon 1980 waren.“ Regierungsvertreter freilich verweisen darauf, daß Polens Wirtschaft zwischenzeitlich ganz woanders lag. Verglichen mit den Nöten nach Verhängung des Kriegsrechtes, gehe es Polen doch heute gold. Polens Wirtschaft ist 1986 amtlichen Statistiken zufolge um 5,2 Prozent gewachsen. Jetzt sprechen Staats- und Parteiführung davon, die zweite Etappe der Wirtschaftsreform werde auf den Erfolgen der ersten aufbauen.
Diese Ankündigung läßt Oppositionelle sarkastisch lachen: „Will man das Scheitern verstärken?“ Schon Etappe eins sei versandet, weil es nicht gelungen sei, die Macht der Partei zurückzuschneiden: „Solange es dem Funktionärsmittelbau nicht an den Kragen geht, bewegt sich nichts.“
Das soll nun endlich geschehen, nimmt man die Ankündigungen von Anfang Oktober für bare Münze. Die Zahl der Ministerien soll danach drastisch gesenkt werden. Jeder vierte Verwaltungsbürokrat wird künftig arbeitslos. Das Bankenwesen wird teilprivatisiert. Aus dem Dienstleistungssektor soll sich der Staat ganz entfernen, verkündete Premierminister Messner.
In der Presse werden schon jetzt mit erstaunlicher Offenheit Mißstände beim Namen genannt. Doch Skeptiker warnen davor, das allzu ernst zu nehmen: Das sei nur ein Ventil, das geöffnet werde, damit sich nichts wirklich ändere.
Forschungsaufenthalte von Professoren im Ausland müssen genehmigt werden. Manchmal, führen Hochschullehrer bittere Klage, „dauert es zehn oder zwölf Monate, bis das Ministerium entsprechende Anträge bearbeitet hat“. Der zuständige Abteilungsleiter im Ministerium weist indes den Vorwurf empört zurück. Länger als zwei Monate bleibe bei ihm kein Antrag liegen. Schuld seien die Universitäten, die solche Anträge zu langsam weiterleiteten. Wenn überdies nicht jeder Antrag genehmigt werde, so sei dies nicht Ausdruck politischer Willkür, sondern: „Manche Professoren sind öfter im Ausland als bei ihren Studenten.“
Schwierige Wirklichkeit Gleichzeitig aber sind die Hochschule wichtiger Bestandteil des Veränderungsprozesses. Partei und Regierung erwarten von den Hochschulen vor allem eines: einen Beitrag zur technologischen Erneuerung der polnischen Wirtschaft. Die Universitäten, traditionell dominiert von Vertretern der Geisteswissenschaften, verlangen von der Regierung vor allem zweierlei: Autonomie und mehr Geld. Die apparative Ausstattung technisch-naturwissenschaftlicher Hochschulinstitute würde in der Bundesrepublik wohl nicht selten unter Denkmalschutz gestellt. Ein Dozent der Technischen Universität Warschau präsentiert stolz Schaubilder einer neuen Computerinstallation, dessen Herzstück ein IBM-kompatibler Parallelrechner ist. Die Schaubilder sind allerdings das einzige, was die Universität von diesen Anlagen bisher besitzt.
Der öffentliche Sektor verarmt derzeit, während der private erblüht. Kein Wunder, daß die polnischen Hochschulen sich beklagen, daß sie Teil des öffentlichen Sektors sind. Doch das hält Professoren an den Staat heranzutreten. Während die Staatsführung aber so agiert, als wolle sie den Allmachts- und Allwissenheitsanspruch der Partei stillschweigend vergessen machen, fordert die kritische Intelligenz mehr Klugheit von eben diesem Staat. Gewohnten Denkmustern zufolge äußert sich staatliche Klugheit in präziserer Planung. Das hieße Liberalisierung zu verordnen, Freiheit zu planen.
Die zerschlagene Gewerkschaft Solidarnosz lebt weiter als Mythos. Ihr charakteristischer Schriftzug ist Symbol für eine allgemein kritische Haltung geworden, damit aber auch auf dem Wege, zum modischen Emblem zu verkommen. Die schwindende Bedeutung der organisierten Opposition im Lande mag sich auch darin begründen, daß die führenden Oppositionellen heute oftmals staatsfixierter denken als die Repräsentanten des Staates. Die Führung nimmt sich selbst zurück, die Bevölkerung handelt nach ihren ökonomischen Erfahrungen, die Intelligenz aber wartet auf weises Regierungshandeln.
Während die Intellektuellen, ihre Gehaltsabrechnungen und die offiziellen Wirtschaftsdaten fest im Blick, die polnische perestrojka schmähen, hebt, wer immer den Mut dazu hat, das Geld auf, das auf der Straße liegt. Unter den erfolgreichsten Kleinunternehmern soll es nicht wenige geben, deren ganzes Engagement noch vor wenigen Jahren Solidarnosz galt. Sie haben die politische Bühne verlassen und sind angetreten zum Marsch durch den Markt.
- Quelle DIE ZEIT, 30.10.1987 Nr. 45