Gerade hat sich in den USA die Erkenntnis verbreitet, daß Deutschlands Wiedervereinigung ein teures Abenteuer ist, da verblüfft die Nachricht, daß die deutschen Arbeiter und Angestellten für höhere Einkommen und mehr Freizeit streiken.
Gebetsmühlenhaft jammern Bonner Politiker, die Washington besuchen, der hiesigen Öffentlichkeit vor, welch gewaltige Lasten auf den deutschen Staatshaushalt zugekommen sind. Die Botschaft wurde begriffen: Aha, die Deutschen müssen den Gürtel enger schnallen. Wie, und jetzt wollen sie ihn stattdessen ein Loch weiter stecken?
Offiziell sagt in Washington niemand ein schlechtes Wort über Kanzler Helmut Kohl. Inoffiziell gehört es inzwischen zum gesicherten Wissen aller Insider, daß der Kanzler einen Kardinalfehler begangen hat, als er seinen Landsleuten versprach, niemandem werde es schlechter gehen nach der Vereinigung mit der DDR. Vielleicht, so hört man unter der Hand, wäre es zum diesem Streik ja nicht gekommen, hätte die Regierung früher klargemacht, daß alle Opfer bringen müssen.
Amerikaner vernehmen mit Kopfschütteln, daß der deutsche Werktätige alles in allem zwei Monate im Jahr frei hat; durch Urlaub und Feiertage. Und daß an Wochenenden sowieso niemand arbeitet. Das fällt schwer zu begreifen in einem Land, wo sich glücklich schätzen kann, wer zwei Wochen Jahresurlaub hat. Und wo es als selbstverständlich empfunden wird, auch an Sonntagen einkaufen zu gehen.
Daß die Deutschen es trotzdem schaffen, wirtschaftlich die Nummer Eins in Europa zu sein, grenzt aus amerikanischer Sicht an ein Wunder. Bill Clinton, der vermutliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten, nutzt das als Wahlkampfmunition. An Deutschland könne Amerika lernen, daß Sozialstaatlichkeit und Wirtschaftkraft keine Gegensätze sind, predigt Clinton allerorten seinem Publikum.
Aus amerikanischer Sicht bietet der Arbeitskampf zusammen mit dem Genscher-Rücktritt und dem Gerangel um dessen Nachfolge das alarmierende Bild eines taumelnden Giganten. Womit weniger der Wirtschaftsriese Deutschland gemeint ist, den kaum jemand ernstlich in Gefahr sieht, als dessen Bundeskanzler. Staunend sieht man, wie rasch die Autorität Helmut Kohls zerfällt. Und Schlagzeilen macht, daß die Flughäfen blockiert sind.
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April 2020
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