Kein Zar kam jemals zum Potomac. So ist Boris Jelzin das erste nichtkommunistische Staatsoberhaupt eines souveränen Rußland, das die USA besucht. Ein Jahrhundertereignis, so würde es das Weiße Haus gern sehen. "Na und?", klingt die Reaktion der amerikanischen ôffentlichkeit. Wirklich aufregend findet die Begegnung zwischen den Präsidenten Bush und Jelzin hier außer den Beteiligten niemand. Es geht nicht mehr um Krieg und Frieden. Langeweile ist der Preis der Entspannung.
Zwei Präsidenten, die es schwer haben in den politischen Niederungen des Alltags, bilden eine Seilschaft zum Gipfel. George Bush will im November wiedergewählt werden. All seine Versuche, sich während der letzten Monate als durchschlagender Innenpolitiker zu präsentieren, sind fehlgeschlagen. Und unter den verunglückten Auftritten in Panama und beim Umwelt-Gipfel in Rio hat nun auch Bushs bislang glänzender außenpolitischer Ruf kräftige Kratzer bekommen. Eine neue Politur tut not.
Washington wird für Jelzin alles aufbieten, was es an politischer Folklore im Arsenal hat. Ein weiteres Mal wird das Ende des Kalten Krieges gefeiert werden, der Beginn einer neuen Weltordnung beschworen. Jelzin widerfährt die seltene Ehre, vor beiden Häusern des Kapitols sprechen zu dürfen. Mit dem kleinen Schönheitsfehler: Gorbatschow durfte das auch schon.
Es ist Jelzins Crux, sich in Washington stets in "Gorbis" Schatten zu bewegen. Die meisten Offiziellen in der amerikanischen Hauptstadt können mit dem feierlichen, zugleich bärbeißig und schillernd wirkenden Jelzin viel weniger anfangen als mit seinem geistreichen Vorgänger. Andererseits quält die Frage: Wer kommt danach?
Mit Jelzin wissen wir, woran wir sind, hat der frühere USƒPräsident Nixon der Nation im Vorfeld des Gipfels noch einmal zugerufen: Wir sollten mit ihm zusammenarbeiten, ihn unterstützen.
George Bush sieht das genauso. Er und Jelzin werden ein rundes Dutzend Verträge unterschreiben. Die USA und Rußland wollen ein Frühwarnzentrum für Raketenstarts installieren, sie wollen bei der Rettung von Astronauten kooperieren, sie wollen einen russisch-amerikanischen Wirtschaftsrat ins Leben rufen.
Vor allem aber wollen sie einen weiteren kräftigen Schritt in Richtung Abrüstung unternehmen. In der letzten Woche waren die Verhandlungen der beiden Außenminister Baker und Kozyrew über einen neuen Vertrag zum Abbau strategischer Atomwaffen (START II) überraschend ins Stocken geraten. Die Russen warfen den USA vor, die einzige Atom-Supermacht bleiben zu wollen. Die Bush-Regierung reagierte prompt, offenbar in der Einsicht, zu hoch gepokert zu haben.
Bisher war amerikanische Verhandlungslinie: Die Russen sollen all ihre SS 18-Langstreckenraketen aufgeben, während die USA ihre seegestützten Interkontinentalraketen im wesentlichen behalten.
Binnen einer kurzen Woche ist in Washington die Einsicht gewachsen: Wir müssen den Anspruch Rußlands respektieren, gleichberechtigte Großmacht zu bleiben. Es sei Jelzin nicht zuzumuten, mitten im Frieden faktisch zu kapitulieren. So ist anzunehmen: Die Welt wird einen weiteren Durchbruch auf dem Feld der Abrüstung erleben.
Bush gibt sich auch alle Mühe, den amerikanischen Anteil an dem internationalen 24-Mrd-Dollar-Hilfsprogramm für Rußland durch das Parlament zu boxen. Bisher allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Mitten in einem Wahljahr ist die Bereitschaft der Abgeordneten gering, zusätzliche Steuergelder für fragwürdige Projekte im Ausland locker zu machen. Zumal das Haushaltsdefizit eines der zentralen Wahlkampfthemen ist. Mit seiner Rede am Mittwoch auf dem Kapitol kann nun Jelzin persönlich versuchen, was Bush bisher noch nicht gelungen ist.
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