Noch vor wenigen Monaten schien die Zukunft Europa zu gehören, Amerika in Depression und Selbstmitleid versunken. Jetzt strauchelt Europa, und die USA raffen sich auf zu neuen Ufern. Die wichtigste Botschaft der amerikanischen Vorwahlen lautet: Die Wähler wollen heraus aus dem politischen Trott, sie wollen einen grundlegenden Wandel erleben.
Auf den ersten Blick ist das Erwartete geschehen: Die Präsidentschaftskandidaten der großen Parteien werden George Bush und Bill Clinton heißen. Doch der heimliche Favorit des Wahlvolks ist im Moment keiner von beiden. Ross Perot, der Milliardär aus Texas, stand bisher auf keinem Wahlzettel. Aber Meinungsumfragen zeigen: Würde heute ein neuer Präsident gewählt, die meisten Stimmen bekäme Perot.
(Hundert Mio Dollar, wenn nötig auch mehr, will Perot dafür ausgeben, George Bush aus dem Weißen Haus zu vertreiben. Er hält den Amtsinhaber schlichtweg für einen Versager. Perot freut sich sichtlich über das gewaltige Medienecho seiner Vielleicht-Kandidatur und über die Unterstützungskomittes, die wie Pilze aus dem Boden schießen.)
Doch gewählt wird erst im November. Ob die Perot-Begeisterung bis dahin hält? Die politische Erfahrung spricht dagegen. (Auch 1968 und 1980 hatten ein halbes Jahr vor den Wahlen unabhänige Kandidaten gute Umfrageergebnisse. Am Ende waren sie vergessen.)
Das Wahlsystem der USA ist kompliziert, das Rennen um das Weiße Haus gleicht einer Kombination von Hürden- und Marathonlauf, zusätzlich werden Haltungsnoten vergeben. Es reicht nicht, große Sprünge machen zu können.
Daß es so kommen wird, wie die Erfahrung lehrt, darauf setzt George Bush. Doch der bisherige Verlauf des Wahlkampfs spricht dagegen. Schon mehrfach ist das Unerwartete geschehen:
Beispiel eins: Ein unbekannter, eher dröger Ex-Senator, Paul Tsongas, schnitt in den Vorwahlen verblüffend gut ab - selbst nachdem er offiziell schon ausgeschieden war. (Er hatte nicht das übliche getan und den Wählern schöne Zeiten versprochen.) Tsongas hatte gesagt: Wir alle müssen Blut und Wasser schwitzen.
Beispiel zwei: Wenn Gewalt die Straßen beherrscht, so wie Ende April in Los Angeles, setzt die amerikanische Wählermehrheit üblicherweise auf Kandidaten, die Ruhe und Ordung versprechen. Bei den Vorwahlen in Los Angeles - es wurde dort auch über die Kandidaten für freie Senatorensitze entschieden - schnitten aber gerade jene Bewerber gut ab, die komplizierte Antworten gaben. Sheriff-Typen hatten keine Chance.
(Beispiel drei: Bill Clinton, der jugendliche Gouverneur von Arkansas, wurde von den Medien nacheinander der Ehebrecherei, der Lüge und des Marihuana-Rauchens wenn nicht überführt, so doch beschuldigt, was in den Schlagzeilen auf’s gleiche hinausläuft. Normalerweise hätte das dreimal gereicht, ihn aus dem Rennen zu werfen. Doch Clinton hat überlebt. Mehr noch: Er hatte die Nominierung zum Kandidaten früher in der Tasche als die meisten seiner Vorgänger, von Carter bis Dukakis.)
Beispiel vier (bzw drei): Der US-Wirtschaft scheint es allmählich besser zu gehen. Ein Wirtschaftsaufschwung im Wahljahr macht Amtsinhaber normalerweise unschlagbar. Doch die Popularitätswerte von George Bush folgen nicht dem Konjunkturverlauf. Sie bleiben mies.
Die Vorwahlen in Kalifornien und fünf anderen Staaten haben die letzten Zweifel beseitigt: Amerikas Wähler haben die Nase voll von Schönwetterparolen und einfachen Antworten, von mediengesteuerten Unterhaltungswahlkämpfen. Sie sind bereit, sich ins Zeug zu legen, um ihr Land wieder nach vorne zu bringen, technologisch, wirtschaftlich und moralisch.
(Amerikas Wähler wollen, daß ihr Land den Wettbewerb mit Europa und Asien um die Führungsrolle im 21. Jahrhundert aufnimmt und besteht.) Sie werden im November denjenigen Bewerber ins Weiße Haus wählen, dem sie - dann - am ehesten zutrauen, das gleiche zu tun.
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April 2020
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