James Henry saß friedlich auf seiner Veranda, als vor seinen Augen der Bürgerkrieg ausbrach. Fünf junge Schwarze machten sich über einen Hispanoamerikaner her, schlugen ihn, traten ihn, raubten ihm die Brieftasche. Dann ließen sie ihn hilflos liegen, mitten auf der Straße, in Los Angeles, nach dem Freispruch für weiße Polizisten, die einen schwarzen Verkehrssünder blutig geprügelt hatten. Henry, selber ein Schwarzer, erlebte in Minutenschnelle, was ganz Amerika seit Mittwoch bewegt: Wie reagieren, was tun? Was ist Recht, was ist Unrecht in dieser Situation?
Henry entschied sich. "Ich hatte Angst, aber der Mann war so hilflos. Ich mußte etwas tun," erzählte er Reportern. Zusammen mit einem Passanten trug er den Schwerverletzten von der Straße, auf seine Veranda, benachrichtigte dessen Familie und die Polizei. Die Beamten kamen 20 Minuten später.
Auch zwei Tage nach dem Freispruch und dem Ausbruch der bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Kalifornien hatten Polizei und Feuerwehr die Lage nicht im Griff. Immerhin, anders als zu Beginn der Ausschreitungen, griff die Polizei jetzt ein. Häftlinge aus den Stadtgefängnissen wurden in andere Landesteile gebracht, um Platz zu schaffen für verhaftete Rowdys. Bis Freitagmorgen wurden über 500 Verhaftungen gezählt. Polizeichef Gates räumte ein, die Polizei habe vielleicht nicht schnell genug reagiert.
Auch die Nationalgarde, schon in der Nacht auf Donnerstag zu Hilfe gerufen, kam vielen nicht schnell genug. So griffen Bürger zur Selbsthilfe, formierten Freiwilligentrupps oder verbarrikadierten sich in ihren Häusern. Am Freitag rief Präsident Bush den Kriegsrat ein, um den Einsatz regulärer Armeetruppen möglich zu machen. Mehrere schwarze Poliiker und Demokraten hatten ihm zuvor schon vorgeworfen, sich zu sehr zurückzuhalten.
Die Wahlkampfberater des Präsidenten schwankten, welche Art von Reaktion am klügsten wäre. Während Bush in ersten Stellungnahmen Betroffenheit "gleichermaßen" über die Ausschreitungen wie über den Freispruch äußerte, nahm er wenig später bei Wahlkampfauftritten außerhalb der Hauptstadt eine Law-and-Order-Haltung ein. Bei Schwarzen, meinen die Bush-Berater, hat der Präsident im kommenden Wahlkampf ohnehin nicht viel zu gewinnen. Wohl aber könnte er viele Stimmen bei denenverlieren, die von ihm eine harte Linie im Kampf gegen Kriminalität erwarten.
Bushs voraussichtlicher Herausforderer von der oppositionellen demokratischen Partei, Bill Clinton, hatte ähnliche Probleme. Er braucht die Stimmen der Schwarzen und sprach in einer ersten Reaktion von Verständnis für die Unruhestifter: "Mehr und mehr Menschen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden, glauben, daß es in unserem land nicht fair zugeht."
Erst Stunden später appellierte Clinton "an meine Mitbürger in Los Angeles: Wie erzürnt und aufgebracht Ihr auch seid, stoppt die Gewalt, stoppt sie jetzt!" Der Freispruch sei keine Entschuldigung für Brandstifter, Diebe und Mörder. Wahlkämpfer Bush warf Wahlkämpfer Clinton prompt vor, der "allglatte Bill" wolle aus der nationalen Tragödie politisches Kapital schlagen.
In vielen Städten der USA gingen Menschen auf die Straße, um gegen das Urteil zu demonstrieren. Außer in Kalifornien kam es bis Freitagmorgen aber nur in Atlanta, Georgia, zu Gewalttaten. Scheiben gingen dort zu Bruch, Autos wurden demoliert, aber es kam nicht zu Plünderungen und Morden.
Die Polizei hatte Mühe, die Umstände der Todesfälle von Los Angeles aufzuklären. Wer hat geschossen? Die Polizei oder Aufrührer? Offenkundig war nur: Die meisten der Toten sind Schwarze.
Einer, von dem viele dachten, er könne am ehesten dem Treiben ein Ende machen, hielt sich zurück: Rodney King, das Opfer der prügelnden Polizisten. Nur ein einziges mal, wenige Tage nach dem Vorfall, hatte er sich geäußert, seither geschwiegen, wohl auf Anraten seiner Anwälte. Außerdem hat er die Buch- und Filmrechte an seinem Fall verkauft. Er habe Angst, mißverstanden zu werden, sagte er jetzt, die öffentliche Rede sei seine Sache nicht.
Nicht nur James Henry sah, wie der Hispano-Amerikaner vor seinem Haus zusammengeschlagen wurde. Auch sein zehnjähriger Sohn stand dabei. "Warum machen die das?" wollte er wissen. Seine Mutter zögerte, von dem Freispruch zu sprechen: "Wie soll ich das erklären?"
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