Die Stadt Pittsburgh in Pennsylvania ist seit zehn Wochen Schauplatz eines einzigartigen, allerdings unfreiwilligen Experimentes. Die Frage lautet: Kommt der Mensch ohne Zeitung aus? Die Antwort heißt: Nein.
Normalerweise erscheinen in Pittsburgh zwei Tageszeitungen, die Post-Gazette am Morgen und die Pittsburgh Press am Nachmittag. Das schien so selbstverständlich wie die Tatsache, daß der Strom aus der Steckdose kommt. Bis am 17. Mai jene Menschen in den Streik traten, deren Unverzichtbarkeit erst auffällt, wenn sie ihren Job nicht mehr tun: die Zeitungsauslieferer.
Der Verlag will zwei Drittel aller Stellen im Vertrieb streichen und auf nebenamtliche Zeitungsboten völlig verzichten. Seither demonstrieren die Boten und deren Gewerkschaft ihre Macht. Alle Rotationen stehen still. Zu Beginn dieser Woche ließ die Verlagsleitung klammheimlich Zeitungen in Kanada drucken, mietete Lastwagen, engagierte ortsfremde Fahrer und durchbrach die Streikfront. Aber nur für wenige Stunden. Mehrere tausend Menschen blockierten umgehend das Verlagsgebäude, die Lkw-Fahrer wurden bedroht, Wagen demoliert. Die Verlagsleitung brach ihren Ausbruchsversuch rasch wieder ab.
Unterdessen entdecken nicht nur Leser, was ihnen fehlt. Kim Wright bekniete Gewerkschaft und Verlag, bloß ja den Konflikt vor dem 20. September beizulegen. Dann ist ihr Hochzeitstag. Miss Wright zu stadtfremden Reportern: "Ich will mein Foto in der Zeitung sehen!"
Andere sehnen sich nach ihrem geliebten Kreuzworträtsel oder den Fortsetzungscomics. Oder sie finden keine Wohnung oder keine Putzfrau, weil niemand annoncieren kann. Der Stadtrat nutzte die zeitungslose Zeit, ganz rasch eine Sonder-Telefongebühr für Notrufe zu erfinden. Niemand regte sich auf, denn die Zeitungen regten sich nicht auf - sie konnten sich nicht aufregen.
Pittsburghs berühmtes Baseball-Team, zur Zeit Tabellenführer in der ersten Liga, laufen die Zuschauer weg. Um 50 Prozent weniger Tickets verkaufen die "Pirates" an den Tageskassen, seit kein Reporter mehr alle Freuden und Schmerzen der Spieler und alle Genieblitze des Trainers vorab in Zeilenform gießt.
Auch Pittsburghs Theater, wer hätte das gedacht, vermißt schmerzlich die Kritiker der Feuilletons. Insbesondere seit einer von ihnen dem Theraterdirektor verriet, was er über dessen neueste Bühnenproduktion hätte schreiben wollen: Man sollte es zweimal sehen, so gut sei das Stück. Stattdessen sehen es sich viele Pittsburgher nun gar nicht an.
Ja, selbst zu Beerdigungen geht kaum noch jemand hin. Obwohl eine örtliche Radiostation täglich eine halbe Stunde lang verlesen läßt, wer wann gestorben ist und wo er beerdigt wird. Offenbar möchte man so etwas doch lieber schriftlich haben. Shackelford’s & Maxwell’s jedenfalls, eine Blumenhandlung mit vierzehn Filialen in Friedhofsnähe, mußte ihre Verkäuferinnen auf Kurzarbeit setzen.
Doch was ist mit den örtlichen Radiosendern? Deren Redakteure und Moderatoren müßten doch jetzt jubilieren, da sie das Monopol haben, die öffentliche Meinung zu prägen. Doch mitnichten. Bill Green vom Sender WTAE erhielt plötzlich kaum noch Anrufe von Hörern. Kaum jemand wollte noch mit ihm im éther über aufregende Tagesereignisse diskutieren. Bald schwante ihm warum: "Die Leute wissen gar nicht, worüber ich rede."
Nur eines vermißt offenbar niemand: die Nachrichten aus Washington und aller Welt.
Oder hätte ich das besser unerwähnt gelassen?
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April 2020
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