Er: „Wir sind in der Bronx!“
Sie: „Weißt Du, wie wir hier wieder 'rauskommen?“
Sherman, der junge, erfolgverwöhnte Money-Makler, und Maria, seine Geliebte, haben sich verirrt. Auf dem Weg vom Flughafen nach Manhattan sind sie vom Highway abgekommen und im Dschungel gelandet. In der Bronx. Panik, Entsetzen machen sich breit, Angst, wie bei Zoobesuchern, die plötzlich entdecken, daß sie aus Versehen ins Löwengehege geraten sind. Die Folge ist ein verhängnisvoller Unfall.
So beginnt Tom Wolfes satirischer Roman „Fegefeuer der Eitelkeiten“. Die Bronx, das ist darin der Vorhof der Hölle.
„The Bronx? - No, thonks!“ heißt es in einem populären Reiseführer über New York. Touristen wird empfohlen, den Stadtteil besser zu meiden. Insbesondere die South Bronx, die Heimat von „Fort Apache“. So hieß in den siebziger Jahren jenes Polizeirevier, dessen Insassen sich fühlten wie Truppen in Feindesland, belagert von Wilden. 1973 wurden hier in einem einzigen Wohnblock 33 Morde verübt.
Fort Apache steht immer noch. Aber drumherum hat sich der Dschungel gelichtet. Jene rauchenden Ruinen, in denen Drogenbanden ihre Fehden austrugen, und wo nachts wilde Hunde nach zivilisationsresten suchten, haben neuen Zweifamilienhäusern Platz gemacht, mit Blumenkästen vor den Fenstern.
„Leerstehende Gebäude? Die gibt es nicht mehr in der South Bronx,“ sagt Bernd Zimmermann, der in Deutschland geborene Stadtplaner der Bronx. Zimmermann berichtet von einer der erstaunlichsten und zugleich unspektakulärsten Wiederbelebungen einer totgeglaubten Stadtlandschaft. Davon, wie sich die Bewohner der Bronx an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen haben. Wie als Beleg der amerikanischen Weisheit: Bist Du erst ganz unten, gibt es für Dich nur noch einen Weg - nach oben.
Als niemand mehr für die South Bronx einen Cent gegeben hätte, als Hauseigentümer auf Vermietung vezichteten und ganze Blocks in die Gewalt krimineller Banden und streunender Hunde übergingen, als Polizisten sich nur noch in Gruppen auf die Straße trauten, als New York und die Nation die Bronx am liebsten im Atlantik hätten untergehen sehen, da schlossen sich hier und da deren Bewohner zu Gruppen zusammen und gaben sich Namen wie „Mid-Bronx Desperadoes“ oder „Banana Kelly“.
„Diese Gegend war zehn Jahre lang vollständig tot,“ erzählt Yolanda Rivera, Geschäftsführerin von Banana Kelly, einer der erfolgreichsten CBOs, was Community Based Organisations heißt. CBOs sind Selbsthilfevereine zur Rekultivierung von Stadtvierteln. Banana Kelly verwaltet heute mehr als tausend sanierte Wohnungen. Yolanda Rivera: „Heute gibt„s hier wieder Hoffnung - weil wir gelernt haben, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“
éhnlich wie an der gekrümmten Kelly Street sind in den achtziger Jahren vielerorts in der Bronx kleine Oasen bürgerlichen Wohnidylls gewachsen. Das erstaunlichste Beispiel ist Charlotte Gardens, ein Stück Vorort mitten in der Großstadt. Wo einst Flucht der einzige Weg zum öberleben schien, stehen heute, Gartenzaun an Gartenzaun, Einfamilienhäuser im Rancho-Stil. Die Rasenstücke dazwischensind penibel gepflegt. Hier und da grast ein Reh aus Plastik. Vor den Türen stehen Koniferen stramm. Auf den Straßen spielen Kinder. Nirgendwo liegt auch nur ein Papierfetzen herum. Charlotte Gardens ist die Hochburg der Mid-Bronx Desperadoes.
(Bernd Zimmermann hat für die CBOs nur lobende Worte: „Sie haben bewiesen, daß hier ein Markt für Wohneigentum vorhanden ist.“ Auch wenn die Einfamilienhäuser zur traditionellen Architektur der Bronx passen wie die Faust ins Auge. Zimmermann: „Planerisch betrachtet ist das die reinste Idiotie.„ Aber planerisch betrachtet gäbe es die Bronx vielleicht nicht mehr, hätten die Desperadoes nicht den Weg gewiesen.)
Selbsthilfe hat hier Tradition. Zu Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bronx, damals noch weitgehend Landschaft, nach Greater New York eingemeindet. Von der Insel Manhattan aus betrachtet war die Bronx drüben auf dem Festland nie viel mehr als eine Müllkippe mit Hinterland: Im Norden machten sich Villen breit, umgeben von weitläufigen Parks. Im Süden wurden die Probleme der Großstadt abgeladen: der Müll und die jeweils neuesten - und armen - Einwanderer, einst Iren und Deutsche, osteuropäische Juden und Italiener, heute Latinos, Albaner und Russen.
Ginge es nach den Herrschern von Manhattan, hätte die Bronx womöglich bis heute keine eigene Verwaltung. Es war ein Akt der Rebellion und der Selbstbehauptung, daß sich die Bewohner der Bronx Ende des 19. Jahrhunderts einen Burroughs-Präsidenten wählten, so etwas wie einen Stadtteil-Bürgermeister. Der eignete sich Planungsrechte einfach an.
Seit 1987 heißt der Burroughs-Präsident Fernando Ferrer. Der 42jährige ist eine dreifache Symbolfigur: für den Lebenswillen der Bronx, für das wachsende Selbstbewußtsein der US-Bürger mit südamerikanischer Abstammung - der Latinos -, und für die Wiederentdeckung der Politik als Mittel zur Verbesserung der Lebensumstände, nicht nur der eigenen.
Ferrer ist in der Bronx geboren. Hier ist er zur Schule gegangen, hier hat er studiert. 1989 wurde er mit 84 vh der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Ferrers politischem Geschick ist es zu verdanken, daß die New Yorker Polizeihochschule Ende der neunziger Jahre in die South Bronx umziehen wird, als Teil eines ehrgeizigen Projekts namens Bronx Center.
(Bronx Center ist der Versuch, der einstigen Schlafstadt einen urbanen Mittelpunkt und Anziehungskraft gegenüber den Suburbs zu geben. Ein Versuch der Befreiung vom Sog nach Manhattan.
Noch residiert die Polizeihochschule in Manhattan. Niemand in der City hat sich je für diese Einrichtung begeistert - bis bekannt wurde, daß die Bronx um sie warb. Nun unterbreitete auch Manhattan interessante Offerten für einen Neubau. Ferrer und die Bronx machten dennoch das Rennen - eine Sensation in einer Stadt, wo Siegen alles ist. Und wo Sieger selten in der Bronx zuhause sind.)
Bronx Center ist der Versuch, zwei Milliarden Dollar an Investitionen genau dorthin zu holen, wo Touristen nach Angaben gängiger Reisefüher lieber wegbleiben sollten. Der Plan sieht eine Mischung aus Verwaltung, Schulen, Kultur, Kleingewerbe und erschwinglichem Wohnraum vor. Die ersten Kräne drehen sich schon. Möglich ist diese Form der innerstädtischen Totalsanierung nur, weil die Stadt nach amerikanischem Recht all jene Grundstücke geerbt hat, die von ihren Eigentümern in den siebziger Jahren zurückgelassen wurden.
Im Roman „Fegefeuer der Eitelkeiten“ müssen die Angestellten des County-Gerichts der Bronx bei Dunkelheit in Gruppen ihre Autos in Sicherheit bringen - auf einen bewachten Parkplatz in der Nähe. Den Platz gibt es tatsächlich. Dort steht jetzt ein frisch eröffnetes Einkaufs- und Kinozentrum.
(Bernd Zimmermann arbeitet seit acht Jahren in dem monumentalen Gebäude am Grand Concourse, das Tom Wolfe literarisch berühmt gemacht hat: Hier muß sich - im Roman - Sherman vor Gericht dafür verantworten, daß er in seiner Panik einen schwarzen Jugendlichen angefahren hat.
Zimmermann fährt täglich mit dem Auto zum Bronx County Building. Offenkundig wäre er nie auf die Idee gekommen, den Wagen bei anbrechender Dunkelheit unter Begleitschutz in Sicherheit zu bringen. Die Angst vor der Bronx hält er weitgehend für Medienmache. Gefährlich kann es überall sein in New York. Zimmermann jedenfalls versichert: „Ich sehe mich nicht besonders vor.“ Und passiert sei ihm noch nie etwas.
Das County Building, ein mächtiger Würfel, indem noch die Aufzugtüren reliefverziert sind, ist Stein gewordener Ausdruck des Bürgerstolzes der Bronx. Wie der Zoo, der größte der USA, wie der botanische Garten, wie das Kunstmuseum oder das gigantische Baseballstadium der Yankees.)
Bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg war die Bronx der kleinbürgerliche Gegenentwurf zu Manhattan. Dort regierte das Geld, hier wohnte der kleine Mann. Dort galt alle Sehnsucht dem großen Glück im schnellen Erfolg, hier blühten die bescheiden-stolzen Träume der American Middle Class. Träume vom Studium der Kinder, von eigenem Auto, Fernseher und Waschmaschine. In den siebziger Jahren floh die Mittelschicht in die Vororte. Geblieben ist der Stolz.
(„Die Bronx hat Nationalgefühl,“ sagt Bernd Zimmermann. Auch wenn sich kaum irgendwo sonst auf der Welt soviele Nationalitäten treffen wie hier. Oft auf engstem Raum.
Das Williamsbridge-Viertel in der Nord-Bronx gilt heute als Muster an großstädtischer Toleranz, es ist ein Vorzeigestück multikultureller Urbanität. In Williamsbridge leben heute fast zu gleichen Teilen Schwarze, Weiße und Latinos, neben einer wachsenden Minderheit von Amerikanern asiatischer Abstammung. Hier lebt man sicherer als in Downtown Manhattan. Das Geheimnis: die soziale Homogenität. Ob schwarz, ob weiß, ob gelb, alle eint das Minderwertigkeitsgefühl der Bronx-Bewohner und der Ehrgeiz, die soziale Leiter aufwärts zu klettern. Hier ist die Middle Class noch intakt.
Vor einem Jahr, im Januar, wurden in Williamsbridge zwei schwarze Kinder von vier weißen Jugendlichen auf der Straße angegriffen und mit weißer Farbe bepinselt. Anschließend formierte sich ein Protestzug. Ganz Williamsbridge schien auf den Beinen, alle Hautfarbern miteinander, vereint im Willen, das Gespenst des Rassismus und der Intoleranz sofort wieder zu vertreiben.
So wie in Williamsbridge soll es eines Tages wieder überall in der Bronx aussehen.) Ferrers und Zimmermanns Ziel heißt: Wiederaufbau einer Mittelschicht. Der Weg dorthin führt über das Eigentum an Wohnraum und über Jobs. Seit 1987 sind in der South Bronx 25000 öffentlich geförderte Wohneinheiten entstanden, mehr als in irgendeiner anderen Stadt der USA.
(1970 lebten in der Bronx 1,4 Mio Menschen. Nach der Massenflucht aus der South Bronx waren es 1980 nur noch 1,1 Mio. jetzt steigt die Zahl wieder, auf derzeit 1,2 Mio.
Stadtplaner Zimmermann sieht am liebsten vierstöckige Reihenhäuser wachsen, so wie sie Tradition haben in der Bronx. Das erste größere Bauprojekt dieser Art steht kurz vor der Vollendung, mitten in der South Bronx. Jedes Zweifamilienhaus kostet zwischen 150000 und 170000 Dollar. Alle Häuser sind verkauft. Zimmermann: „Wenn man Wohnraum mit Qualität anbieten kann, ist Geld vorhanden. Die Leute wollen hier bleiben.“
Auch Groß-Investoren beginnen sich für das Projekt Bronx Center zu interessieren. Schon ist über über einem Gleisgelände eine kleine neue Einkaufsstadt entstanden.) Seit Ferrers Amtsantritt wurden in der Bronx 350 neue Betriebe und Geschäfte eröffnet. Das reicht nicht, bei weitem nicht, um dem Stadtteil Arbeit und Geld zu bringen, aber es ist ein Anfang. Möglich wurde er nur, weil zum Überlebenswillen der CBOs ein Plan fürs Ganze kam.
Zimmermann war zehn Jahre lang Stadtplaner in Manhattan, bevor er in die Bronx kam. Hier, sagt er, hat er seinen Traumjob gefunden. In Manhattan bestehe Stadtplanung darin, das Ortsrecht jeweils den Investitionsvorhaben großer Kapitalanleger anzupassen. In der Bronx fehlte das Kapital, aber es gab städtisches Land zuhauf - und jede Menge zu tun.
Nur: Es gibt hier auch ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegen jede Form von Planung, gegen Politik und Verwaltung. „Das große Problem heißt “Trust in Government“,“ sagt Zimmermann: „Verwaltung lügt, betrügt und stiehlt - das ist die normale Erfahrung der Bürger.“
Ferrer hat darauf bestanden, daß Zimmermann all seine Pläne im Konsens mit den CBOs entwickelt. Zu Bürgerversammlungen hat der Stadtplaner jeweils zehntausend Einladungen verschickt. öber 600 Bronx-Bewohner haben sich zwei Jahre lang in fünf Arbeitsgruppen mit Verwaltungsleuten zusammengesetzt. Ergebnis war, 1990, das „Strategic Policy Statement“, eine Auflistung erster Erfolge und weitreichender Planungen; für die Verschönerung der Prachtstraße Grand Concourse, für die Neubepflanzung der einst prächtigen Parks der Bronx, für eine Neuerfindung des maroden Schulsystems, für die Bekämpfung des Drogenhandels.
„Laßt uns nicht nur eine neue Schicht Farbe auf ein schäbiges altes Haus legen,“ hat Ferrer im Juli 1992 den Delegierten des Demokratischen Parteitages im Madison Square Garden zugerufen, am Vorabend der Nominierung Bill Clintons zum Präsidentschaftskandidaten: „Sondern laßt es uns von Grund auf neu aufbauen, unter Beteiligung jedes Mannes, jeder Frau und jeden Kindes, in Erneuerung unseres amerikanischen Geistes und unseres amerikanischen Traums.“
Das Besprechungszimmer des Burroughs-Präsidenten hängt voller Urkunden und Plaketten, vom Boden bis zur Decke: Dankesgaben von Organisationen, Vereinen, Schulen und Bürgern an Ferrer. Ausdruck des Stolzes auf ihren Bürgermeister - und auf sich selbst. Und vor allem: auf die Bronx. Sherman würde staunen.
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