Lincoln Clark erzählte seiner bügelnden Frau, wie schwierig es war, 22 US-amerikanische Hilfsorganisationen unter eine Haube zu bringen. Wie schwierig es sein würde, im zerbombten, auseinandergerissenen Europa Pakete auszuliefern - eine funktionierende Post existierte gerade in den Ländern nicht mehr, die am dringendsten Hilfe benötigten. Und daß es dennoch gelungen war, eine Kooperative der Hilfsorgansisationen zu gründen, daß eine Bank drauf und dran war, dem Neuling als Starthilfe einen Kredit von drei Mio Dollar zu gewähren und daß nun tatsächlich bald Amerikaner ausgebombten, hungernden Europäern Pakete schicken könnten. Das war die Idee.
Sie war aus unbeschreiblicher Not geboren. Der Zweite Weltkrieg hatte in Europa mehr als dreißig Millionen Tote hinterlassen. Schätzungsweise 13 Mio Menschen hatten ihre Heimat verloren. Die Landwirtschaft lag darnieder. In den USA machten Berichte über hungernde europäische Kinder große Schlagzeilen. Amerikaner lasen erschüttert, daß Polen, Ungarn, Deutsche im Schnitt täglich nur 800 Kalorien aufnahmen. Die USA ihrerseits hatten den Jubel über das Ende des Krieges hinter sich, die meisten Soldaten waren heimgekehrt, die Wirtschaft brummte, die Mägen waren voll. Nie fühlte sich die Nation als ganzes so gut, konnte sie so mit sich zufrieden sein.
Viele Amerikaner hatte Verwandte oder Freunde in Europa. Der Krieg hatte den Kontakt zumeist unterbrochen. Die Bereitschaft zu helfen war groß. Aber wie? Der Bürgermeister von New York schlug vor, alle Amerikaner sollten zugunsten hungernder Europäer eine Mahlzeit pro Woche auslassen. Vorschläge wie dieser waren populär. Aber wie sollten die Lebensmittel aus Amerika nach Europa kommen? Die Regierung in Washington mußte sich ohnehin schon bittere Vorwürfe anhören, weil sie nicht imstande war, Briefe und Pakete an Adressen in Europa weiterzuleiten. Regierung und Militärführung hatten andere Probleme.
So fand der Gedanke rasch Freunde, eine private Organisation solle für die Verteilung von Hilfspaketen sorgen. Schon Ende 1944 hatten Clark und sein Kollege Arthur Ringland vorgeschlagen, wie nach dem Ersten Weltkrieg, nun allerdings in größerem Umfang, private Hilfspakete zu schicken. Doch bis zum Herbst 1945 wurde darüber vorwiegend geredet und gestritten. Im November 1945 war es endlich soweit; eine Pressekonferenz in New York sollte die neue Organisation bekanntmachen.
Aber sie hatte noch keinen Namen. In der Aufregung hatte an dieses Detail niemand gedacht. So sammelte nun Alice Clark - beim Bügeln - die Worte, um die es ging, versuchte, aus den Anfangsbuchstaben einen Begriff zu formen, der alles enthielt und auf den Punkt brachte: daß es um Hilfe aus Amerika für Europa ging und daß ein Zusammenschluß von Hilfsorganisationen (eine "cooperative") dahinterstand. Es fehlte ein passender Konsonant. "P" wie Pakete tat es nicht. Alice fiel "Remittances" ein - überweisungen, Sendungen.
So entstand CARE: die Cooperative for American Remittances to Europe. Care heißt Sorge, Fürsorge, als Verb: sich um jemanden kümmern. Selten traf ein Kürzel so die Sache.
Später wurde "Europe" durch "Everywhere" - überall - ersetzt und das bürokratische Remittances durch das schlichtere "Relief" - Hilfe. Aber da war CARE längst zu einem Markenzeichen der Hilfsbereitschaft geworden.
Trudy McVicker, heute Amerikanerin, empfing das erste CARE-Paket als elfjähriges Mädchen in Bayern, im Winter 1946. "Keine Mahlzeit wird mir je wieder so gut schmecken wie jene Lebensmittel aus dem CARE-Paket," sagt sie - und, daß eines fast noch wichtiger war als sattzuwerden: die Erfahrung, daß sich jemand kümmerte: "Menschen, die noch vor kurzem im Krieg mit Deutschland waren, sahen über alle Vorbehalte hinweg und halfen, statt sich an unserem Elend zu weiden. Es war mir eine unschätzbare Lehre."
Briefe, Dankesschreiben solchen Inhalts hat CARE seither zehntausendfach erhalten, aus aller Welt. Unvergessen ist der Besuch Konrad Adenauers im CARE-Hauptquartier 1957. Und auch, daß dankbare Deutsche die ersten waren, die eine eigene CARE-Organisation außerhalb der USA auf die Beine stellten.
Als CARE startete, mit einer Pressekonferenz am 27. November 1945, war der Erfolg alles andere als sicher. Die Organisation war klein, die Aufgabe gewaltig. Ein Schnellstart war gefragt. Die US-Army hatte für die geplante Invasion in Japan 2,8 Mio Nahrungsmittelpakete eingelagert, sogenannte "10-in-1"-Pakete; mit jeweils einer Tagesration für zehn Soldaten. Nach Japans Kapitulation war die Invasion abgesagt worden, die "10-in-1"-Pakete wurden nicht mehr gebraucht. Die US-Regierung stellte sie CARE zur Verfügung.
Nun wurden Spender gesucht. US-Bürger, die sozusagen die Patenschaft für einzelnen Pakete übernahmen und Adressaten in Europa benannten. CARE gab die Garantie, daß die Pakete ihre Empfänger auch erreichen würden. Sonst hieß es: Geld zurück. Diese Zusage einzuhalten, erwies sich als verteufelt schwierig, jedenfalls in der Anfangszeit.
An Spendern fehlte es nicht. US-Präsident Harry Truman persönlich kaufte die ersten hundert Pakete. Die Witwe seines Vorgängers, Eleanor Roosevelt, der Boxer Joe Louis, die Schauspielerin Marlene Dietrich und viele, viele Prominente mehr machten Werbung für CARE. Das US-Außenministerium verhandelte mit europäischen Staaten, um die Auslieferung der Pakete zu sichern, ohne daß sie geöffnet oder mit Sonderporto belegt würden. Am 11. Mai 1946 erreichten die ersten Pakete Le Havre in Frankreich. Im Juli schon unterhielt CARE Büros und Lagerhallen in elf europäischen Ländern: in Frankreich, Norwegen, Finnland, Italien, Holland, Polen, der Tschechoslowakei, Österreich, Griechenland, Belgien sowie in der amerikanischen, britischen und - zuletzt - der französischen Besatzungszone in Deutschland.
Die Mitarbeiter von CARE waren zum Teil Veteranen amerikanischer Hilfsorganisationen, zum Teil Quäker, Gewerkschafter, Journalisten. Einige waren ehemalige Soldaten und Agenten des US-Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services). Aus dem OSS ging nach dem Krieg die CIA hervor.
Die Geheimdienstverbindung erschwerte es CARE, im bald einsetzenden Kalten Krieg Pakete auch nach Osteuropa und in die sowjetisch besetzten Länder Mitteleuropas zu liefern. Moskau verteufelte CARE-Pakete als ideologische Handgranaten, als Instrumente des US-Imperialismus.
In Berlin pochten die Sowjets darauf, daß die Lebensmittelverteilung Sache der Siegermächte sei. Die CARE-Niederlassung in Rumänien mußte schon 1947 wieder geschlossen werden, 1948 die in Bulgarien, die in Ungarn 1949. Der Eiserne Vorhang senkte sich. Nur in Jugoslawien blieben CARE-Pakete willkommen, in Polen gelegentlich . DDR-Bürger erreichten sie getarnt als Geschenke von westdeutschen Verwandten. Care-Pakete spielten eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der Blockade Westberlins durch die Sowjets 1948.
In den fünfziger Jahren wurden CARE-Pakete auch aus US-Sicht zu Trägern einer ideologischen Botschaft. Eine Anzeige in US-Zeitungen pries die Pakete als "Amerikas Bekannte Geheimwaffe" : "Indem Sie CARE unterstützen, werden Sie ... zu einem Diplomaten für Amerika."
Unter CARE-Mitarbeitern war und blieb die Verknüpfung von humanitärer Hilfe mit politischen Botschaften heftig umstritten. Mitarbeiter-Vetos verhinderten so manche gezielt antikommunistische Kampagne, heißt es in einer Denkschrift von CARE.
Der Anfang war schwer. Pakete wurden gestohlen und "schwarz" verhökert - besonders in Deutschland - , von Behörden konfisziert, Adressaten erwiesen sich als unauffindbar. Aber die Erfolge waren wichtiger. So manch ein Amerikaner erfuhr durch die unterschriebene Empfangsquittung eines CARE-Pakets, daß Verwandte oder Freunde in Europa den Krieg überlebt hatten und wo sie sich jetzt aufhielten.
Nachdem die "10-in-1"-Pakete verbraucht waren, kaufte CARE en gros Lebensmittel auf, stellte Pakete selbst zusammen. Vor allem enthielten sie Fleischkonserven, Margarine, Honig, Rosinen. Kakao, Mehl, Reis, Milchpulver, Zucker und Seife.
1946 wurden eine Mio Pakete ausgeliefert, 1947 schon 2,6 Mio. Bis 1963 schickten Amerikaner zehn Mio CARE-Pakete allein an deutsche Empfänger. Als einer von ihnen gab sich später, als Bundeskanzler, Helmut Kohl zu erkennen. Kleidung war in seinem Paket, sagte er in einem amerikanischen TV-Interview - und fügte schmunzelnd hinzu: "Die Sachen waren mir zu groß."
als kasten dazu: CARE am Scheideweg - Amerika sieht weg
Anfang 1995 entdeckte CARE ein neues Land, dem es zu helfen gilt: die USA. Seit Februar schickt CARE an Familien in Boston Pakete mit Büchern und Tonbandkassetten. Um Kinder und ihre Eltern zum Lesen und Vorlesen zu ermuntern. Viele amerikanische Unterschichtkinder haben noch kein Buch gesehen, wenn sie in die Schule kommen - und können kaum lesen, wenn sie die Schule wieder verlassen.
Das Programm in Boston soll - ganz nebenbei - skeptischen Amerikanern CAREs Nützlichkeit beweisen. Hilfe fürs Ausland ist derzeit unpopulär in den USA. Spendendollars sitzen nicht mehr locker. Und die republikanische Kongreßmehrheit in Washington streicht Etattitel radikal weg, aus denen Programme im Ausland finanziert werden. Die Hälfte des jährlichen 400 Mio-Dollar-Etats von CARE USA stammt aus öffentlichen Mitteln.
Die globale Führungsrolle der USA sei heute, heißt es in einer CARE-Mitteilung zum 50jährigen Jubiläum der Organisation, "von einer wachsenden isolationistischen Stimmung gefährdet." Wenn Amerikaner sich nicht rühren, mahnt CARE-Präsident Peter Bell, "steht die Welt oft machtlos Leid, Konflikt und Chaos gegenüber." Solange Menschen hungern, gibt es keinen Frieden, heißt CAREs Credo.
éhnliches sagt auch US-Präsident Clinton, sagt dessen Amtsvorgänger George Bush. Es verhallt. Beider Regierungen werden von CARE zum 50. geehrt, am 8. November - wie alle US-Regierungen seit Franklin Roosevelt. Die Ehrung für die Präsidenten dient der Eigenwerbung von CARE. CARE kann es brauchen.