Uwe Knüpfer
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Rarität ohne Feinde

1/1/1990

 
Um sich handwerklich zu üben, machen Schüler im „Lernort Studio“ freiwillig Überstunden

Aktualisiert 21. März 1986  07:00 Uhr  Von Uwe Knüpfer

So ist es oft: Der Proteststurm, der einer neuen Idee, wie Bildung zu verbessern sei, entgegenweht, verflüchtigt sich zu einem lauen Lüftchen, wenn die Idee sich erst einmal anschaulich zu Bauten, Lehrern, Schülern verfestigt hat. Das gegenwärtig neu entbrannte Gezeter einiger christdemokratischer Kultusminister um die nordrhein-westfälische Kollegschule, um bedrohte Gymnasien, um Seiteneinstiege und Hintertüren könnte glauben machen, in unseren Schulen sei ein neuer Kulturkampf entbrannt. Wer sich nach Idyllen sehnt, sollte deshalb nach Düsseldorf blicken. Dort gedeiht, beinahe im Verborgenen, seit 1977 ein bundesweit einmaliges Projekt: der „Lernort Studio“. Und was das Erstaunliche ist: Beinahe niemand in Stadt und Region regt sich darüber auf; nicht die christdemokratische Opposition im Rat, nicht der Philologenverband, nicht die Direktoren der Gymnasien. Eitel Sonnenschein? Beinahe.

Christoph Rödig hockt versunken vor einem rechteckigen Stück Ton. Mit den Fingern modelliert er geschwungene Stufen in das feuchte Material. „Das soll eine Landschaft werden.“ Der Zwanzigjährige ist vor kurzem von einer Reise nach Ägypten zurückgekehrt. Dort haben sich ihm nie gesehene Landschaftsformen eingeprägt. Was ihn in der Fremde begeistet hat, ruft er jetzt mit seinen Händen und mit Hilfe des Tons in die rheinische Wirklichkeit zurück.

Nebenan träufelt Andrea Kirschner Ölfarben in eine Wanne voller Kleister. Mit einem Stift zieht sie vorsichtig einen Farbklecks in den anderen. Mehrfarbige Spiralen entstehen, Farbnebel, skurrile Figuren. Im nächsten Arbeitsgang legt die Schülerin ein Blatt Papier auf die Kleisteroberfläche. Die Ölfarben hatten nun auf dem Papier, der Kleister kann gesäubert und erneut verwendet werden.

Das bunte Blatt soll den Deckel eines Notizbuchs zieren. Eines Buchs, das Andrea Kirschner selbst hergestellt haben wird, von Anfang bis Ende, nach den alten Regeln der Buchbindekunst.

In anderen Räumen wird gewebt, gesponnen, Pantomime getanzt, werden Möbel geschreinert, selbst entworfene Schmuckstücke geschmiedet. Es ist später Nachmittag, und dennoch: In den Werkräumen der Städtischen Kollegschule Kikweg und in einem alten Schulgebäude gegenüber pulsiert das Schülerleben. Dabei ist es in jedem Raum ganz ruhig, die intensive Arbeitsatmosphäre nimmt den Eintretenden sofort gefangen.

Düsseldorfer Gymnasiasten, Kolleg- und Gesamtschüler der Sekundarstufe II, also Jugendliche meist im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, suchen derzeit regelmäßig den „Lernort Studio“ auf. In den letzten Jahren sind es immer mehr geworden. Sie alle kommen freiwillig, „just for fun“, wie Studioleiter Bruno Schnabel formuliert. Der Notendurchschnitt beim Abi läßt sich im Studio nämlich nicht aufpolieren; Zensuren und Zeugnisse gibt es hier nicht.

Und doch kommen die Schüler nicht nur zum Vergnügen. Natürlich, die Tonlandschaft läßt sich später dekorativ ins Regal rücken, das Notizbuch oder der selbstgewebte Teppich eignen sich prächtig als Weihnachtsgaben für die Lieben daheim. Aber: Christoph Rödig beispielsweise möchte demnächst Landschaftsarchitektur studieren. Oder: Einer ehemaligen Studio-Besucherin, erzählt die Leiterin des Webekurses nicht ohne Stolz, hat ihre Studio-Erfahrung bei der Bewerbung um einen Studienplatz in der Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung, sehr geholfen. Im Studio, sagt die Kursleiterin, lerne man „Dinge gründlich anzusehen, seinen Blick zu schärfen“. Das sei eine gute „Grundlage für vieles im Leben“.

Und wenn es nur darum geht, sich in den Semesterferien unter wärmender Sonne ein Paar Mark extra zu verdienen. Wie es jener Ex-Studioschüler tat, der sich dank eines Töpferkurses (und seines wahrscheinlich freundlichen Äußeren) als Animateur bei einem Ferienklub verdingen konnte.

Was heute in Düsseldorf so handfest wirkt und ohne große Worte funktioniert, ist eine typische Kopfgeburt der begriffreichen Bildungs-Reform-Euphorie-Epoche. 1974 tauchte der „Lernort Studio“ erstmals öffentlich auf – als Wortschöpfung in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates „Zur Neuordnung der Sekundarstufe II“. Diese waren gedacht als Vorschlag, wie sich allgemeines und berufliches Lernen verbinden ließen.

Nach der Lernort-Theorie lernen Schüler auch, aber eben nicht nur in der Schule. Als andere, prinzipiell gleichberechtigte Lernorte treten der Betrieb, die Lehrwerkstatt und das „Studio“ hinzu. Unter Studio verstanden die Lernort-Thoretiker einen Ort des – möglichst zwanglosen – Spielens und Gestaltens. Gruppen-, Selbst- und Körpererfahrung sollten hier möglich sein, das Austragen sozialer Konflikte, die Weiterentwicklung der eigenen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, der Phantasie.

Wie schafft man das? Eben mit Tanzen, Töpfern, Werkeln, Filmen, Basteln... Die Palette findet sich in jedem besseren Volkshochschul-Programmheft. In der Tat sind Ähnlichkeiten zwischen Volkshochschule und Studio kaum von der Hand zu weisen. Nur, daß im Lernort Schüler unter sich sind. Die Gruppen sind homogen.

Die Lernort-Thorie war eng vernüpft mit der Erfindung der Kollegschule, die Abitur und eine Berufsausbildung ermöglicht. Doch nur Nordrhein-Westfalen ließ dieses Mixtum aus allgemeinbildender und Berufsschule in einer wachsenden Zahl von Städten Wirklichkeit werden. Düsseldorf gilt als Zentrum des Kollegschulversuchs. Und so war es wohl kein Zufall, daß hier die Stadtväter umgehend auch der Lernort-Studio-Idee zum Leben verhalfen.

Zur Zeit kommen rund zwanzig Prozent der „Kunden“ aus dem benachbarten Schulzentrum Kikweg, weitere 25 Prozent aus den anderen Kollegschulen der Stadt, und nicht ganz so viele aus den städtischen Gymnasien. Bruno Schnabel hofft; bald ins Stadtzentrum umziehen zu können. Zum Kikweg ist es vielen Interessierten zu weit, vermutet er.

Wer kommt, ist motiviert. „Wir haben kein Disziplin-Problem“, sagt Schnabel. Woher auch? Jeder kann machen, was er will. Wer sich entschließt, einen Schrank zu bauen, sieht rasch ein, daß er dafür schreinern lernen muß. So wird er dem kundigen Kursleiter auch ohne „Notenhammer“ (Schnabel) dankbar sein für Ratschläge, Erklärungen und Handreichungen. Oder er wird resignieren und nicht wiederkommen.

Anders als im normalen Kunstunterricht kann er sein Schrankprojekt solange verfolgen, bis das Möbel fertig ist. Anschließend hat er was fürs eigene Zimmer und zugleich eine Menge gelernt. Selbst bezahlen mußte er nur das Holz, sofern ihm der Sinn nach Edlem stand.

Den Düsseldorfer Etat belastet der „Lernort Studio“ jährlich nur mit vergleichsweise lächerlichen 15 000 DM für Lehr- und Unterrichtsmaterial. Seit Ablauf der Modellversuch-Phase, in der auch der Bund noch zubutterte, teilen sich Stadt und Land die laufenden Kosten. Die ursprüngliche Einrichtung der Studioräume war auch nicht kostspielig. Von einer halben Million Mark spricht Schuldezernent Heinz Hemming,

Neben Bruno Schnabel, der als ehemaliger Journalist selbst einen Kurs über „Zeitungsmachen“ gibt, arbeiten im Lernort Studio nur vier festangestellte Lehrer. Die siebzehn anderen Kursleiter sind im Hauptberuf Regisseur, Photograph, Stadtplaner, Bildhauer oder ähnliches. Wer weiß, viellicht wäre mancher Düsseldorfer Künstler tatsächlich „brotlos“ ohne den Lernort.

Doch auch das famoseste Modell hat einen wunden Punkt. Eine „gesellschaftlich relevante Gruppe“ hat eben doch Kritik anzumelden. Die Kunsterzieher nämlich. Ihre Interessenvertreter äußerten schon früh den Verdacht, beim Lernort Studio handele es sich nur um einen besonders raffinierten Trick, die ästhetischen Fächer aus den Schulen zu vertreiben und so ordentliche Lehrer-Stellen einzusparen.

Obgleich in Düsseldorf derartiges bis heute nicht geschehen ist, scheint der Verdacht gänzlich noch nicht ausgeräumt. So ist das eben in der Bildungspolitik: Da traut jeder jedem alles zu, nur eines nicht: Aufrichtigkeit.

  • Quelle DIE ZEIT, 21.3.1986 Nr. 13

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