Am Ufer des Mississippi steht eine Pyramide. Du siehst sie von weitem, kommst Du von Westen nach Memphis. Die Pyramide von Memphis ist gläsern, sie glitzert in der Sonne. Sie ist kein Pharaonengrab, sondern der Versuch, einer ruinierten Innenstadt neuen Glanz zu geben. Ein eher verzweifelter Versuch. Memphis, die Metropole des Südens, die Stadt am "amerikanischen Nil", Memphis hat den Blues. Aber außerdem hat sie Elvis.
Elvis ist tot. Aber der "King" ist unsterblich. Lebendig ist die Geschichte und mehr noch die Legende von dem schüchternen Jungen aus Tupelo, Mississippi, der aufstieg zum Giganten des Rock’n’Roll, der dem Mississippi treu blieb und der starb in Memphis, Tennessee, am 16. August 1977, vor 15 Jahren.
Pyramiden sollten égyptens Pharaonen zu Unsterblichkeit verhelfen. Graceland ist Elvis Presleys Pyramide, ist sein Mausoleum. Für die Millionen von Elvis-Jüngern in aller Welt und besonders in den USA ist Graceland ein Mekka, ein Lourdes, ein Wallfahrtsort. Für Elvis’ Erben ist das ein Glück, nämlich ein gutes Geschäft.
Graceland, so nannte Elvis sein Wohnhaus, seine Traumburg, auf einem sanften grünen Hügel mitten in Memphis, zwischen Flughafen und Elvis-Presley-Boulevard.
Die Schalterhalle im Flughafen von Memphis ist nichts gegen die Schalterhalle von Graceland. Die Atmosphäre hier ist türkis-grün und unterkühlt, das Licht gedämpft. Die Vorhalle zu einem Heiligtum.
Vor den direkten Kontakt mit den Elvis-Reliquien - seinem Flügel, seinem Bett, seinem Billardtisch - hat "Elvis Presley Enterprises", jenes Unternehmen, das die Legende vermarktet, die Qual der Wahl gesetzt, sprich den Ticket-Kauf.
Alljährlich fragen sich Hunderttausende: Mache ich die Graceland Mansion Tour - eine Fahrt im Shuttle-Bus zum Wohnhaus samt Besichtigung desselben - für 7,95 Dollar, werfe ich einen Blick auf Elvis’ Wagenpark (The Elvis Presley Automobile Museum, Eintritt 4,50 Dollar) oder entscheide ich mich für die Lisa Marie & Hound Dog II JetStar Planes Tour für 4 Dollar 25? Elvis besaß zwei Flugzeuge, das größere ausgestattet als Apartment, mit Konferenzraum und Luxus-Bett. Alles zu besichtigen.
Wer sich nicht entscheiden kann, dem wird das Platinum-Ticket geboten - "alle Attraktionen" im Paket, für 15.95 Dollar. Wer dennoch Bedenkzeit braucht, kann an Ort und Stelle übernachten; im Heartbreak Hotel oder im Memory Lane Inn. Im Zimmerpreis eingeschlossen: ein Videokanal, der rund um die Uhr nichts anderes bringt als, natürlich, Filme mit Elvis.
Die Massen, die sich an normalen Wochenenden durch Graceland schieben, vorbei an den Andenkenläden mit Elvis-Täßchen, Elvis-Pillendosen, Graceland-Minihäusern aus Plastik, könnten genau so auch vor dem Schiefen Turm in Pisa stehen oder vor dem Weißen Haus in Washington. Nicht nur Gläubige besichtigen Kathedralen. Auch Graceland ist für alle da, eine Familienattraktion für alle Generationen, von der Oma bis zum Baby, ein nationales Denkmal.
Memphis tut der Elvis-Rummel gut. Die Stadt mit Vergangenheit ist noch immer auf der Suche nach ihrer wirtschaftlichen Zukunft.
Im 19. Jahrhundert war Memphis für einige aufregende Jahrzehnte die am schnellsten wachsende Stadt der USA. Raddampfer verbanden den Wilden Westen mit dem Golf von Mexiko, mit New Orleans, mit der Welt. Alle machten sie in Memphis fest. Hier war der zentrale Umschlagplatz für Menschen und Waren, Durchgangsstation für ein Land in Bewegung. Dann kam der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten, kamen drei furchtbare Gelbfieberepidemien, und der Boom war zuende.
Das Memphis der Jahrhundertwende war erneut ein Treffpunkt, vor allem für Spieler, Huren, Zuhälter und für Ganoven aller Art. Saloonbesitzer, nicht mehr die reichen Planzer- und Sklavenhalterfamilien, stellten die wirtschaftliche Oberschicht. Memphis erwarb sich den zweifelhaften Titel "Murder Town der USA".
Wer heute einen echten Spieler sehen will, einen Dandy aus der Zeit der Raddampfer und Saloons, muß per Hängebahn auf eine öde Mississippi-Insel gondeln, nach Mud Island. Einbetoniert in ein Museum lebt hier die "Belle of the Blues" weiter, bevölkert von Figuren aus Wachs.
Seit den dreißiger Jahren wurde gründlich aufgeräumt in Memphis. Heute sieht die Innenstadt aus wie nach einem Flächenbombardement; die Trümmer sind beseitigt, der Neuaufbau aber stockt. Wo einst Kneipen standen, Läden waren und Wohnungen, gähnen Parkplätze. Wie ein einsamer Stummelzahl ragt das Hotel Peabody aus der urbanen ôde heraus, in jeder Hinsicht.
Das Peabody ist mehr als ein Hotel, es ist eine Institution. Es kultiviert vergangene Pracht, vergangenen Stolz und jene beiläufige Verschrobenheit, die den Süden der USA in seinem Selbstverständnis vom Norden unterscheidet.
Pünktlich jeden Vormittag um elf setzt in der stuck- und lüsterdekorierten Hotelhalle fröhliche Marschmusik ein. Die Gäste wuchten sich hoch aus ihren Polstersesseln und blicken in gehobener Stimmung hinüber zum Aufzug. Eine Lautsprecherstimme verkündet: "Ladies and Gentleman! The March of the Peabody Ducks!"
Die Aufzugstür öffnet sich, Applaus setzt ein, es erscheinen ein Erpel und eine Handvoll Enten. Durch ein Menschenspalier und unter Blitzlichtgewitter watscheln sie hinüber zum Springbrunnen in der Mitte der Halle.
Am Nachmittag um fünf wiederholt sich das Ritual in umgekehrter Richtung.
Zwei Blocks, besser zwei Parkplätze hinter dem Peabody verläuft die Beale Street. In den golden-verruchten Jahren nach der Jahrhundertwende war die Beale Street die heimliche Hauptstraße von Memphis, Zentrum des Lasters und des Suffs. Und der Musik. Die Beale Street gilt als Geburtsstätte des Blues. Was der Grund ist, daß es hier an Samstagabenden zugeht wie in der Drosselgass’ zu Rüdesheim.
In PeeWee’s Saloon verhalf William Christopher Handy der melancholischen Singsang-Musik der schwarzen Baumwollarbeiter aus den weiten Feldern am Mississippi zu weltweitem Echo. Der Welt war der Blues gegeben. Auch er lebt nun fort, obschon es längst keine schwarzen Sklaven mehr gibt und Maschinen die Baumwolle pflücken. W.C. Handy bläst noch immer die Trompete, reckt sie in den endlosen Himmel über Memphis - als Statue aus Metall am Rande der Beale Street.
Auch an Rufus Thomas erinnert ein Denkmal, den "Ambassador of Soul". Wuchtig und würdig steht er auf seinem Sockel, Ahnungslose könnten ihn für einen Außenminister oder Schriftsteller halten. Wäre da nicht die Inschrift, die ihn ausweist als "The King of Rhythm and Blues" und außerdem und vor allem als "the funkiest chicken of the South" - das verrückteste Huhn des Südens.
Einige Häuser an der Beale-Street haben die Aufräumphase nach dem Zweiten Weltkrieg überstanden, wenn auch manchmal nur als Fassade. So können Touristenschwärme an Wochenenden in PeeWee’s Saloon oder Silky o’Sullivans’s World Famous Irish Bar der vergangenen Anrüchigkeit nachschnuppern. Hier finden sie gute Blues-Musik live und an den langen Theken Dosenbier.
Auch das Kaufhaus A-Schwab’s gibt es noch. Das Motto des Familienbetriebes, gegründet 1876, war: "If you don’t find it at A. Schwab’s, you’d better off without it!" - Wenn Du’s bei A. Schwab nicht findest, kommst Du besser ohne aus! Im Schaufenster vergilben alte Ansichtskarten.
Das Polizeirevier, nur wenige Schritte weiter, einst eine Art Davidswache der Beale Street, ist heute mangels Beschäftigung nebenher Museum. Wer will, kann testen, wie hart die Original-Pritsche in der Gefängniszelle ist. Zeitungsausschnitte und alte Akten zeugen von den nicht immer ruhm-, aber immer beschäftigungsreichen Tagen der Polizei von Memphis. Von einem Steckbrief grinst Machine Gun Kelly herunter auf die Besucher in Shorts und Freizeithemden. Auch Machine Gun Kelly weilt schon lange nicht mehr unter uns, sein schlechter Ruf aber, der hat ihn überlebt.
Die jüngsten Zeitungssartikel in den Vitrinen des Polizeimuseums stammen aus dem Jahr 1968. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King, Prediger der Gewaltlosigkeit, in einem Motel in Memphis erschossen. Auch das ist inzwischen Geschichte. Ein Denkmal ehrt das Andenken an den schwarzen Bürgerrechtsführer, ein Museum seine Bewegung.
Schwarze und Weiße leben in Memphis heute friedlicher zusammen als in mancher Großstadt des Nordens. Die sozialen Gegensätze sind hier weniger krass als in Metropolen wie New York oder Los Angeles. Ausgestellten Reichtum gibt es - außer im Museum - kaum. Und wer arm ist - ob weiß oder schwarz - ist es hier auf eine fast wohllebige Weise. Häuser und alte Autos sind billig. Richtig kalt wird es nie, und irgendein Job findet sich immer.
Robin stammt aus Kalifornien, ist in Belgien zur Schule gegangen. Er hat, mit Ende zwanzig, einiges gesehen von der Welt und den Vereinigten Staaten. Er ist gebildet und klug, sieht zudem gut aus. Jetzt lebt er mit Frau und Kind in Memphis, verdient sein Geld als Hoteldiener. Warum gerade in Memphis? "Weil das Leben hier ruhig ist und friedlich und bezahlbar."
Und dann sei da noch dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit, das es nur im Süden gibt, sagt Robin. Niemand bleibt hier lange anonym, keiner wird vergessen; hier findet jeder seine Pyramide.
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