Nicht alle Obdachlosen in den USA zeigen eine stoische Ausdauer wie Mr. Fleming. Die Notunterkünfte melden überbelegung. Eine arktische Kälte überzieht seit einer Woche die Mitte und den Osten der USA. Meteorologen sprechen von einer "phänomenalen Masse kalter Luft". In den Nachrichten wird eine Kältekastastrophe daraus.
Die phänomenale Masse leckte bis in den sonst warmen Süden hinunter. Atlanta meldete Tiefsttemperaturen von minus 14 Grad Celsius. Autofahrer dort, kälteentwöhnt, kamen auf spiegelblanken Straßen massenhaft ins Rutschen. In Florida fürchten Citruspflanzer um die nächste Ernte. Sie besprühten fast-reife Orangen und Zitronen mit Wasser - auf daß sich eine schützende Eisschicht bilde. Oft machte den Farmern der Wind einen Strich durch die Rechnung.
Der Wind. Als wäre Kälte allein nicht kalt genug, haben Meteorologen den Windchill-Faktor erfunden, den Windkältefaktor. In Washington ist es angenehm sonnig bei Temperaturen von knapp zehn Grad unter Null. Dank des Windchill-Faktors werden aus den zehn Grad bedrohliche zwanzig oder 25, was viel bessere Nachrichten ergibt. Was aber Touristen nicht davon abhält, am Obelisken des Washington-Denkmals dennoch geduldig Schlange zu stehen, einen klaren, weiten Blick auf die verschneite Stadt werfen zu können.
Jogger tragen Zipfelmützen.
Anders als die US-Hauptstadt meldeten viele Orte im Mittleren Westen in der Tat Rekordtemperaturen. Manche Orte machten so zum ersten mal in ihrer Geschichte Schlagzeilen. Pensacola in Florida meldete minus 8 Grad, Milwaukee minus 32, International Falls in Minnesota, nahe der kanadischen Grenze, minus 43, untertroffen nur vom Nachbarfleck Tower: minus 51 Grad. Daß es nördlich der Grenze noch kälter war, erregt die Weltöffentlichkeit weniger: Kanadier sind Kälte gewöhnt und machen kein Aufhebens drum.
Und zudem leben dort weniger Reporter.
Die Liftbetreiber und Hotelbesitzer in den Wintersportorten der Rocky Mountains sehen auch keinen Grund zu klagen. Rekordmengen von Schnee sind gefallen. Und was für ein Schnee! Lockerer Pulverschnee, meterhoch. Pepi Steigler betreibt in Jackson Hole im Staate Wyoming seit 30 Jahren eine Skischule, und er kann verläßlich bezeugen: "Diese Art von Schnee haben wir seit einem Jahrzehnt nicht mehr gehabt." Pepi strahlt. Meteorologen und Nachrichtensprecher warnen vor Lawinengefahr.
In New Yorks Central Park ist diese Gefahr nicht ganz so groß. Aber 120 Zentimeter Schnee sind heuer dort auch schon gefallen. Durchschnittliche Winter bringen ein Drittel. Anwohner freuene sich: Spaziergänge im Park seien selten so sicher gewesen. Auch die Zahl der Einbrüche in Vorortsiedlungen gingen deutlich zurück: Mehr Menschen als sonst bleiben zuhause, und auf schneebedeckten Seitenstraßen finden Diebe keinen Parkplatz.
In den Meldungen ist von panikartigem Andrang auf Karibik-Hotels die Rede. Almut Ginsburg, Reise-Agentin in Washington, hat von einem besonderen Drang zu den Stränden noch nichts bemerkt, zu ihrem Bedauern. Das Reisegeschäft sei normal, sagt sie - und klagt über kalte Füße: Die Heizung in ihrem Auto funktioniert nicht richtig, und sie habe zwei Stunden gebraucht von zuhause bis zum Büro. Dabei waren die Straßen geräumt.
"Ach wissen Sie," meint Almut Ginsburg: "Die Leute hier wissen mit diesem Wetter einfach nicht umzugehen."