Als wäre es bestellt, gerieten pünktlich eine Woche vor dem Treffen die Verhandlungen um eine Fortentwicklung des START-Vertrages ins Stocken. In dramatischer Weise verzichtete US-Außenminister Baker auf die Reise nach Rio an der Seite seines Präsidenten, traf sich stattdessen in London mit seinem russischen Kollegen Kozyrew. Doch auch dabei blieben, so versicherte Baker mit bewährtem Pokerface, noch zentrale Fragen offen. Den gordischen Knoten zu durchschlagen, das blieb den Präsidenten persönlich überlassen.
Jelzin hatte schon vor Monaten angeboten, in der Abrüstung der strategischen Waffen bis auf 2000 Sprengköpfe pro Seite hinunterzugehen. Bush seinerseits hatte die Zahl 4700 genannt. Derzeit verfügen die USA über knapp 12000 solcher Sprengköpfe, Rußland über knapp 11000. Der vor einem Jahr unterzeichnete START-Vertrag sieht einen Abbau dieser Bestände um rund ein Drittel vor. Mit der Vereinbarung, die Jelzin und Bush am Mittwoch unterschrieben, gehen sie über die Ziele von START weit hinaus.Sie haben ihn gefeiert, wie es einem Helden zukommt. Boris Jelzin wurde auf dem Kapitol in Washington mit Ovationen überschüttet. Mehrfach standen die Abgeordenten und Senatoren während der Rede des russischen Präsidenten auf, klatschten begeistert. Kein Wunder: Jelzin verkündete nichts anderes als den weltweiten Sieg des amerikanischen Geistes. Von Sozialismus war keine Rede, dafür umso mehr von Freiheit. Auch nicht vom Anspruch Rußlands, eine Supermacht zu sein. Jelzins Vorgänger Gorbatschow hatte stets auf die Gleichwertigkeit der Mächte gepocht - und stets auch Kritik erkennen lassen am American Way of Life.
Anders als bei Gorbatschow-Auftritten in der amerikanischen Hauptstadt war auch: Es gab kein eigens installiertes Pressezentrum. Die US-Regierung hätte gerne eines eingerichtet. Nur leider: Es fehlte an Anmeldungen. Nicht wie früher Tausende, gerade mal gut hundert Korrespondenten wollten bei dem Gipfel Bush/Jelzin dabei sein.
Auch wurden nirgends T-Shirts mit dem Konterfei des Gastes feilgeboten, nirgends drängelten sich Menschen mit verklärten Augen, um des Gastes angesichts zu werden. In kluger Voraussicht hatten die Amerikaner einen Besuch im Luft- und Raumfahrtmuseum ins Programm genommen. Das ist immer überfüllt. So kamen doch noch Bilder dichtgedrängter Menschenmengen zustande, denen Jelzin zuwinken konnte. Sie winkten zurück.
Eine historische Entscheidung" - "der Beginn einer neuen éra" - George Bush und Boris Jelzin gaben sich redlich Mühe, ihr Zusammentreffen aufzuwerten. Und tatsächlich, kaum hatten die Präsidenten der USA und Rußlands ein paar Minuten miteinander gesprochen, verkündeten sie die geplante Vernichtung aller landgestützten Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Doch was vor Jahresfrist noch eingeschlagen hätte wie eine Bombe - außerhalb des Weißen Hauses wurde es gerade mal mit freundlichem Beifall registriert.
Viereinhalb Monate vor der Präsidentschaftswahl in den USA braucht George Bush dringend einen Push nach vorne in der Wählergunst. Wie könnte das besser zu gewährleisten sein als durch einen Auftritt in seiner bewährten Rolle als Staatenlenker und Raketenvernichter?
Spätestens im Jahr 2003 wollen die USA jetzt nur noch 3500 Sprengköpfe haben, die Russen 3000. Auf die Frage, wozu denn überhaupt noch strategische Atomwaffen vonnutzen sind, Relikte der Abschreckungsära, gaben die beiden Präsidenten unterschiedliche Auskunft. Zwar seien die beiden Mächte nun keine Feinde mehr, sagte Bush, aber: "Wer weiß, was uns die Zukunft bringt?" Jelzin dagegen verwies auf die technischen Probleme und die Kosten der Vernichtung von Silos und Raketen und versicherte: "Das ist der einzige Grund."
Noch vor einer Woche hatte Jelzin daheim in Moskau die USA verdächtigt, sie strebten nach globaler öberlegenheit. Jetzt nahm er hin, daß die USA die Mehrzahl ihrer seegestützen Atomraketen behalten können, den Kern ihrer strategischen Nuklearmacht. Er nahm auch hin, daß Bush dies mit dem neuen Auftrag der USA begründete, als einzige Supermacht weltweit für die Erhaltung des Friedens zu sorgen.
Wie kam es zu diesem erstaunlichen Sinneswandel des russischen Präsidenten, wollten Reporter von dessen Sprecher Vyacheslav Kostykov wissen. Der gab die freimütige Auskunft: "Das Publikum war ein anderes. Letzte Woche hat der Präsident zu Militärs gesprochen, diesmal zu Politikern."
Dem Vertrauen der amerikanischen ôffentlichkeit in die Verläßlichkeit Jelzins sind solche Hinweise kaum förderlich. Auch Jelzins dunkle Andeutungen über in Rußland festgehaltene amerikanische Kriegsgefangene verbesserten seine Chancen nicht, dem Kongreß die Zustimmung zu einem 12-Mrd-Dollar-Hilfspaket für Rußland abzuringen. Prompt kam auf dem Kapitol allem Applaus für den Gast zum Trotz die Haltung auf: Geld gibt es erst, wenn alle vermißten US-Soldaten wieder hier sind. Jelzin fand das "unfair".
Gerüchte gab es immer wieder, Vietnam könnte nach dem Ende des Krieges nicht alle Gefangenen freigelassen haben. Die US-Regierung hatte stets versichert, das stimme nicht. Jelzins Andeutungen, einige Amerikaner könnten in die frühere UdSSR transportiert worden sein, rückt jetzt auch die US-Regierung ins Zwielicht. Angehörige von Vermißten fragen eindringlich: Was weiß Washington wirklich?
Dieses Thema regt die amerikanische ôffenlichkeit viel stärker auf als der Raketen-Kompromiß. Bush und Jelzin mühten sich nach Kräften, die aufkommenden Wolken über ihrem so schön inszenierten Gipfel zu vertreiben. Rasch kreierten sie eine amerikanisch-russische Kommission, die das Schicksal der Vermißten umgehend klären soll.
Mit mehr Freude an der Sache demonstrierten die beiden Staatschefs Eintracht und Freundschaft. Sie spielten Hufeisenwerfen auf dem Rasen hinter dem Weißen Haus, unternahmen eine Bootspartie auf der Chesapeake Bay und überschütteten sich mit Komplimenten. Jelzin über Bush: "Mein Freund", Bush über Jelzin: "Ich mag ihn", "Ein Demokrat".
Und noch einen Gefallen tat der US-Präsident seinem Gast: Er erwähnte den Namen Gorbatschow nicht ein einziges Mal.
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