Dan Quayle macht derzeit viel von sich reden. Der US-Vizepräsident profiliert sich seit Wochen als Anwalt guter alter amerikanischer Werte, als Don Quichote im Kampf gegen den Zeitgeist. Quayles politische Gegner waren schon drauf und dran, ihn ernst zu nehmen. Doch dann rutschte der Vizepräsident aus; auf einer Kartoffel, sozusagen.
Nichts hat den Amerikanern an ihrem Präsidenten George Bush weniger gefallen, als daß er Quayle zu seinem Vize machte. Was Bush dazu veranlaßt hat, konnte oder wollte bis heute niemand so recht erklären. Quayle (41), Sproß einer Verlegerdynastie, gilt als politischer Luftikus. (Seine drei Jahre im Weißen Haus hat er dem Hörensagen nach überwiegend dazu genutzt, seine beachtlichen Fertigkeiten im Golfspiel zu verbessern.)
(Amerika war deshalb verblüfft, als Anfang dieses Jahres ausgerechnet die kritische Washington Post eine siebenteilige Quayle-Serie ins Blatt hob, Mitautor: Watergate-Enthüller Bob Woodward, Tenor: Quayle ist durchaus ernst zu nehmen. Die staunende Öffentlichkeit erfuhr, der Vizepräsident mache sich Gedanken. Und zwischen den Zeilen las sie heraus: Dieser Mann möchte Bush beerben.)
George Bush ist kein Mann der scharfen Töne. Die Treuesten der Treuen im Lager der Republikaner warten seit langem darauf, daß jemand aus dem Weißen Haus heraus all jene Kräfte niedermacht - mindestens verbal -, die aus rechter Sicht dem Land das Mark aussaugen. Als da sind: Homosexuelle, Abtreibungsbefürworter, Umweltschützer, liberale Intellektuelle. Quayle tut ihnen jetzt den Gefallen.
Nach den Plünderungen in Los Angeles, ausgelöst durch einen schwer verständlichen Freispruch für weiße Polizisten, die einen schwarzen Autofahrer blutig geprügelt hatten, schob der Vizepräsident die Schuld an allem dem Verfall der Werte zu. Es fehle dem Lande an Familiensinn, sagte er und kritisierte Fernsehserien wie "Murphy Brown". Deren Heldin hatte in der gerade gesendeten Folge ein Kind zur Welt gebracht, in der Absicht, es ohne Vater großzuziehen.
Zwar brach prompt Spott und Hohn über Quayle herein, wie gewohnt, aber: Er war in den Schlagzeilen. Mehr noch: Auch die liberale Presse räumte ein, daß er ein ernstes Thema angesprochen hat. Die meisten Jugendlichen, die arbeitslos auf Amerikas Straßen lungern, haben kein intaktes Elternhaus.
Quayle zog nach. Kein Tag vergeht seither ohne eine Rede des Vizepräsidenten, mal vor Abtreibungsgegnern, mal vor Kriegsveteranen, mal vor engagierten Christen. Nicht selten verabschieden ihn die Zuhörer mit stehenden Ovationen. Die Verachtung der "kulturellen Elite", ruft Quayle ihnen zu, nehme er gerne in Kauf, ja, er trage sie wie ein Ehrenabzeichen: "Bildungsbürger halten es für einen peinlichen Fauxpas, über schlichte moralische Prinzipien zu reden." Er, Quayle, dagegen spreche aus, was der Durchschnittsamerikaner denkt und fühlt.
Nur leider liest Quayle das, was er öffentlich sagt, in der Regel von Zetteln ab. So auch zu Beginn dieser Woche in einer Grundschule in Trenton, New Jersey. Beobachtet von einem Troß von Journalisten brachte der Vizepräsident Schülern das Buchstabieren bei. Der zwölfjährige William Figueroa sollte das Wort Kartoffel - potato - an die Tafel schreiben. Das tat er auch, korrekt. Nur Quayle war nicht zufrieden. Auf seinem Zettel war potato mit einem "e" am Ende geschrieben: potatoe. Der Vizepräsident drängte den Schüler, das "e" hinzuzufügen. Was der brav machte.
Quayles Stab versuchte, die peinliche Episode geheimzuhalten. Die Schulleitung verbot den Schülern, der Presse Interviews zu geben. Vergeblich. Schüler William versicherte: "Ich wußte, daß er unrecht hat, wirklich. Aber er ist der Vizepräsident. Soll ich mit ihm argumentieren, vor all den Leuten?"˙ Wie ein Lauffeuer machte die Anekdote die Runde. Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Bill Clinton rätselte in einem Fernsehinterview, wer wohl zu der "kulturellen Elite" gehören mag, deren lockeres Treiben Quayle so schwer im Magen liegt. Clinton genüßlich: "Vermutlich jeder, der potato richtig schreiben kann."
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